# taz.de -- Sturm auf Kongress in Brasilien: Verpatzter Putsch
       
       > Nach dem Sturm auf den Kongress in Brasilien gehören die Teilnehmer vor
       > Gericht. Dabei geht es nicht um Vergeltung, sondern um Demokratie.
       
 (IMG) Bild: Angriff auf die Demokratie: das Kongressgebäude in Brasilia am 9. Januar 2023
       
       In einem politischen Umfeld, das bereits für die brasilianische Demokratie
       vermint ist, sind die Fragen im Moment vielfältig, aber eine davon sticht
       klar heraus: Werden all diese Leute, die in Brasília an den gewalttätigen
       Unruhen beteiligt gewesen sind, und diejenigen, die sie gesponsert haben,
       zur Verantwortung gezogen? Wird es eine gerichtliche Verfolgung geben? Von
       der Antwort hängt die Zukunft Brasiliens ab.
       
       Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige [1][Zeit der
       Militärdiktatur] vergessen und sehnen sich nach einer Rückkehr des Militärs
       an die Macht. Dieser Eindruck entsteht bei den Demonstrationen und den
       landesweiten Lagern vor Militärstützpunkten. Nicht zuletzt hatte Präsident
       Jair Bolsonaro einen erheblichen Anteil der Kabinettssitze an Offiziere
       vergeben, für die er unverhohlenen Respekt empfindet.
       
       In einer beispiellosen Initiative sammelte eine Gruppe, die sich selbst den
       Namen „Gegen den Putsch“ gab, in den sozialen Medien binnen eines Tages
       über eine Million Klicks. Follower identifizierten anhand von Fotografien
       zahlreiche Täter, die an der Stürmung des Kongresses beteiligt waren. Auch
       brasilianische Zeitungen bemühten sich um eine gemeinsame Suche nach den
       gewalttätigen Unruhestiftern im Regierungsviertel.
       
       Die Rädelsführer kommen offenbar aus einem rechtsextremistischen Milieu,
       sind weiße Menschen, die der Mittelklasse angehören. In Brasilien sind über
       die Hälfte der Bevölkerung Schwarze Menschen. Wenn von Armut die Rede ist,
       geht es nahezu ausschließlich um PoC. Gerade sie machen indes nur einen
       kleinen Teil der Verdächtigen aus, die die Polizei inzwischen
       identifizieren konnte.
       
       ## Politisches Fußball-Shirt
       
       Viele trugen [2][T-Shirts der brasilianischen Fußballmannschaft], Kleidung
       in den Farben der brasilianischen Flagge oder sie hüllten sich gleich in
       die Flagge ein. Sie nennen sich Patrioten und treten offen für einen
       Militärputsch ein, um die Regierung des neu vereidigten Präsidenten Luiz
       Inácio Lula da Silva und seiner Arbeiterpartei (PT) zu stürzen. Zahlreiche
       Militärs auch in höheren Rängen solidarisierten sich bereits öffentlich mit
       dem Protest gegen Lula.
       
       Der Politikwissenschaftler Rafael Cortez von dem Beratungsunternehmen
       Tendencias in São Paulo rechnet mit massivem öffentlichem Druck für eine
       gerichtliche Verfolgung der Unruhestifter. Die Räumung der Camps, die seit
       drei Monaten vor den Militärstützpunkten stehen, ist ein wesentlicher
       Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es noch immer an verschiedenen
       Orten im Land zu gewaltsamen Demonstrationen kommt.
       
       Cortez erkennt jedoch eine Dezentralisierung der Proteste und generell eine
       Verringerung der organisierten Aktionen. Mit der ohnehin tiefen sozialen
       Ungleichheit ist Brasilien mit einem weiteren ideologisch-politischen
       Problem konfrontiert. Die Diskussion zieht sich durch Institutionen bis hin
       auf die Straße. Sie bestimmt entscheidend den alltäglichen Diskurs, wobei
       die große Zahl von Waffen in den Händen von Zivilisten besonders
       problematisch ist.
       
       Die Zahl der [3][Gewalttaten war während des Wahlkampfs] im letzten Jahr
       erneut gestiegen. Ungeachtet der zahlreichen Verhafteten und des großen
       Drucks weiter Teile der Bevölkerung, die Übeltäter vor Gericht zu bringen,
       kommt es landesweit immer wieder zu Protestaktionen von Anhängern
       Bolsonaros. Parallelen zu der Kapitolerstürmung in Washington vor zwei
       Jahren liegen auf der Hand.
       
       ## Überwiegend Sachschaden
       
       Doch das offensichtliche Déjà-vue sollte nicht den Blick dafür trüben, dass
       es auch klare Unterschiede gibt. So fand der Sturm auf das Kapitol vor der
       Vereidigung von Joe Biden als US-Präsident statt, wohingegen die
       [4][Amtsübergabe am Neujahrstag an Lula da Silva] friedlich ablief und er
       bereits brasilianischer Präsident war, bevor die Aktion begann. Im
       Unterschied zu Trump verurteilte Bolsonaro die Gewalt, wobei er wie Trump
       die Wahl seines Nachfolgers nicht anerkennen wollte.
       
       [5][Die Unruhen im brasilianischen Regierungsviertel] fanden an einem
       Sonntag statt, als die Büros leer waren. Außer dass einige Journalisten
       leichte Verletzungen davontrugen, kam niemand zu Schaden. Dementgegen
       starben in Washington fünf Menschen, Hunderte wurden verletzt. Im Unisono
       verurteilten zahlreiche Staaten den Angriff der Bolsonaro-Anhänger auf das
       Kongressebäude, auf den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof.
       
       Die ausdrückliche internationale Solidarität mit der demokratisch gewählten
       Regierung Lula da Silvas ist ein wichtiges Signal an die Antidemokraten in
       Brasilien. Immer lauter wird der Ruf auch von US-Kongressabgeordneten zur
       Solidarität mit den Wählern Lula da Silvas. Konkret geht es um die
       Auslieferung von Jair Bolsonaro, der sich seit dem 31. Dezember in Florida
       aufhält.
       
       Gegen den früheren Präsidenten läuft ein Ermittlungsverfahren des obersten
       Gerichts wegen gezielter Verbreitung von Falschinformationen und schweren
       Verfehlungen während der Coronapandemie. Bolsonaro dürften keine leichten
       Zeiten bevorstehen. Ebenso verzog sich [6][Anderson Gustavo Torres] nach
       Florida, nachdem die Regierung einen Haftbefehl gegen ihn ausstellte.
       
       Bolsonaros Ex-Justizminister war unmittelbar nach den Unruhen aus seinem
       Amt als Sicherheitschef des Bundesbezirks Brasília entlassen worden. Auch
       er sollte zeitnah ausgeliefert und vor Gericht gestellt werden. Lula da
       Silva zeigt sich unterdessen zunehmend von der menschlichen Seite und gibt
       sich spirituell zugänglich, was einen großen Teil der sehr gläubigen
       brasilianischen Bevölkerung anspricht.
       
       Mit seinen zahlreichen neuen Ministerien zielt er auch auf die Stärkung der
       pluralistischen brasilianischen Gesellschaft. Längst überfällig war etwa
       das Ministerium für indigene Völker. Brasilien ist ein Land der
       Unterschiede, in dem die gegenseitige Verständigung zentral sein sollte.
       Die Verfolgung der Straftäter sollte nicht als Vergeltung definiert werden,
       sondern als notwendige Maßnahme für den Erhalt von Demokratie und
       Rechtsstaatlichkeit.
       
       12 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Buch-ueber-Diktatur-in-Brasilien/!5060323
 (DIR) [2] https://www.zeit.de/sport/2023-01/brasilien-trikot-bolsonaro-vereinnahmung
 (DIR) [3] /Brasilien-vor-der-Praesidentschaftswahl/!5882699
 (DIR) [4] /Amtseinfuehrung-von-Lula-da-Silva/!5905946
 (DIR) [5] /Nach-dem-Putschversuch-in-Brasilien/!5904906
 (DIR) [6] /Nach-Sturm-auf-Kongress-in-Brasilien/!5908324
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabi Fürst
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Jair Bolsonaro
 (DIR) Luiz Inácio Lula da Silva
 (DIR) Rechtsextremismus
 (DIR) Putschversuch
 (DIR) Jair Bolsonaro
 (DIR) Jair Bolsonaro
 (DIR) Kolumne Der rote Faden
 (DIR) Joe Biden
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Luiz Inácio Lula da Silva
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Jair Bolsonaro wieder in Brasilien: Der abgewählte Messias ist zurück
       
       Nach gut drei Monaten in den USA kehrt Brasiliens rechtsextremer
       Ex-Präsident ins Land zurück. Dort erwarten ihn einige Verfahren.
       
 (DIR) Nach den Ausschreitungen in Brasilien: Lula und Justiz greifen durch
       
       Präsident Lula entlässt mindestens 40 Militärs wegen ihrer Rolle beim Sturm
       auf Brasília. Gegen Randalierer sind erste Anklagen erhoben worden.
       
 (DIR) Gelassenheit und Mut in der Krise: Nicht mal nass geworden
       
       Gelassenheit lässt sich üben: Es hat doch was, dass es den Rechtsextremen
       weder in den USA noch in Brasilien gelungen ist, die Demokratie zu kippen.
       
 (DIR) Aktenfund in Haus des US-Präsidenten: Sonderermittler gegen Biden
       
       Merrick Garland soll prüfen, ob Biden gegen das Gesetz verstoßen hat. Auch
       in seiner Garage bewahrte der US-Präsident Geheimdokumente auf.
       
 (DIR) Nach Sturm auf Kongress in Brasilien: Haftbefehl gegen Ex-Sicherheitschef
       
       Dem Bolsonaro-Vertrauten wird Fehlverhalten beim Sturm auf den Kongress in
       der Hauptstadt Brasília vorgeworfen. Während des Angriffs urlaubte er in
       den USA.
       
 (DIR) Putschversuch in Brasilien: Aufklärung nach dem Schock
       
       In ganz Brasilien gehen Menschen auf die Straßen und fordern harte Strafen
       für die Putschisten. Präsident Lula besichtigt den zerstörten Plenarsaal.
       
 (DIR) Amtseinführung von Lula da Silva: Ein Demokrat regiert wieder Brasilien
       
       Der linksgerichtete Staatschef da Silva will das „Land wieder aufbauen“. Er
       ernennt elf Ministerinnen und stellt den Klimaschutz in den Mittelpunkt.