# taz.de -- Wohnungsnot vor allem in den Städten: Liebe Politik, ernsthaft?!
       
       > Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. Nur interessiert das keinen.
       
 (IMG) Bild: Die Wohnungsnot treibt die Menschen dazu, sich als passable MieterIn anzupreisen
       
       Kaum ein Thema lässt mich so verzweifeln wie die Wohnungsnot. Nicht
       meinetwegen. Ich selbst lebe in einer Wohnung, die groß genug für mich ist
       und die ich mir trotz Inflation noch leisten kann. Doch ein Teil meines
       privaten Umfelds hat dieses Glück – das ja eigentlich kein Glück,
       [1][sondern ein Menschenrecht ist] – nicht.
       
       Meine Schwester zum Beispiel. Sie wohnt mit Partner und kleiner Tochter in
       einer Eineinhalbzimmerwohnung. Das Kind schläft öfter mal schwer ein. Ich
       vermute, weil es keinen richtigen Rückzugsraum hat.
       
       Und dann ist da mein Freund. Er zog mit seinem dreieinhalbjährigen Sohn
       eine Zeit lang von Couch zu Couch. Aktuell leben sie in einer
       Einzimmerwohnung ohne Mietvertrag. Jetzt müssen sie raus.
       
       Das Problem ist: Er weiß nicht, wohin. Die Wohnungssuche wird vor allem in
       größeren Städten immer katastrophaler. [2][Oder wie es der Berliner
       Bausenator ausdrückt]: „Es gibt keinen echten Mietmarkt mehr, weil das
       Angebot viel zu gering ist und die Nachfrage wächst.“ Und da geht
       [3][längst auch die Mittelschicht] leer aus. Denn während sehr arme
       Menschen zumindest einen Anspruch auf staatlich geförderten Wohnraum haben
       und sehr reiche sich sowieso alles leisten können, kriegen
       Normalverdienende wie mein Freund und meine Schwester samt ihrem Partner
       kaum noch eine Wohnung, die ihrer familiären Situation angemessen wäre.
       
       Eine adäquate Wohnung ist aber kein Nice-to-have, sie ist ein
       Grundbedürfnis, so wie Atmen und Trinken und Essen. Doch für unzählige
       Menschen ist angemessener Wohnraum längst unerreichbar geworden, egal wie
       viel Energie sie aufwenden.
       
       Da legen sie einen völlig überteuerten Bezahlaccount bei Immobilienscout an
       und verschicken Hunderte Bewerbungen, in denen sie so viel von sich
       preisgeben, dass der potenzielle Vermieter damit eine Biografie über sie
       schreiben könnte. Und bekommen keine einzige Rückmeldung.
       
       Da denken sie ewig darüber nach, ob sie ihren Namen, der auf eine
       Migrationsgeschichte hinweist, in der E-Mail besser abkürzen sollten. Und
       ob sie unterschlagen sollten, dass sie ein Kind haben oder einen Hund oder
       eine Ameise.
       
       Da sind sie ernsthaft versucht, 270 Euro zu bezahlen, die jemand für eine
       abgeranzte Wohnung am Rande der Stadt auf die eigentliche Miete
       draufschlagen will, weil dieser jemand fast der Einzige gewesen ist, der
       sie zur Besichtigung eingeladen hat.
       
       Da wären sie fast in eine Wohnung gezogen, wo die Vermieterin einen
       „persönlich zwar mag“, wie sie behauptet, andere People of Color aber
       rassistisch beleidigt.
       
       Kein Small Talk mehr, ohne über die Wohnungssuche zu reden, kein
       gemeinsames Abendessen, bei dem man sich nicht den Kopf darüber zerbricht.
       Dazu Schlangestehen vor dem Hauseingang und später die Versprechung machen,
       dass man alles streichen, ja wenn nötig, sogar die ganze Wohnung renovieren
       würde. Und diese Anrufe, diese ständigen Anrufe bei den landeseigenen
       Wohnungsgesellschaften und den ganzen Hausverwaltungen, die man sich im
       Internet zusammengesucht hat.
       
       Manche sind so verzweifelt, dass sie Zettel mit riesigen Finderlöhnen an
       Laternenmaste kleben oder Fotos von sich, halb nackt, bei Ebay
       Kleinanzeigen hochladen, weil sie hoffen: Sex sells. Neulich erst habe ich
       eine Anzeige gesehen, in der der Vormieter 15.000 Euro Abstand für seinen
       Ramsch wollte. Er hat bestimmt wen gefunden. Und während früher nur wenige
       Tauschwohnungen angeboten wurden, ist es jetzt gefühlt jede Zweite. Wobei
       am Ende, wie man so hört, nur selten ein Match wirklich zustande kommt, und
       dann muss der Vermieter ja auch noch zustimmen.
       
       Es soll sogar Menschen geben, die bereits ihre Gehaltsnachweise gefälscht
       haben. Das würden meine Leute nie tun. Und so werden sie und all die
       anderen, die ansonsten gern als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnet werden,
       wohl noch sehr lange in ihren viel zu kleinen Butzen hausen. So sie denn
       eine haben. Liebe Politik, ernsthaft?!
       
       Vor ein paar Tagen hat mein Freund die 115 gewählt, das Berliner
       Bürgertelefon. Da hat ihm der Mann am anderen Ende der Leitung bestätigt,
       dass er durch alle Raster fällt. Die einzige Option, die ihm jetzt noch für
       ihn einfiele, sei die Notunterkunft für Wohnungslose.
       
       9 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/bk-interview-hempels-2183660
 (DIR) [2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/berlins-bausenator-gaebler-uber-die-krise-auf-dem-wohnungsmarkt-es-gibt-keinen-echten-mietmarkt-mehr-10074331.html
 (DIR) [3] https://www.rbb24.de/wirtschaft/beitrag/2023/04/wohnungsnot-mittlere-einkommen-berlin-foerderpolitik-mieten.html
       
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 (DIR) Anna Fastabend
       
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