# taz.de -- Studie über Geld und Gewissen: Can't buy me love
       
       > Michael J. Sandel zeigt mit der Studie „Was man für Geld nicht kaufen
       > kann“, dass Marktlogik dem sozialen Kitt schadet.
       
 (IMG) Bild: Wenn Mama nicht pünktlich im Kindergarten ist, sind Kinder und Erzieher unglücklich. Aber die Mutti hat kein schlechtes Gewissen.
       
       Die Erzieher in einem israelischen Kindergarten hatten irgendwann genug.
       Jeden Tag holten Eltern ihre Kinder zu spät ab, jeden Tag mussten Erzieher
       deshalb länger arbeiten. Also griff der Kindergarten zum nahe liegenden
       Mittel der Sanktion. Wer fortan zu spät kam, musste zahlen. Eine Leistung,
       die bislang gratis war, sollte nun etwas kosten. Das müsste die Eltern doch
       disziplinieren.
       
       Doch erstaunlicherweise geschah genau das Gegenteil. Es gab fortan mehr
       Eltern, die zu spät kamen. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel illustriert
       mit diesem Beispiel eine Schlüsselthese: Wenn etwas käuflich wird,
       verändert dies Beziehungen, Empfindungen und Regeln. Was Ware wird,
       verwandelt sich unmerklich in etwas anderes. In diesem Fall zersetzte das
       Geld die Norm, dass es unmoralisch ist, Betreuer im Kindergarten zu
       längerem Arbeiten zu zwingen.
       
       Schuld verwandelt sich in bezahlbare Schulden. Die Eltern deuteten, was
       Strafe sein sollte, in eine Art Gebühr um, die ihnen das Recht gab, zu spät
       zu kommen. Sandel, Professor in Harvard und Mitbegründer des
       Kommunitarismus, verzeichnet in westlichen Gesellschaften, vor allem in den
       USA, eine umfassende Bewegung Richtung Markt.
       
       Geld und Märkte erobern immer mehr „Lebensbereiche, die einst von anderen
       Normen beherrscht wurden“. Paare, die keine Kinder bekommen können,
       bezahlen Leihmütter in Indien. Auf Zeugnissen von Grundschülern prangt
       Werbung von Burger King. In den Sportarenen gibt es immer mehr VIP-Bereiche
       für Gutsituierte, die sich die normalen Fans vom Leib halten.
       
       ## Setzen auf den Tod
       
       Es ist in den USA Usus geworden, Lebensversicherungen von Fremden zu
       kaufen. Wal Mart kassiert jeweils ein paar hunderttausend Dollar, wenn ein
       Angestellter das Pech hat, schon mit Mitte fünfzig zu sterben. Für den
       Markt mit Lebensversicherungen erwies sich zuletzt die Einführung von
       brauchbaren Aidsmedikamenten als harter Schlag. Käufer, die in der frohen
       Erwartung des baldigen Ablebens von kranken Inhabern der Police mit einer
       ordentlichen Rendite kalkuliert hatten, mussten Geld in den Wind schreiben.
       
       Den TV-Moderator Larry King, der mehr als eine Million US-Dollar Gewinn mit
       dem Verkauf seiner Lebensversicherung machte, treibt die Sorge um, dass
       mittlerweile die Mafia Eigentümer seiner Lebensversicherung ist. Der
       Zweitmarkt für Lebensversicherungen ist in den USA ein Geschäftszweig mit
       Milliardenumsätzen. Und ein Beispiel für die Kollision von Marktlogik und
       Ethik.
       
       Die Lebensversicherung als Handelsware, so Sandel, korrumpiert deren
       ursprünglichen „moralischen und sozialen Zweck und macht daraus eine Art
       Glücksspiel“. Sandel verzichtet in seiner Studie zum Glück vollständig auf
       moralische Fanfarenstöße. Die Studie, die eher analytische Reihungen einer
       beachtlichen Anzahl von Beispielen gleichkommt, ist höchst sachlich
       gehalten und vom Geist des amerikanischen Pragmatismus inspiriert.
       
       Es geht auch keineswegs nur um Leben und Tod – originell sind vielmehr
       gerade die beiläufigen, alltäglichen Fallbeispiele. So können in den USA
       weniger wortgewandte Trauzeugen im Internet fertige Hochzeitsreden kaufen.
       Eine maßgeschneiderte vierminütige Rede kostet circa 150 US-Dollar.
       
       ## Die Hochzeitsansprache im Warenkorb
       
       Das scheint erst mal eine praktische Veranstaltung zu sein, die rhetorisch
       Minderbemittelten aus der Klemme hilft und unterbeschäftigten Autoren ein
       Nebeneinkommen sichert. Der Markt macht’s möglich. Allerdings zerstört
       genau dieses Marktförmige auch etwas. Denn niemand, der bei der Hochzeit
       seines besten Freundes eine im Internet gekaufte Rede hält, würde dies
       zugeben.
       
       Der Erfolg basiert auf Täuschung – und Täuschung widerspricht dem
       Authentizitätsanspruch, ohne den es Freundschaft nicht geben kann.
       „Hochzeitsansprachen sind Güter, die gekauft werden können. Aber das
       mindert ihren Wert“, so das nüchterne Resümee.
       
       Der deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat scharfsinnig
       analysiert, dass der demokratische Staat von Voraussetzungen und
       Traditionen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Mit dem Markt
       verhält es sich genauso: Er lebt von Voraussetzungen, die er nicht
       herzustellen vermag. Der Markt kann sogar wie eine Art geruchloses Gift
       wirken, das in lebensweltliche Bereiche eindringt und diese zersetzt.
       
       Auffällig ist, dass in Sandels buntem Mosaik von Fällen allerdings Arbeit
       komplett ausgeklammert ist. Wie es sich moralphilosophisch gesehen mit dem
       Zwang verhält, seine Arbeitskraft zur Ware zu machen, ist noch nicht mal
       eine Randbemerkung wert.
       
       ## Moralphilosophie auf Youtube
       
       Den Trend, letztlich alle menschlichen Beziehungen als Kalkulationen und
       Anreizsysteme zu definieren, gibt es seit etwa 30 Jahren. Sandel datiert
       ihn auf die frühen Achtzigerjahre, als Ronald Reagan und Margaret Thatcher
       im von allen Regeln befreiten Markt das Menschheitsglück zu entdecken
       meinten.
       
       Sandel ist eine Art akademischer Star. Seine Harvard-Vorlesung „[1][Justice
       with Michael Sandel]“, die mit Beispielen gespickt ist, hat es auf Youtube
       auf mehrere Millionen Clicks gebracht. Dieser Diskurs ist so anziehend,
       weil er an der Nahtstelle von zwei Bereichen operiert, die beide zu
       strapaziöser theoretischer Hermetik neigen: Wirtschaftswissenschaften und
       Moralphilosophie. Sandel entwirft dagegen einen alltagstauglichen
       Ethikdiskurs, dem alle folgen können, gewissermaßen Moralphilosophie ohne
       Relativsatz.
       
       Sein jüngster Ruhm verdankt sich auch dem Unbehagen am Finanzkapitalismus,
       dessen Effizienzversprechen porös geworden ist. Sandels Lösungvorschlag
       ist, wie sein ganzes Buch, einfach gestrickt, vielleicht etwas zu schlicht.
       Weil die Marktlogik neues Terrain gewissermaßen wortlos erobert, kann die
       Antwort nur der Diskurs sein.
       
       Sandel ist weit davon entfernt, die große Erzählung wieder beatmen zu
       wollen, und behelligt niemand mit Blaupausen für das gute Leben. Es geht
       vielmehr in jedem konkreten Einzelfall darum, die Folgen der
       Kommerzialisierung zu bedenken.
       
       ## Zwischen Effizienzverheißung und Kollateralschäden
       
       Das ist auch fern von fundamentaler Kapitalismusskepsis. Es zielt auf das
       Idealbild einer Gemeinschaft, die eine stetige Güterabwägung zwischen
       Effizienzverheißung und zu erwartenden Kollateralschäden vornimmt. Das
       klingt sympathisch, der Ton ist unaufgeregt, der Untergang des Abendlands
       wird auch nicht beschworen.
       
       Es gibt aber, trotz des Gestus demonstrativer Bescheidenheit, ein
       vertracktes Problem, das nur zwischen den Zeilen anklingt, aber größerer
       Reflexion bedarf. Aus welcher Quelle speist sich der Widerstand gegen die
       Marktmetastasen? Die Jahrzehnte währende Markteuphorie hat „die moralische
       und spirituelle Substanz aus dem öffentlichen Diskurs“ verbannt, so Sandel.
       Müssen wir also „mit spiritueller Substanz“ ausgerüstet die Wucherungen des
       Marktes zurückschneiden?
       
       Es ist eine Binsenweisheit, dass alle Werte auch religiöse Ahnen haben.
       Aber hier ist mehr gemeint. In dieser Formulierung leuchtet das typisch
       amerikanische Ideal einer vitalen Gemeinschaft von freien Gleichen, in der
       Individualismus und Egoismus durch eine unsichtbare Kraft eingehegt sind.
       
       Alexis de Tocqueville schrieb vor 180 Jahren in seinem Essay „Über die
       Demokratie in Amerika“ der Religion die Zauberkraft zu, Freiheit und
       Gleichheit, das Individuelle und das Gemeinwohl, aufs Wunderbarste zu
       synchronisieren. Ist „spirituelle Substanz“ für Sandel nur eine Metapher
       für das Nichtverwertbare, für den Wert, für den es keinen Preis gibt? Oder
       für mehr?
       
       Von John Rawls, dem liberalen Theoretiker und Gegenspieler der
       Kommunitaristen, stammt die Formulierung, dass Gerechtigkeitsideen
       „metaphysisch freistehend“ sein müssen. Wenn sie mit religiösen
       Letztbegründungen aufgerüstet sind, können sie exklusiv wirken und nicht
       gesellschaftlichen Zusammenhang stiften, sondern ausgrenzend wirken. Bei
       Sandel wird unter der Hand Religion als gemeinschaftsstiftender Zaubertrank
       in den politischen Diskurs eingeschmuggelt.
       
       17 Dec 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://youtu.be/kBdfcR-8hEY
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kapitalismus
 (DIR) Kapitalismuskritik
 (DIR) Religion
 (DIR) Tod
 (DIR) Geld
 (DIR) Liebe
 (DIR) Ökonomie
 (DIR) Weihnachten
 (DIR) Streaming
 (DIR) Thriller
 (DIR) Schwerpunkt Occupy-Bewegung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Wirtschaftstheorie: Die Fehler der Keynesianer
       
       Unter den Volkswirten herrscht Krieg. Die Neoliberalen haben bisher
       gewonnen, weil die Keynesianer zentrale Themen lange ignorierten.
       
 (DIR) Debatte Weihnachten: Wahnsinn Wachstum
       
       Weihnachten ist zum Symbol für den Kapitalismus geworden. Weniger wäre
       gerade da mehr. Doch ganz so einfach ist es nicht.
       
 (DIR) Publizist von Gehlen übers Urheberrecht: „Digitalisierung verflüssigt die Kultur“
       
       „Eine neue Version ist verfügbar“: Der Publizist Dirk von Gehlen über
       Crowdfunding, die Verantwortung von Verlagen, Urheberrechte und die
       Einkünfte von Künstlern.
       
 (DIR) Film „Killing Them Softly“: Schlechte Zähne sind das Mindeste
       
       Andrew Dominiks Thriller „Killing Them Softly“ ist nicht nur sehr blutig,
       sondern auch sehr zynisch. Kapitalismuskritik ist recht billig zu haben.
       
 (DIR) Occupy Kiel macht weiter: Kapitalismuskritiker unter Kleingärtnern
       
       Occupy Kiel ist in eine Gartenkolonie umgezogen. Ein Aktivist kandidiert
       bei der OB-Wahl im Oktober.
       
 (DIR) Mainzer schaffen sich Kulturzentrum: Das ist euer Haus
       
       Weil der Stadt die Mittel fehlen, organisieren sich Mainzer BürgerInnen ihr
       Kulturprogramm jetzt einfach selbst. Sie besetzen ein Gebäude als
       Kulturzentrum.