# taz.de -- Politische Gefangene in der DDR: „Arbeitsscheu“ gleich illegal
       
       > Wer keinen Beruf lernte, galt in der DDR als asozial und wurde
       > inhaftiert. Heute kämpfen die Verurteilten um Anerkennung als politisch
       > Verfolgte.
       
 (IMG) Bild: Abhängen? Geht gar nicht. „Asozialen-Paragraph“ 249 sah auch für arbeitsscheue DDR-Punker bis zu zwei Jahre Haft vor.
       
       BERLIN taz | Als Michael Lehmann 16 wurde, zog er von zu Hause aus und
       hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. „Ich konnte mir nicht
       vorstellen, dass ich wegen reinen Nicht-Arbeitens in den Knast komme“,
       erzählt er im Rückblick. „Als ich volljährig wurde, haben sie mich zu Hause
       abgeholt, am selben Tag ohne Anwalt vor den Richter gestellt – und abends
       in Rummelsburg nach Paragraph 249 abgeurteilt.“
       
       In Berlin-Rummelsburg befand sich zu DDR-Zeiten das zentrale
       Männergefängnis Ost-Berlins. Als Haftgrund galt auch „asoziales Verhalten.“
       In der DDR-Verfassung war das Recht auf Arbeit gesetzlich festgeschrieben,
       verknüpft mit der „ehrenvollen“ Pflicht zur „gesellschaftlich nützlichen
       Tätigkeit für jeden Bürger“. Der so genannte „Asozialen-Paragraph“ 249 sah
       für „Arbeitsscheue“ bis zu zwei Jahre Haft vor.
       
       Lehmann musste zuerst Gleise für einen Braunkohlebagger in Bitterfeld
       verlegen, dann fertige Ziegel aus dem Ringofen holen. „Gegenüber späteren
       Gefängnissen war das harmlos“, sagt der heute 65-Jährige.
       
       Der Historiker Jan Philipp Wölbern vom Potsdamer Zentrum für
       Zeithistorische Forschung hat in der vergangenen Woche eine aktuelle
       Untersuchung über „Zwangsarbeit politischer Häftlinge im Strafvollzug der
       DDR“ vorgelegt. Im Auftrag der „Ostbeauftragten“ des Bundestags Iris
       Gleicke (SPD) untersuchte er, wie die Häftlinge über die DDR verteilt und
       damit bestimmten Arbeitsbereichen zugeordnet wurden.
       
       ## Entschädigung für Haftzwangsarbeit
       
       Der Historiker berücksichtigt in seiner Untersuchung auch die als
       „arbeitsscheu“ Verurteilten als eine von mehreren Häftlingsgruppen in den
       verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen und Jugendhäusern der DDR ohne sie
       allerdings ausdrücklich als politische Häftlinge zu bezeichnen. Denn als
       solche gelten sie bis heute nicht – und haben damit auch keinen Anspruch
       auf Opferrenten.
       
       Für seine Nachforschungen konnte Wölbern erstmals Einblick nehmen in die
       zentrale DDR-Haftkartei mit mehr als 800.000 Karteikarten aus der Zeit von
       Anfang der 50er Jahre bis 1990. Seine Erkenntnisse über den Charakter
       dieser Arbeit bestätigen dabei im Wesentlichen der bisherigen Forschungen:
       Kriminelle und politische Häftlinge mussten mehr arbeiten und häufiger im
       Schichtdienst als zivile Arbeitskräfte. Sie waren schlechter gegen Unfälle
       geschützt und bekamen nur einen Bruchteil des Lohns. Die aus politischen
       Gründen Inhaftierten, die in der Knasthierarchie unten standen, mussten
       zudem die gefährlichsten und monotonsten Jobs erledigen.
       
       Die Untersuchung von Wölbern ist insofern politisch von Bedeutung, weil sie
       den Charakter der Haftzwangsarbeit unterstreicht. Bereits im vergangenen
       Jahr hatten Forschungen eine Debatte darüber ausgelöst, ob politische
       Häftlinge aus der DDR für die während der Haft erzwungene Arbeit
       entschädigt werden sollen – über die Anfang 2015 erhöhte Opferrente hinaus.
       
       Nachdem Ikea die eigene Verstrickung in den Verkauf von DDR-Knastware
       untersuchen ließ, versprach auch Bahnchef Rüdiger Grube letzten Sommer
       Aufklärung darüber, inwiefern die DDR-Reichsbahn politisch Inhaftierte
       beschäftigt habe. Eine Forschungsarbeit dazu läuft derzeit.
       
       ## Firmen, die von der Häftlingsarbeit profitierten
       
       Allerdings stehe das Thema Entschädigung derzeit kaum auf der politischen
       Agenda, sagte Iris Gleicke der taz. Sie selbst sei „sehr vorsichtig“
       hinsichtlich möglicher Entschädigungsforderungen. Firmen, die von der
       damaligen Häftlingsarbeit profitierten, könnten sich aber bei der
       Entstehung von Gedenkstätten beteiligen, wie sie derzeit für die frühere
       Strafvollzugseinrichtung Naumburg diskutiert wird.
       
       Roland Jahn, Leiter der Stasiunterlagenbehörde, betonte, Aufarbeitung habe
       viel mit Symbolik zu tun: „Hier können noch deutliche Zeichen gerade
       gegenüber den Opfern gesetzt werden.“ Unternehmen in Ost und West, die
       damals „involviert waren in diese Haftzwangsarbeit“ könnten die Arbeit von
       Opferverbänden und -beratungsstellen wie dem Berliner Verein Gegenwind,
       aber auch die Stiftung Aufarbeitung unterstützten, die allesamt finanzielle
       Engpässe hätten.
       
       Der CDU-Bundestagsabgeordnete Kai Wegner ist einer der wenigen, die
       offensiv für Entschädigungen eintreten. Es sei „wünschenswert, über einen
       Opferfonds besondere soziale Härtefälle materiell bei der Bewältigung der
       Haftfolgen zu unterstützen“, sagt er. Unternehmen, die von Haftzwangsarbeit
       profitiert haben, sollten sich daran beteiligen.
       
       Die Frage, wie rentabel die Beschäftigung von Häftlingen für die
       DDR-Betriebe selbst war, sei kaum zu beantworten, sagte Wölbern. Die
       Häftlingsarbeit sei aber ein Element gewesen, ohne welches die
       DDR-Volkswirtschaft stellenweise hätte zusammenbrechen können.
       
       ## Vorurteil: „Alles Spinner“
       
       Christian Sachse, Autor einer umfangreichen Studie über Haftzwangsarbeit,
       die im vergangenen Jahr erschien, verhandelt derzeit im Auftrag der Union
       der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) mit mehreren
       Energiekonzernen, die damals Häftlinge beschäftigten. Auch er setzt sich
       vehement für eine Entschädigung ein und fordert zugleich, die nach Paragraf
       249 Verurteilten endlich als politisch Verfolgte anzuerkennen.
       
       „Da haben wir einen großen Dissens mit den Gerichten, die oftmals diese
       Leute nicht rehabilitieren mit der Begründung: ‚Das waren Asoziale und
       Spinner‘ “, meint Sachse. Unter den Verurteilten habe es aber einen hohen
       Anteil von Menschen gegeben, „die politisch aktiv waren, alternative
       Lebenskulturen hatten und deswegen verhaftet und in bestimmte Lager
       gesperrt worden sind“.
       
       Auch Michael Lehmann ist nicht als politischer Häftling anerkannt. Er
       musste im Arbeitslager Volkstedt unter Tage Kupferschiefer abbauen – in
       Stollen, die 800 Meter unter der Erde lagen und nur 80 Zentimeter hoch
       waren. „Ich musste auf den Knien rutschend schwere Steinbrocken schleppen.“
       Bis heute plagen ihn Albträume. „Wir mussten die Scheißarbeit machen und
       haben dafür 30 Mark im Monat bekommen.“
       
       Schlimmer als die Haft sei für ihn das „Berlin-Verbot“ gewesen: Lehmann
       durfte nach seiner Entlassung nicht mehr nach Berlin zurück. In einem Dorf
       bei Zittau arbeitete er in einer Weberei. Und weil er nach durchzechter
       Nacht mehrfach nicht aus dem Bett kam, wurde er erneut verhaftet und
       verurteilt. Bis 1980, als er ausreisen durfte, war er viermal im Gefängnis.
       Im Westen angekommen lebte er wieder von Gelegenheitsjob. Diesmal aber ohne
       rechtliche Folgen.
       
       20 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Isabel Fannrich-Lautenschläger
       
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