# taz.de -- Doku über Punks in der DDR: No Future und Versöhnung
       
       > Gerd Kroskes „Striche ziehen“ porträtiert Weimarer Punks, die zu
       > DDR-Zeiten verfolgt und ausgebürgert wurden. Einer von ihnen arbeitete
       > für die Stasi.
       
 (IMG) Bild: Hier waren sie noch am Malen, später saß einer hinter Gittern.
       
       Ein Fisch im Wasserglas kann gar nicht anders, als sich an der unsichtbaren
       Wand zu stoßen, die ihn am Davonschwimmen hindert. In „Striche ziehen“ geht
       der Dokumentarfilmer Gerd Kroske den Erinnerungen einer Gruppe junger
       DDR-Rebellen nach, die einen Strich unter die Verhältnisse ziehen wollten,
       und das mit einer riskanten Kunstaktion auch demonstrierten. Fast 30 Jahre
       danach ist die Geschichte nicht erledigt. Das Albtraum-Ding, der gefangene
       Fisch, zieht auch am Ende des Films im gläsernen Gefängnis Kreise.
       
       Fünf Freunde aus der Weimarer Punkszene nahmen sich 1986 vor, das
       DDR-System mit ihren Mitteln zu brandmarken. Die Wut saß tief, nachdem sie
       sich ein paar Jahre zuvor nach mehreren Stasi-Verhören und dem Knast eher
       widerwillig in Westberlin wiedergetroffen hatten. Die Behörden wollten die
       Truppe, die mit Malaktionen, Musik, Aufrufen zum Wahlboykott und Slogans
       wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ aufgefallen war, unbedingt loswerden.
       Man nötigte sie dazu, den Ausreiseantrag zu stellen.
       
       Ihre Kunstaktion begann in Kreuzberg nahe dem Künstlerhaus Bethanien. Der
       Plan war, einen durchgängigen weißen Strich auf der Westseite der Mauer zu
       ziehen, quer durch alle Graffiti. Ziel war es, den Strich über die
       Gesamtlänge der Mauer durchzuziehen. Am Potsdamer Platz öffnete sich jedoch
       eine jener Geheimtüren, durch die Grenzer auf die Westseite der Mauer
       treten konnten. Auf dem Boden zeigte ein offizieller Strich die
       tatsächliche Grenze des Staatsgebiets an. Zwei Mauermaler schlugen sich in
       die Büsche, wohin sie die Grenzsoldaten nicht verfolgen durften, einer
       wurde verhaftet. Die Aktion musste verraten worden sein, das war den
       Beteiligten bewusst.
       
       Kroskes Film knüpft an das Buch „Der weiße Strich“ an, in dem Anne Hahn und
       Frank Willmann die Ereignisse und ihre Vorgeschichte rekapituliert haben,
       geht aber mit den Bildern der Kamerafrau Anne Misselwitz und einer
       geschickten Montage über die pure Wiederholung der Fakten hinaus. Kroske
       zeigt die vom Leben geprägten Gesichter und die Lebenswelten, in denen sich
       die Punks eingerichtet haben. Alle holen alte Schwarz-Weiß-Fotos heraus,
       erzählen aus ihrer Kindheit und Jugend, haben ihre alten Super-8-Filme und
       Musikmitschnitte parat. Grit Angermann spielt noch immer Bassgitarre,
       Jürgen Ornißeit hat eine Kletterschule, sein Bruder Thomas, heute
       Grafik-Designer, erzählt auf der Treppe eines Gymnasiums in Weimar, wie es
       zu sozialistischen Zeiten war, Gedankenfreiheit einzufordern.
       
       ## Pubertätsspäße und Provokationen
       
       „Striche ziehen“ setzt aus diesen Mosaiksteinen einen Erinnerungsspeicher
       der unterschiedlichsten Perspektiven zusammen. Weimar war bei den einen ein
       Nest hochnäsiger Bildungsbürger und übereifriger Stasi-Spitzel. Ein T-Shirt
       mit dem Spruch „I hate Pink Floyd“ schockierte die Lehrer ebenso wie
       Gedichte von Rimbaud oder die heimliche Lektüre von George Orwells Roman
       „1984“. Der trockene Witz, mit dem sich Gerd Kroskes Gesprächspartner den
       Ärger des Obrigkeitsstaates über ihre Pubertätsspäße und Provokationen
       aufluden, wird wieder wach.
       
       Erst spät tritt die Verstrickung mit der Stasi in den Vordergrund. „Ich war
       19, ich brauchte Kohlengeld, ich dachte, ich kriege es auf die Reihe“,
       wiederholt einer der Brüder trotzig seine Erklärungsversuche, warum er sich
       als IM anwerben ließ. Gerd Kroske geht es dabei nicht um Konfrontation,
       selbst seine Nachfragen und Interventionen lassen die Empathie für Täter
       und Opfer spüren.
       
       Berührend an dieser Recherche über die verlorene Zeit ist ihre Offenheit.
       Sein Film widerspricht vorschneller Aufarbeitungsroutine. Er kartografiert
       ein kleines Zentrum des DDR-Undergrounds und holt seine frechen Attitüden
       unter dem Sofa hervor in die Geschichtsbücher, Versöhnung mit den Verrätern
       steht auf einem anderen Blatt.
       
       ## Der zappelnde Fisch
       
       An der Haustür des Stasi-Aufklärers, der einst die Zersetzungsstrategie
       organisierte, wird der Filmemacher nach dem Muster einer realsatirischen
       Posse abgewiesen, er will sich an nichts erinnern, droht mit der Polizei.
       Anders das Gespräch mit jenem Grenzaufklärer, der die drei Mauermaler 1986
       festnahm. Stolz präsentiert er die Orden an seiner alten Uniform, erläutert
       den Dienstauftrag zur Verhaftung, ist als Relikt seiner Mentalitätsschule
       ganz bei sich und fragt schließlich sogar, wie es den dreien heute geht.
       
       „Striche ziehen“ verurteilt weder den Verräter noch den Grenzsoldaten. Der
       Film akzentuiert unterschiedliche Sichtweisen und setzt auf die Subtexte,
       die sich aus widerstrebenden Antworten und Einwürfen ergeben. Immer wieder
       sind Denkpausen gesetzt, surreale Einschübe wie der zappelnde Fisch oder
       Bilder von einem Lagerplatz für Mauer-Segmente, hier Inbilder scheinbar
       abgelegter Geschichte.
       
       „Striche ziehen“ verdichtet sich zu einem Drama um den Verrat der Jugend
       und die radikale Absage an Vertrauen und Freundschaft. Die Gruppe erfuhr
       nach 1989 aus den Stasi-Akten, wer der Täter war. Gerd Kroske gelingt es,
       mit ihm über seine Geschichte und sein Bild von sich selbst zu sprechen. Am
       Ende klingt der Filmtitel in anderer Bedeutung nach, wenn er seine Scham
       bekennt, aber die Reuegeste gegenüber dem Bruder verweigert. Die Szene geht
       unter die Haut: Nicht ohne Voyeurismus dokumentiert sie die Schwierigkeit,
       sich zu versöhnen.
       
       23 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudia Lenssen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Stasi
 (DIR) Punks
 (DIR) DDR
 (DIR) DDR
 (DIR) Gegenwartskunst
 (DIR) Flüchtlingspolitik
 (DIR) Oskar Roehler
 (DIR) Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Politische Gefangene in der DDR: „Arbeitsscheu“ gleich illegal
       
       Wer keinen Beruf lernte, galt in der DDR als asozial und wurde inhaftiert.
       Heute kämpfen die Verurteilten um Anerkennung als politisch Verfolgte.
       
 (DIR) Selbstbeobachtung beim Masturbieren: Wie auf psychoaktiven Substanzen
       
       Die Ausstellung „One-self“ von Sidsel Meineche Hansen im Bremer
       Künstlerhaus setzt auf unwillkürlichen Kontrollverlust.
       
 (DIR) Kein Prozess um entführte Mauerkreuze: Denkmäler ausleihen ist erlaubt
       
       Sie hatten am Bundestag ein ganzes Denkmal abmontiert, dann ermittelte die
       Staatsanwaltschaft. Nun wurden die Ermittlungen eingestellt. Leider.
       
 (DIR) Neuer Film von Oskar Roehler: Verfilme deine Jugend
       
       Oskar Roehlers autobiografisch inspiriertes Werk setzt der Westberliner
       Punkszene ein Antidenkmal. Willkommen im Neurosengewebe Deutschlands!
       
 (DIR) Bücher über Bands der DDR: Strandgut der letzten dreißig Jahre
       
       Einer stand auf der Bühne, der andere davor. André Herzberg und Alexander
       Osang schreiben über Subversion und Verrat in der DDR.