# taz.de -- Werkausgabe von Heidegger: Die „Reinigung des Seyns“
       
       > Martin Heideggers „Anmerkungen“ aus den Jahren 1942 bis 1948 zeigen
       > seinen Antisemitismus. Er spricht erstmals auch direkt über
       > Konzentrationslager.
       
 (IMG) Bild: Namen von Menschen, die in KZ deportiert wurden, auf einem Mahnmal.
       
       Lange Zeit hieß es, Heidegger habe nie etwas zur Vernichtung der
       europäischen Juden gesagt. Tatsächlich hatten kritische Forscher aber
       längst berichtet, dass er schon 1934 die „Vernichtung“ thematisierte und
       damit die Ausrottung der Juden meinte.
       
       In den seit Frühjahr 2014 veröffentlichten ersten drei Bänden der
       „Schwarzen Hefte“ taucht das Thema immer wieder auf. In der zweiten
       Jahreshälfte 1938 schreibt Heidegger das 7. Heft und beginnt mit einer
       Beschwörung des Kampfes der Deutschen um ihr Wesen: „Hart an der Grenze der
       Vernichtung läuft der Weg, der vom Seyn dem Denken gewiesen.“
       
       Drei Jahre später, im Herbst 1941, während das Konzentrationslager
       Theresienstadt eingerichtet wird und die Nationalsozialisten die Vorstände
       der jüdischen Gemeinden zwingen, die gegen sie selbst gerichteten Mord- und
       Zerstörungsaktionen mitzuorganisieren, formuliert er hämisch: „Die höchste
       Art und der höchste Akt der Politik bestehen darin, den Gegner in eine Lage
       hineinzuspielen, in der er dazu gezwungen ist, zu seiner eigenen
       Selbstvernichtung zu schreiten.“
       
       Im nun erschienenen 97. Band der Gesamtausgabe, der die Jahre 1942 bis 1948
       abdeckt, ist zu lesen, dass Heidegger 1942, zu einem Zeitpunkt also, an dem
       die Nazis die „Grenze der Vernichtung“ längst mörderisch überschritten
       hatten, „das wesenhaft ’Jüdische‘“ als den „Höhepunkt der Selbstvernichtung
       in der Geschichte“ bezeichnet.
       
       ## Zum ersten Mal explizite Rede von KZ und Gaskammer
       
       Und 1946, nach der von ihm und anderen Nazisympathisanten als Niederlage
       empfundenen Befreiung, beschreibt er das deutsche Volk als Opfer einer
       Zerstörung, die schlimmer sei als diejenige durch die „’Gaskammern‘“.
       Selbst angesichts der nun völlig offengelegten Verbrechen weicht der Autor
       der „Schwarzen Hefte“ nicht von seinem Kurs ab, sondern bedauert, dass der
       schicksalshafte Auftrag der Deutschen – Heidegger sagt „Geschick“ – von den
       Alliierten „niedergehalten“ werde. Trotz seiner verklausulierten Sprache
       lohnt es sich, die Passage wiederzugeben, denn hier spricht Heidegger zum
       ersten Mal explizit von den „KZs“ und den „Gaskammern“.
       
       „Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes – das uns ja nicht selbst
       gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem Geschick gedacht,
       nicht eine noch wesentlichere ’Schuld‘ und eine ’Kollektivschuld‘, deren
       Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der ’Gaskammern‘
       gemessen werden könnte –; eine Schuld – unheimlicher denn alle öffentlich
       ’anprangerbaren‘ ’Verbrechen‘ – die gewiß künftig keiner je entschuldigen
       dürfte. Ahnt ’man‘, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges
       Kz ist – wie es ’die Welt‘ allerdings noch nie ’gesehen‘ hat und das ’die
       Welt‘ auch nicht sehen will – dieses Nicht-wollen noch wollender als unsere
       Willenslosigkeit gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus.“
       
       Heidegger suggeriert, dass die Befreiung durch die Alliierten die
       eigentliche Gefahr ist, nicht die vermeintlichen Verbrechen der Deutschen.
       Das nun besetzte Deutschland ist das eigentliche KZ und nicht Auschwitz.
       
       Dem Leser wird nahegelegt, die Befreiung Deutschlands durch die Alliierten
       sei ein schlimmeres Unheil als das „Greuelhafte der ’Gaskammern‘“. Das Wort
       vom „Greuelhaften der ’Gaskammern‘“, mit der bewussten Verwendung der
       Anführungszeichen, ist keineswegs Eingeständnis von Schuld. Sie ist auch
       nicht Einsicht angesichts des Barbarischen der NS-Verbrechen, sondern Spiel
       mit dem Terminus „Greuelhetze“, den die Nazis unter anderem beim
       „Aprilboykott“ 1933 benutzten, um ihre Verbrechen zu rechtfertigen. Dass
       dem so ist, verdeutlicht etwa Victor Klemperers Eintrag in seiner „Lingua
       Tertii Imperii“ vom 27. 3. 1933: „Die Weltjuden treiben ’Greuelpropaganda‘
       und verbreiten ’Greuelmärchen‘, und wenn wir hier im geringsten etwas von
       dem erzählen, was Tag für Tag geschieht, dann treiben eben wir
       Greuelpropaganda und werden dafür bestraft.“
       
       ## Zynisch und unmenschlich
       
       Die unterstellte Austauschbarkeit von Tätern und Opfern wurde nach der
       Niederlage von 1945 zum nationalsozialistischen Gemeinplatz. Ihre
       Verbrämung in Heideggers pseudophilosophischer Sprache ändert nichts an
       ihrem zynisch unmenschlichen Charakter.
       
       Umso schockierender ist es, dass der Herausgeber der „Schwarzen Hefte“,
       Peter Trawny, und die Vizepräsidentin der Heidegger-Gesellschaft, Donatella
       Di Cesare, bereits im Vorfeld der Veröffentlichung des vierten Bandes
       Auszüge daraus preisgeben, um sie mit provozierenden Kommentaren zu
       instrumentieren. Noch die schlimmsten Äußerungen Heideggers werden als
       „Gelegenheit für die Philosophie“ bezeichnet „über die unergründlichen
       Abgründe des Holocausts zu meditieren“, so Donatella Di Cesare im Corriere
       della Sera. Alle die, „die die Wirkung von Heideggers Denken gern
       verhindern würden“, werden als „Feinde der Philosophie“ bezeichnet (Peter
       Trawny im Nachwort zur 3. Auflage von „Heidegger und der Mythos der
       jüdischen Weltverschwörung“).
       
       Folgte man dem, so würde das philosophische Denken zur Geisel der
       finstersten Äußerungen des Verfassers der „Schwarzen Hefte“ und zur
       Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer des NS-Massenmordes und der
       Ausrottungsstrategien.
       
       ## Verschiedene Argumentationen
       
       Drei Argumentationsrichtungen wechseln sich in Heideggers Verlautbarungen
       ab, überlagern und widersprechen sich:
       
       1. Dem ontologischen Argument Heideggers gemäß sind die Juden – jene
       bodenlosen Übergangsseienden – bar jeglicher Beziehung zum Sein und zum
       Vaterland. Sie können nicht wirklich sterben, denn sie existieren nicht
       eigentlich. So fragt Heidegger 1949 anlässlich eines Vortrags in Bremen
       wiederholt: „Sterben sie?“
       
       2. Neben diese ontologische Negation tritt die unverhohlene These, die
       Juden hätten sich selbst vernichtet: Die Verjudung der Technik durch ihren
       rechnerischen Geist wende sich im Zuge der Industrialisierung gegen die
       Juden und lasse sie zu Rauch und Asche werden. Die Nazis waren Instrumente
       schicksalsgerechter Abläufe, nicht Henker und Schergen. Jedenfalls
       unterstreiche die Selbstvernichtung die Notwendigkeit der „Reinigung des
       Seyns“.
       
       3. Schließlich verkehrt Heidegger den Negationismus in sein Gegenteil. Er
       erklärt, die Alliierten hätten weit schlimmere Verfehlung auf sich geladen,
       als es die vorgeblichen, öffentlich „anprangerbaren“ „Verbrechen“ seien.
       Sie hätten ganz Deutschland in ein riesiges Konzentrationslager verwandelt
       und so verhindert, dass das deutsche Volk seine geschichtliche Mission
       erfüllt. Dies sei das ultimative und tatsächliche Verbrechen.
       
       So wird die militärische Niederlage des Naziregimes zur Katastrophe
       erklärt, da die Vernichtung auf halbem Wege aufgehalten worden sei und die
       Juden letzten Endes triumphieren. Genau mit dieser Feststellung schließen
       auch die Erinnerungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß.
       
       12 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Emmanuel Faye
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