# taz.de -- Vorwurf Sozialmissbrauch: Schmarotzen auf Deutsch
       
       > Arbeitsmigranten, die in Deutschland Hartz IV abgreifen? Von wegen.
       > Sozialmissbrauch findet nicht bei ihnen statt, sondern bei deutschen
       > Unternehmen.
       
 (IMG) Bild: Gierig sind nicht die Migranten, sondern die deutschen Unternehmen.
       
       Die Europawahl hat es gezeigt: Politiker in Deutschland versuchen mit
       Stichworten wie „Armutsmigration“ oder „Sozialmissbrauch“ zu punkten. „Wer
       betrügt, der fliegt“, hatte die CSU griffig formuliert. Gemeint waren vor
       allem Arbeitsmigranten aus osteuropäischen Staaten.
       
       Kurz vor der Europawahl entschied Angela Merkel, ebenfalls diese Karte zu
       ziehen. Europa, so die Kanzlerin in einem Zeitungsinterview, sei keine
       Sozialunion und man wolle kein Hartz IV für EU-Bürger zahlen, die sich
       allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten.
       
       Sozialmissbrauch, so wird insinuiert, findet auf Seiten der Wanderarbeiter
       statt. Mit der Realität hat diese Sicht auf die Dinge allerdings wenig zu
       tun. Es gibt noch eine andere Art, wie die Sache mit dem Sozialmissbrauch
       zu sehen ist. Die nimmt jene Unternehmen in den Blick, die durch sozialen
       Missbrauch an Wanderarbeitern Profit machen; Unternehmen, die in
       Deutschland ansässig sind.
       
       In Hamburg zum Beispiel. Dort kommt ein junges Paar aus Rumänien in die
       Beratungsstelle „Faire Mobilität“ und erzählt seine Geschichte: Beiden war
       es gelungen, eine Arbeit in einer Fabrik am Hafen zu finden. Sie verpacken
       Waren und bereiten Pakete für den Versand vor. Doch schon bei der ersten
       Lohnabrechnung fällt ihnen auf, dass Stunden nicht aufgeführt sind, die sie
       gearbeitet haben. Dazu kommen unangemessene Abzüge für die Unterkunft und
       den Transport zur Arbeit. Wenn sie sich beschweren, wird ihnen mit
       Kündigung gedroht.
       
       Das Ganze hat System: Auch in den Folgemonaten stimmen die Abrechnungen
       nicht. Kurz vor Ablauf der halbjährigen Probezeit werden sie dann gefeuert
       und müssen umgehend die Wohnung verlassen, die der Arbeitgeber für sie
       angemietet hat. Im Jobcenter wird dem Paar gesagt: Sie müssen den
       Mietvertrag für eine Wohnung und eine polizeiliche Anmeldung vorlegen, erst
       dann können ihnen Leistungen bewilligt werden. Aber eine Wohnung ist so
       schnell nicht zu finden. Als die finanziellen Mittel des Paares erschöpft
       sind, fahren sie zurück nach Rumänien. Das Abenteuer Deutschland ist
       gescheitert, sie haben nur draufgezahlt.
       
       ## Ausbeutung durch deutsche Unternehmen
       
       So oder so ähnlich ergeht es nicht wenigen Arbeitsmigranten aus den mittel-
       und osteuropäischen EU-Staaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. An ihren
       Geschichten zeigt sich, wie systematisch manche deutschen Unternehmen
       Zuwanderer ausbeuten.
       
       Erntehelfer bekommen mitunter deutlich weniger als 4 Euro Stundenlohn, und
       das für einen 15-Stunden-Tag. Bauarbeiter, das letzte Glied in der
       Subsubfirmenspirale, werden um ihre Löhne gebracht. Nicht nur der Flughafen
       BER wurde teilweise von Wanderarbeitern, die nicht bezahlt wurden,
       errichtet. Auch Hotelneubauten in Frankfurts schickem Europaviertel kamen
       mit dieser Ausbeutungspraxis in die Schlagzeilen.
       
       Ganz nebenbei wird der Staat durch solche Praktiken um Steuern und
       Sozialversicherungsbeiträge betrogen. Es ist Sozialmissbrauch, den sich die
       Firmen ungehindert leisten können. Niemand spricht darüber. Das ist der
       eigentliche Skandal.
       
       ## Ressentiments werden geschürt
       
       Nun soll Anfang Juni ein Gesetz des Innenministeriums im Kabinett
       beschlossen werden, das gegen Migranten, die angeblich zu Unrecht Hartz IV
       bekommen haben, eine Wiedereinreisesperre verhängt. Pauschal wird von
       „Armutsmigration“, gar von „Sozialtourismus“ schwadroniert. Ressentiments
       gegenüber Migranten insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, die erst seit
       Anfang des Jahres volle Freizügigkeit in der EU haben, werden geschürt.
       
       Die Debatte um diese Gesetzesvorlage vermittelt den Eindruck, dass ein
       großer Teil der 72.000 Menschen, die 2013 aus Rumänien und Bulgarien nach
       Deutschland kamen, es nur auf Hartz IV abgesehen hätten.
       
       Da macht es nichts, dass vorliegende Fakten eine ganz andere Interpretation
       der Wirklichkeit nahelegen. So hatte die Bundesregierung erst kürzlich in
       einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen erklärt, dass es in der
       bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2012 lediglich
       112 Fälle von Verdacht auf Sozialleistungsbetrug durch Bürger aus Rumänien
       (74) und Bulgarien (38) gab.
       
       Und die Bundesagentur für Arbeit (BA) erklärte im April, dass derzeit keine
       Hinweise darauf vorliegen, dass eine beachtenswerte Anzahl von Zuwanderern
       aus diesen Ländern schon kurz nach ihrem Eintreffen in Deutschland Hartz IV
       beantragen. Vielmehr zeigt eine Sonderauswertung der BA, dass im Vergleich
       zu anderen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich viele
       Hartz-IV-Empfänger aus Rumänien und Bulgarien gar nicht arbeitslos sind,
       sondern höchstens mit der staatlichen Hilfe ihr zu niedriges Gehalt
       aufstocken müssen. Auch über diesen Weg subventioniert Deutschland also die
       Niedriglöhne der Arbeitgeber.
       
       ## Keine großzügigen Leistungen
       
       Im Übrigen wissen Praktiker aus Beratungsstellen, dass die Annahme,
       zuständige deutsche Behörden würden großzügig Leistungen an arbeitslose
       EU-Bürger vergeben, falsch ist. Vielmehr zeigt sich, dass nicht nur
       diejenigen, die noch nicht in Deutschland gearbeitet haben, de facto keine
       Leistungen bekommen, sondern häufig auch diejenigen leer ausgehen, die
       sowohl nach nationalem als auch nach EU-Recht Anspruch auf Unterstützung
       hätten.
       
       So bekommt, wer kein Deutsch spricht, in vielen Jobcentern nicht einmal
       einen Antrag auf ALG II ausgehändigt. Und wenn sich die Entscheidung über
       den Antrag auf Monate hinzieht, bleibt vielen Wanderarbeitern – wie auch
       dem rumänischen Paar – nichts anderes übrig, als in ihr Heimatland
       zurückzukehren.
       
       Unternehmen kennen viele Repressionsmöglichkeiten, um Arbeitsmigranten
       faire Löhne vorzuenthalten: Lohndumping, bei dem Mindestlöhne zum Beispiel
       durch Scheinselbstständigkeit umgangen werden. Oder Lohnbetrug, bei dem
       Löhne nicht bezahlt oder unbezahlte Überstunden erzwungen werden. Außerdem
       ziehen sie oft überhöhte Beträge für die Massenunterkunft und den Transport
       zur Arbeit ab. Klar ist auch: Von nicht ausgezahlten Löhnen werden weder
       Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.
       
       ## Ausbeutung als lukrative Geschäftsidee
       
       Wanderarbeiter sind aufgrund häufig geringer Kenntnisse der deutschen
       Sprache nur selten in der Lage, sich gegen Lohnbetrug oder widerrechtliche
       Kündigungen zu wehren. Bei der Eintreibung des ausstehenden Lohnes hilft
       ihnen keine staatliche Stelle, und der gerichtliche Weg ist für sie kaum
       durchzustehen. Genau darauf setzen manche Unternehmer. Da für den einfachen
       Lohnbetrug zudem in der Regel strafrechtlich nicht viel zu befürchten ist,
       handelt es sich bei der Ausbeutung von Arbeitsmigranten um eine äußert
       lukrative Geschäftsidee.
       
       Die öffentliche Debatte über die Ausbeutung von Arbeitsmigranten hat
       immerhin dazu geführt, dass einige Wirtschaftszweige in den Fokus geraten
       sind. In der Fleischindustrie etwa sind ganze Bereiche dauerhaft an
       ausländische Werkvertragsunternehmen abgegeben worden, um Lohnkosten und
       Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Das Medieninteresse hat dazu
       beigetragen, dass in der Fleischindustrie ab dem 1. Juli endlich ein
       Mindestlohn eingeführt wird.
       
       Unverständlich bleibt allerdings, dass der massenhafte Steuer-,
       Sozialversicherungs- und Lohnbetrug in der öffentlichen Diskussion
       praktisch keine Rolle spielt.
       
       Populistische Debatten, die Zuwanderer pauschal des Sozialmissbrauchs
       beschuldigen, sind nicht nur brandgefährlich, sondern lenken ab vom
       deutlich größeren Problem: dem Sozialmissbrauch und Lohndumping durch
       Unternehmen.
       
       1 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominique John
       
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