# taz.de -- Indonesische Autorin über Massaker: „Die Geschichte ist nicht ausradiert“
       
       > Laksmi Pamuntjak schreibt über das Tabuthema der Massaker unter Diktator
       > Suharto, die Pflicht gegenüber dem Land und Mythologie.
       
 (IMG) Bild: Studentenproteste gegen den Diktator Suharto führten mit zu seiner Absetzung (Archivbild 1998).
       
       taz.am wochenende: Frau Pamuntjak, im Jahr 2012 stellte Joshua Oppenheimer
       seinen Film „The Act of Killing“ vor. Darin bittet er Indonesier, die 1965
       an den Massakern gegen Linke, Kommunisten und Chinesen beteiligt waren,
       ihre Taten nachzustellen. Schuldbewusstsein zeigen die Täter nicht. In
       Indonesien darf der Film nur in geschlossenen Fachveranstaltungen gezeigt
       werden. Welche Wirkung hatte der Film in Indonesien? 
       
       Laksmi Pamuntjak: Der Film hat unheimlich viel Energie freigesetzt. Endlich
       geben die Täter zu, dass es die Massaker gegeben hat. Unter Diktator
       Suharto wurde das über Jahrzehnte bestritten!
       
       Besonders viele Menschen wurden auf der indonesischen Hauptinsel Java und
       auf Bali getötet. Man geht von mehreren hunderttausend Opfern aus. Viele
       kamen damals in Haft, wurden gefoltert. Besonders berüchtigt war die
       Gefangeneninsel Buru, auf der auch der Autor Pramoedya Ananta Toer gefangen
       gehalten wurde. Auch Bhisma, ein linker Idealist und eine Hauptfigur in
       Ihrem Roman „Alle Farben Rot“, wird nach Buru gebracht. 
       
       Ich habe viel über Buru recherchiert – wissenschaftliche Texte, aber auch
       autobiografische Schriften von ehemaligen Gefangenen gelesen, wie zum
       Beispiel die Buru-Tetralogie von Pramoedya Ananata Toer. Diese Lektüren
       sind in meinen Roman eingeflossen. Die Story soll realistisch sein. Ich
       habe meinen fiktiven Bhisma in eine reale historische Situation
       eingebunden, um sie so aus seiner Perspektive zu erzählen.
       
       Sie waren auch auf Buru? 
       
       Ja, ich war für die Recherche drei Wochen dort. Dabei hat mich ein früherer
       Häftling begleitet, der mir viel über sich und Buru erzählt hat. Er hat mir
       gezeigt, wo einst die Gebäude und Baracken standen, die nun alle
       verschwunden sind. Das Gefangenenlager wurde ja niedergerissen, und auf
       einem Teil des Geländes entstand ein ganz normales Dorf. Die Vergangenheit
       ist aber trotzdem nicht ausradiert. Ich merkte, dass es auf Buru nach wie
       vor ein starkes Misstrauen gegenüber Fremden gibt. Wir wurden zum Beispiel
       auf die Polizeiwache beordert, wo wir genauestens darüber befragt wurden,
       was wir auf dem Gelände der ehemaligen Strafkolonie zu suchen haben.
       
       Woher wusste die Polizei, dass Sie sich dort aufhielten? 
       
       Jemand muss ihnen einen Hinweis gegeben haben. Es war aber nicht nur die
       Polizei hinter uns her. Auch das Militär wollte mehr über uns wissen. Ein
       Mann in Uniform drang in unsere Unterkunft ein und fragte uns eine Nacht
       lang darüber aus, was wir auf Buru wollten. Wissen Sie, irgendwo gibt es
       immer einen Informanten. Auch in meinem Roman kommt daher ein Informant
       vor, der die Hauptfigur Amba begleitet. Amba, diese Frau, ist schon sechzig
       Jahre alt, als sie nach Buru reist, um herauszufinden, was mit ihrem
       früheren Geliebten Bhisma dort passiert ist. Er wurde 1965 in Yogyakarta
       von ihr getrennt, gefangen genommen und später auf die Insel gebracht.
       
       Nach vielen Jahren Haft wird Bhisma freigelassen. Er entscheidet sich aber,
       freiwillig auf der Insel Buru zu bleiben. Warum? 
       
       Wo sollte er auch hingehen? Er stammte aus einer bourgeoisen Familie, und
       solche Familien sind in Indonesien bekanntermaßen schwer
       zufriedenzustellen. Mit seiner Inhaftierung hat er Schande über sie
       gebracht; zu ihr braucht er also nicht zurückzukehren. Von seiner Geliebten
       Amba wurde er getrennt. Er ist ein teilweise gebrochener Mensch, aber ein
       interessanter Charakter.
       
       Warum zieht ihn die Liebe zu nicht zu ihr zurück, Warum sucht er nicht nach
       Amba? 
       
       Mein Bhisma hat einige Charakterzüge, die auch sein Vorbild besitzt: der
       Bhisma aus dem indischen Mahabharata-Epos. Dieser Bhisma ist ein mutiger
       Krieger mit einem ausgeprägten Pflichtgefühl. Die Pflicht geht ihm wirklich
       über alles!
       
       Ihr Bhisma ist Arzt und bleibt auf Buru, um die dort lebenden Menschen
       medizinisch zu versorgen. Ist das seine Art der Pflichterfüllung? 
       
       Ja. Und das ist eine sehr verbreitete bürgerliche Art der
       Pflichterfüllung. Damals konnte es sich ja nur eine bestimmte Schicht
       leisten, ihre Kinder im Ausland studieren zu lassen. Bhisma hatte dieses
       Glück. Dazu gehörte aber auch immer die Idee von „noblesse oblige“ – und
       zwar in dem Sinne, dass die im Ausland erworbenen Fertigkeiten der
       Gesellschaft zu Hause zugutekommen sollen. Diese goldene Regel wurde
       übrigens auch mir eingetrichtert: Egal, was du während deines Studiums in
       Australien erlebst und wen du dort kennenlernst – nichts geht über deine
       Pflicht, nach Hause zurückzukommen und deine erworbenen Kenntnisse hier
       einzubringen. So ist das auch bei Bhisma.
       
       Aus was für einer Familie stammen Sie? 
       
       Meine Eltern haben in Europa studiert, und eine solche Ausbildung wollten
       sie auch mir ermöglichen. Außerdem habe ich schon als Kind
       Klavierunterricht bekommen und konnte Indonesien später auf internationalen
       Klavierwettbewerben vertreten. Ich musste immer ziemlich hart lernen. Und
       ich sollte reisen, weil mir das Wissen vermitteln und Horizonte öffnen
       würde. Das alles aber musste schließlich auch meinem Land und meinem Volk
       zugutekommen. Ich versuche das nun durch mein Schreiben. Bhisma hingegen
       versucht es, indem er Kranke heilt. Außerdem hängt er linken Ideen an. Man
       kann ihn einen Idealisten nennen, aber man wünscht sich doch, dass es heute
       mehr von seiner Sorte auf der Welt gäbe. Mehr Menschen, die für ihre
       Überzeugungen kämpfen.
       
       Und Amba, wie gut konnten Sie sich in sie einfühlen? Schließlich macht sie
       etwas Ähnliches wie Sie als Autorin: Nachforschungen anstellen auf Buru. 
       
       Ich habe Amba Anglistik studieren lassen, um ihr so meine eigene Liebe zur
       englischen Literatur mitzugeben. Ansonsten kann ich mich aber nicht so sehr
       in ihr spiegeln. Sie ist im ländlichen Java der 50er Jahre aufgewachsen.
       Obwohl sie intelligent ist und sich für viele Dinge interessiert, ist sie
       keine Kosmopolitin. Sie ist in vielerlei Hinsicht unaufgeklärt. Das ist mir
       persönlich fremd, so hoffe ich doch wenigstens. Wie mir auch die damals
       wahnsinnig starken Spannungen zwischen Islam und Kommunismus fremd sind.
       Ich musste das alles recherchieren.
       
       Amba, ihr Verlobter Salwa und ihr Geliebter Bhisma sind ursprünglich
       Figuren aus dem indischen Mahabharata-Epos, das in Indonesien jeder kennt.
       Warum haben Sie für einen modernen Roman auf eine mythische Konstellation
       zurückgegriffen? 
       
       Mythologie interessiert mich immer schon. Meine Mutter stammt aus
       Zentraljava und liebt traditionelles Puppentheater, Gamelan-Musik und
       Batik-Kunst. Obwohl meine Eltern wollten, dass ich westlich aufwachse,
       gehören diese Künste eben auch zu meinen Wurzeln. Außerdem habe ich als
       Kind das Mahabharata gern gelesen. Ich hatte eine Ausgabe mit
       Illustrationen. Die alten Epen führen grundlegende Lebenssituationen vor,
       menschliche Charaktere mit prototypischen Eigenschaften, Gut und Böse. Es
       sind Geschichten, die sich letztlich immer wiederholen und die man immer
       wieder neu erzählen kann.
       
       Wie haben die indonesische Leser auf „Alle Farben Rot“ reagiert – auf eine
       noch immer schwierige politische Geschichte mit mythologischem Sockel? 
       
       Sehr positiv. Der Roman wurde mehrfach nachgedruckt. Es hat mich erstaunt.
       Das Buch ist ja doch auch ziemlich umfangreich. Ich erkenne dadurch aber
       auch, dass sich viele Menschen für 1965 interessieren und wissen wollen,
       was damals wirklich geschah.
       
       25 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Borchardt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Indonesien
 (DIR) Suharto
 (DIR) Diktatur
 (DIR) Massaker
 (DIR) Christen
 (DIR) Kommunisten
 (DIR) Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023
 (DIR) Freies Theater
 (DIR) Indonesien
 (DIR) Literatur
 (DIR) Moderne Kunst
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Film
 (DIR) Flugzeugabsturz
 (DIR) Drogenhandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Puppen und Frauen: Fünf Jahre Weltmodell
       
       Sein fünfjähriges Bestehen feiert das Bremer „Mensch, Puppe!“-Ensemble mit
       einem Festival – und der Eigenproduktion „Zeit“
       
 (DIR) Amnesty International über Indonesien: Folter und Justizfehler bei Todesstrafe
       
       Bei der Buchmesse werden die Massaker in Indonesien vor 50 Jahren
       thematisiert. Menschenrechtler kritisieren das Land auch aktuell wegen
       Folter.
       
 (DIR) Frank Witzels BRD-Roman: Tristesse und RAF
       
       Ein Aufwachsen in den 60ern und 70ern, das Leben in kleinstädischer
       Lethargie. In seinem Roman wirft Witzel Wahn und Wirklichkeit
       durcheinander.
       
 (DIR) Ausstellung indonesischer Kunst: Die Freiheit von Bambus
       
       Indonesien ist Gastland der Buchmesse. Eine Schau im Frankfurter
       Kunstverein stellt bildende Künstler des Inselstaats vor.
       
 (DIR) Politische Kunst: Wo kein Flieger abhebt
       
       Der Konzeptkünslter Khalil Rabah will in Hamburg Vorschläge für eine neue
       palästinensische Identität jenseits des Nahostkonflikts machen.
       
 (DIR) Neuer Dokumentarfilm von Oppenheimer: „Genau das ist Reflexion“
       
       Regisseur Joshua Oppenheimer hat einen neuen Film gedreht. In „The Look of
       Silence“ sind die Angehörigen von Massaker-Opfern im Fokus.
       
 (DIR) Dutzende Tote in Indonesien: Militärflugzeug stürzt auf Häuser
       
       Ein Flugzeug ist zwei Minuten nach dem Start in der Millionenstadt Medan
       abgestürzt. Mehr als dreißig Leichen sind bereits geborgen worden.
       
 (DIR) Todesurteile wegen Drogendelikten: Indonesien kennt keine Gnade
       
       Der internationale Protest scheint ungehört zu bleiben: Indonesien will
       weitere neun Verurteilte wegen Drogendelikten hinrichten.