# taz.de -- Russische Autorin Ulitzkaja Ljudmila: Rückzug ins innere Exil
       
       > Die bekannte russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja gibt sich während des
       > Ukrainekriegs in Berlin erschütternd unpolitisch – anders als 2014.
       
 (IMG) Bild: Ungetröstet ließ sie das Publikum zurück: Ljudmila Ulitzkaja
       
       „Ich lebe in Russland. Ich schäme mich.“ So lautet die Unterzeile eines
       Textes von Ljudmila Ulitzkaja, den der Spiegel vor sieben Jahren nach der
       Annexion der Krim in gekürzter Fassung abdruckte und der auch in ihrem 2015
       auf Deutsch erschienenen Essayband „Die Kehrseite des Himmels“ enthalten
       ist.
       
       Sie ließ es nicht fehlen an deutlichen Worten, schrieb, ihr Land werde von
       „machtbesessenen Wahnsinnigen“ regiert und äußerte die Überzeugung, dass
       Putin als Kriegsverbrecher in die Geschichte eingehen werde. Über die
       russische Gesellschaft schrieb sie: „Ich schäme mich für uns alle, für
       unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat.“ Und: „Leb
       wohl, Europa, ich fürchte, wir werden nie zur europäischen Völkerfamilie
       gehören.“
       
       Es ist wichtig, diese etwas in die Jahre gekommenen Texte heute noch einmal
       nachzulesen, um sich an ihren deutlichen Worten aufzurichten. Noch besser,
       könnte man denken, würde es aber sein, diese berühmte und so klarsichtige
       Autorin selbst zu sehen und sprechen zu hören; und deshalb hatten sich am
       Montag zahlreiche Menschen in der Wannseeidylle des Literarischen
       Colloquiums Berlin eingefunden.
       
       Ljudmila Ulitzkaja, so konnte man in der Vorankündigung lesen, war es
       gelungen, Russland über Israel zu verlassen und zu dieser Lesung nach
       Deutschland zu kommen, die [1][von Elke Schmitter moderiert] und von
       Ulitzkajas Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt gedolmetscht wurde.
       
       ## Nun eine Ausländerin
       
       Derzeit ist in der Arte-Mediathek ein Porträt der Schriftstellerin als
       Stream abzurufen, dessen Screening den Abend am Wannsee einleitete. Darin
       ist auch zu erfahren, dass Ulitzkaja ein Haus in Italien besitzt, in dem
       sie oft zu arbeiten pflegt. Dort klingele nicht ständig das Telefon,
       erklärt sie im Film.
       
       Auch in einer der Erzählungen ihres neuen Buches „Alissa kauft ihren Tod“
       gibt es ein Haus in Italien. Zahlreiche andere der Erzählungen des Bandes
       spielen ebenso wenig in Russland, sondern in „Europa“. In den Niederlanden
       eine, die von der Ehe zweier Frauen, sehr symbolhaft einer Armenierin und
       einer Aserbaidschanerin, handelt.
       
       In einer anderen, zu sowjetischen Zeiten spielend, wird eine junge
       Moskauerin mit einem irakischen Studenten verkuppelt, was zunächst keine
       gute Idee gewesen zu sein scheint, aber schließlich dazu führt, dass sie
       mit ihrem Mann in England ein neues Leben beginnen kann. Die Erzählung
       endet mit den Sätzen: „Nach Moskau fuhr Lilja nie mehr. […] Sie war nun
       eine Ausländerin.“
       
       ## Keine Zeit für Entschuldigungen
       
       Ljudmila Ulitzkaja selbst aber hat ganz offensichtlich nicht vor, eine
       Ausländerin zu werden, sondern auch in Zukunft noch in Russland einreisen
       zu können, ohne verhaftet zu werden. Moderatorin Elke Schmitter arbeitet
       sich redlich, aber vergeblich daran ab, mehr als allgemeinmenschliche
       Statements aus dem verehrten Gast herauszupressen, die dafür um so
       apokalyptischer ausfallen.
       
       Würde sie dem deutschen Kanzler beipflichten, der von einer „Zeitenwende“
       sprach, fragt die Moderatorin; und die Befragte bejaht nicht nur, sondern
       erklärt auch, dass jetzt erst das 21. Jahrhundert beginne, so wie mit dem
       Ersten Weltkrieg des 20. erst richtig begonnen habe.
       
       Dann führt sie aus, dass die Menschheit nun gleichsam vor ihrer letzten
       Beichte stehe und dass es in diesen Zeiten um so mehr gelte, Verantwortung
       zu übernehmen für seine Nächsten. Man müsse sehr aufpassen, niemanden zu
       verletzen, „denn vielleicht bleibt keine Zeit mehr, sich zu entschuldigen“.
       
       ## Niederlage für die Kultur
       
       In dem oben zitierten Essay „Leb wohl, Europa“ hatte sie geschrieben: „Die
       Kultur hat in Russland eine schwere Niederlage erlitten, und wir
       Kulturschaffenden können die selbstmörderische Politik unseres Staates
       nicht ändern.“
       
       Sie wäre gern Bürgerin eines Staates, in dem man den Namen des Präsidenten
       nicht kennen müsste, sagt sie an diesem Abend, und als die Moderatorin
       fragt, [2][was sie von Selenski halte,] erwidert sie, ihr gefalle
       unheimlich gut, dass er Schauspieler sei und eben kein Berufspolitiker, wie
       die Absolventen der sowjetischen Kaderschmiede, der gegenüber sie früher
       wohnte und … und auf diese Weise lenkt sie jedes Mal das Gespräch
       freundlich fort vom Thema Ukraine, und es wird absolut klar, dass die
       79-Jährige nicht vorhat, an diesem Abend etwas zu sagen, das später im
       Rahmen neuer russischer Gesetze gegen sie verwendet werden könnte.
       
       Das ist sicherlich einerseits klug; denn welche politische Wirkung hätte es
       schon, vor einem deutschen Publikum den russischen Angriffskrieg explizit
       zu verurteilen? Wer Ulitzkaja gelesen hat, weiß ohnehin, was sie denkt. Und
       doch ist es furchtbar und erschütternd. Ungetröstet lässt sie ihr Publikum
       zurück. Das „andere Russland“, das man an diesem Abend zu finden hoffte,
       hat sich ins innere Exil zurückgezogen.
       
       29 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Lesen-fuer-die-Ukraine/!5835005
 (DIR) [2] /Selenskis-Rede-im-Bundestag/!5838766
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) Exil
 (DIR) Krieg
 (DIR) Europa
 (DIR) Literatur
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Israel
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Literatur
 (DIR) Russische Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kultur und Sport in Kriegszeiten: Die große Vereinfachung
       
       Zwischen Solidarität und einem Stellvertreter-Nationalismus drohen
       Kulturschaffende eine politische Unschuld zu verlieren – die sie nie
       hatten.
       
 (DIR) Iranisch-israelische Band Sistanigla: Komponieren ohne Berührungsängste
       
       Das iranisch-israelische Ensemble Sistanagila zeigt seine kulturelle
       Vielseitigkeit erstmals im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.
       
 (DIR) Medien in Russland unter Druck: Im russischen Vakuum
       
       Facebook, Twitter und Instagram sind gesperrt. Unabhängige
       Journalist*innen fliehen. Wie können sich die Menschen in Russland noch
       informieren?
       
 (DIR) Russische Comic-Künstlerin über ihr Exil: „Ich zeichne gegen Putin an“
       
       Regimekritische Russen erfahren im Ausland kaum Unterstützung. Victoria
       Lomasko spricht über die Gründe für ihre Flucht.
       
 (DIR) Lesen für die Ukraine: Solidarität mit Kiew
       
       Das Gorki Theater lud zu einer Lesung. Denn Literatur kann helfen, der eng
       verzahnten Geschichte der Ukraine und Russlands näherzukommen.
       
 (DIR) Ljudmila Ulitzkaja über Russland: „Der Drache hat noch Zähne“
       
       Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja sorgt sich um ihr Land. Im Gespräch
       erzählt sie, wie die Festnahme von Alexei Nawalny landesweite Proteste
       ausgelöst hat.