# taz.de -- Philosoph über europäische Linke: „Märkte reagieren auf ihr Lächeln“
       
       > Linke Theorie kommt heute aus Süd- und Osteuropa. Ein Gespräch mit dem
       > kroatischen Philosophen Srecko Horvat über die Zukunft des Kapitalismus.
       
 (IMG) Bild: .... „und auf die fehlende Krawatte des griechischen Premiers“.
       
       taz: Herr Horvat, hier in Deutschland ist von linkem Aufbruch nichts zu
       spüren. In Kroatien aber ist das marxistische Subversiv-Festival, das Sie
       gegründet haben, ein Pflichttermin für die Elite des Landes. Ist das
       Zufall? 
       
       Srecko Horvat: Nein. Auf dem Balkan hat sich vor langer Zeit eine neue
       Linke entwickelt. Schon vor den Aufständen in Kairo und der Occupy-Bewegung
       wurden 2009 in Kroatien 24 Fakultäten gegen die drohende Privatisierung
       besetzt. Das Festival steht in der Tradition der politischen Philosophie
       aus dem jugoslawischen Sozialismus, der Praxis-Gruppe, die mit europäischen
       Linken wie Ernst Bloch, Herbert Marcuse oder Agnes Heller eine marxistische
       Kritik am bestehenden Sozialismus diskutierte.
       
       Denen hat die politische Elite nicht zugehört. Zu Ihrer Konferenz kommen
       Minister und die reichsten Männer des Landes. 
       
       Die Linke ist in einer Phase, die Antonio Gramsci als „kulturelle
       Hegemonie“ beschreiben würde. Die Hipster, die einen neuen Lifestyle
       suchen, haben ihn im Leftism – auf der Londoner Marx-Konferenz oder im New
       Yorker Zuccotti-Park – gefunden. Dass dies mehr als eine kurze Mode ist,
       zeigt Syriza. Wenn Gerüchte und Spekulationen der konservativen Eliten die
       Marktbewegungen beeinflussen können, dann können das auch linke
       Spekulationen. Es wurde erkannt, dass weder das Kapital noch der
       Rechtsextremismus aus der Krise führen. Jetzt wird den Linken eine Chance
       gegeben.
       
       Aber nicht in Westeuropa … 
       
       Derzeit jedenfalls gibt die südeuropäische Linke Taktiken, Ideen und
       Prinzipien vor.
       
       Kroatien hat kürzlich 60.000 Armen die Streichung ihrer Schulden in
       Aussicht gestellt. Ist das ein Ergebnis des linken Diskurses oder purer
       Populismus? 
       
       Eher Letzteres. Aber es gibt tatsächlich eine Diskursverschiebung. Ernesto
       Laclaus Theorien zum linken Populismus werden wieder attraktiv. Der
       kroatische Premier zitiert die ganze Zeit Thomas Piketty und hat ihn auch
       persönlich empfangen. Nach dem Sieg von Syriza gab es in Kroatien und
       Serbien einen Wettbewerb unter konservativen Parteien, wer die Ideen von
       Syriza am besten repräsentiert. Das war ähnlich wie nach dem Massaker in
       Paris, als alle Charlie Hebdo sein wollten. Es ist nur Symbolpolitik. Es
       geht nicht darum, die finanzpolitischen Vorschläge Pikettys umzusetzen.
       
       Ist das Teil dessen, was Sie – auch im Zusammenhang mit dem
       Stinkefinger-Skandal um Gianis Varoufakis – „Semio-Kapitalismus“ nennen? 
       
       Ja. Der heutige Kapitalismus funktioniert im Wesentlichen über die
       Akkumulation und Interpretation von Zeichen. Wir haben ein neues Level von
       Hyperrealität und Virtualität des Finanzkapitalismus erreicht. Die Märkte
       reagieren auf das Lächeln von Merkel beim Eurogruppen-Treffen und auf die
       fehlende Krawatte des griechischen Premiers.
       
       Heißt das, man kann den Kapitalismus heute besser mit dem
       Zeichentheoretiker Roland Barthes verstehen als mit dem Ökonomen Karl Marx? 
       
       Nicht ganz. Was Marx über das Eigenleben der Waren, die zu tanzen anfangen,
       gesagt hat, kann man heute auch über die Finanzsphäre sagen. Wichtig wäre
       es, Theorien zur Frage der Zeit zu entwickeln. In Kroatien etwa sind vor
       allem junge Leute verschuldet. Sie werden in jungen Jahren zu Kreditnehmern
       und geben so die Macht über ihre Zukunft und damit auch ihre eigene Zeit an
       die Bank ab.
       
       Aber Unabhängigkeit muss man sich leisten können … 
       
       Sicher. Ich bin nicht Teil einer Champagnerlinken, die sich keine Sorgen um
       Geld machen muss. Aber es ist kein Zufall, dass Varoufakis auf der
       Pressekonferenz mit Schäuble sagte: „Wir fragen nach der kostbarsten aller
       Waren: die Zeit.“ Es geht heute darum, Zeit zu kaufen und zu verkaufen. Und
       es sind die Banken, die Zeit verkaufen. Wir leben in einer Zeit-Sklaverei.
       Das literarische Werk dazu hat Michael Ende 1973 geschrieben – „Momo“ ist
       der Roman zum Schuldenkapitalismus – und Maurizio Lazzarato hat es in dem
       Essay „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ beschrieben.
       
       Immer mehr Leute verstehen, dass die Schulden Griechenlands und die der
       jungen Südeuropäer nicht nur selbstverschuldet sind, sondern Schulden, die
       ihnen aufgezwungen wurden, zum Beispiel durch deutsche U-Boot-Verkäufe.
       
       Sind die Mittel des Diskurses subversiver als Straßenpolitik, weil die
       Aufstände unvorhersehbarer sind? 
       
       Das kann man so nicht sagen. Aber diese Aufstände sind definitiv an eine
       Grenze gekommen. In den letzten zwei Jahren haben Linke gemerkt, dass es
       nicht reicht, auf Plätzen und Parks, ob Tahrir, Taksim oder Zuccotti, zu
       sitzen. Es gab eine Art Fetischisierung des Nichteingebundenseins. Aber die
       Aufstände in Ägypten, der Türkei und den USA zeigen, dass sie dem System
       egal sind. Das macht weiter wie bisher.
       
       Es muss ein neues Modell von Demokratie entwickelt werden. Und ich glaube
       nicht, dass es die Idee der Multitude von Antonio Negri und Michael Hardt
       ist. Es ist nicht verwunderlich, dass der Titel des neuen Buches der beiden
       „Leadership“ sein wird. Beeinflusst von dem Erfolg von Syriza und Podemos
       wollen sie nun zeigen, dass die horizontale Demokratie mit einer
       Vertikalität verbunden werden muss. Die aus den Bewegungen entstandenen
       Parteien Syriza und Podemos könnten eine Antwort sein.
       
       Gab es den langen Marsch durch die Institutionen nicht schon mal? 
       
       Ja. Aber die Grünen haben den Kontakt zur Basis verloren. Entscheidend ist,
       ob Syriza es schafft, über die vertikalen Institutionen die Horizontalität
       zu bewahren. Und nur weil die Sozialdemokraten gescheitert sind, heißt das
       nicht, dass wir – frei nach Beckett – nicht besser scheitern können. Warum
       sollte man die Chance nicht nutzen und das Risiko eingehen?
       
       Sehen Sie eine linke Zukunft in der EU? 
       
       Wenn Podemos in Spanien gewinnt – und das hängt auch davon ab, was mit
       Syriza passiert –, dann könnte das der Beginn eines neuen, blockfreien,
       unabhängigen dritten Weges sein. Sie werden sicher alles tun, um das zu
       verhindern.
       
       Wer sind „sie“? 
       
       Dass die Finanzeliten die Politik beeinflussen, ist keine
       Verschwörungstheorie. Unter den 50 einflussreichsten Unternehmen der Welt
       sind laut einer Studie der Zürcher Technischen Hochschule fast
       ausschließlich Banken. Der nächste Coup d’État in Griechenland wird nicht
       mit Panzern, sondern über Banken durchgesetzt. Die versuchen gerade alles,
       was in ihrer Macht steht, um Varoufakis zu entmachten.
       
       Von Anfang an haben die Finanzminister der Eurozone ihn isoliert, weil er
       ihr Spiel nicht mitspielt. Dass er nun zurückgezogen wurde, ist ein schönes
       Beispiel für das, was der britische Linguist J. L. Austin mit „Sprechakten“
       meinte. Wenn die Financial Times Varoufakis also als „zunehmend isoliert“
       beschreibt und der Chef der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, mit Tsipras
       verhandelt, um Varoufakis loszuwerden, wurde er dadurch überhaupt erst
       isoliert.
       
       Der Philosoph Slavoj Zizek empfahl Tsipras auf Ihrer Konferenz 2013,
       weniger gegen das Kapital zu wettern und es stattdessen auf seine Seite zu
       ziehen. Was halten Sie davon? 
       
       Dem stimme ich absolut zu. Das Subversiv-Festival war auch gesponsert.
       Nicht durch eine Bank, aber von Peugeot, die uns kostenlos Autos zur
       Verfügung stellten. Sie haben letztlich dafür gesorgt, dass jemand wie
       Oliver Stone seinen Beitrag zum Sieg von Syriza geleistet hat, indem er sie
       öffentlich unterstützte.
       
       Muss Syriza also versuchen, die Deutsche Bank auf ihre Seite zu ziehen und
       nicht Wolfgang Schäuble? 
       
       Das Ziel von Syriza ist und war es, das System der Banken zu stürzen, aber
       sie müssen mit ihnen verhandeln. Es gibt die berühmten Löcher im System,
       die man finden und ausnutzen muss. Es ist ein bisschen so paradox wie
       Fernando Pessoas „Anarchistischer Bankier“, geschrieben während der
       Hyperinflationskrise Portugals. Der Anarchist erkennt, dass er nur wirklich
       frei sein kann, wenn er so viel Geld wie möglich verdient.
       
       24 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Doris Akrap
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Europäische Linke
 (DIR) Kapitalismuskritik
 (DIR) Karl Marx
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Karl Marx
 (DIR) Linke
 (DIR) Slavoj Zizek
 (DIR) Kroatien
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Spanien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Ágnes Heller: Ungarns Gewissen
       
       Erst überlebte Heller die Nazis, dann verbot ihr die KP zu publizieren.
       Zuletzt verfolgten sie die Büttel von Viktor Orbán mit Rufmordkampagnen
       
 (DIR) Marx-Engels-Gesamtausgabe: MEGA2 im Netz
       
       Die Zukunft der editorisch vorbildlichen Gesamtausgabe ist gesichert. 35
       Bände werden online erscheinen – und zwar mit offenem Zugang.
       
 (DIR) Philosoph Žižek in Hamburg: Gastspiel eines Hoffnungsträgers
       
       Wenn Slavoj Žižek am Donnerstag ins Schaupielhaus kommt, wird er Hamburg
       nicht nur mit postapokalyptischen Überlegungen konfrontieren.
       
 (DIR) Denker-Messe Phil.Cologne: Der Philosoph als Popstar
       
       Bei der Phil.Cologne in Köln sprach unter anderem Slavoj Zizek. Den
       Euthanasie-Befürworter Peter Singer hatte man kurzfristig ausgeladen.
       
 (DIR) Druck auf Kroatiens Regierung: Kriegsveteranen verschanzen sich
       
       Seit Monaten setzen die Invaliden die kroatische Regierung unter Druck. Sie
       fühlen sich alleingelassen und kämpfen für bessere soziale Absicherung.
       
 (DIR) Varoufakis bestätigt Gesprächs-Mitschnitte: Ja, ich habe aufgenommen
       
       Griechenlands Finanzminister Varoufakis hat zugegeben, dass er beim
       EU-Treffen in Riga vertrauliche Gespräche auf seinem Mobiltelefon
       aufgezeichnet hat – als Erinnerungshilfe.
       
 (DIR) Debatte Linke in Spanien: Zu unpolitische Slogans
       
       Kritiker der etablierten Parteien verlieren in Spanien vor den Wahlen an
       Zuspruch. Podemos muss sich klarer positionieren und bekommt Konkurrenz.