# taz.de -- Kritik „Biller Papers“, Teil 8 und Schluss: Wunderbar, witzig, groß
       
       > Maxim Billers Roman „Biografie“ ist 896 Seiten lang, eine Sprachwand
       > schwerer Themen. Die Kritik gibt es deshalb „in progress“.
       
 (IMG) Bild: Biller lesen – ganz gemütlich
       
       Teil 8 
       
       Ein melancholisches Gefühl breitet sich im Körper aus beim Lesen der
       letzten der 893 Seiten von Maxim Billers Roman, der vielleicht auch eine
       Autobiografie in Romanform ist. So viel Zeit hat man verbracht mit den
       Figuren, dass der nahende Verlust, der kommende Austritt aus der
       Biller’schen Romanwelt wider Erwarten fast ein bisschen wehtut.
       
       Hat Solomon Karubiner, der Held der Geschichte, nicht ständig genervt mit
       seiner neurotischen Fixiertheit auf die Regungen seines Verdauungsapparats,
       seinen Migräneattacken, seiner narzisstischen Selbstbezogenheit, dem ewigen
       Grübeln darüber, was der strenge Vater und die selbstverliebte Mutter mit
       dem Scheitern seiner Liebesbeziehungen zu tun haben? Klar hat er genervt,
       aber Hysteriker sind nun mal interessante Figuren. Ohne Hysterie keine
       Kunst, keine Geschichte, kein Fortschritt.
       
       Und Solis hyperaktiver Busenfreund, der verzogene Sohn eines jüdischen
       Gangsters aus Buczacz, der seinen eigenen Vater auf die Transportliste
       gesetzt hatte, dieser Noah Forlani, der ein Aufmerksamkeitsdefizit
       entwickelt hat, weil er nie unbeobachtet blieb, der immer neue, aber etwas
       spät kommende Business-Ideen im Sinn und eine sexuelle Vorliebe für große
       Frauen hat, die ihn an seine dominanten Kindermädchen erinnerten, hat er
       nicht auch vor allem genervt? Doch, schon. Aber in seiner Verpeiltheit ist
       Noah auch ein sympathischer Typ.
       
       Man schlägt „Biografie“ also mit einem Seufzer zu, weil die Charaktere
       keine Pappkameraden sind. Biller hat seine Figuren satirisch überzeichnet,
       aber sie sind dennoch plausibel. Enttäuscht, verunsichert, hypochondrisch,
       neidisch, zynisch und berechnend sind sie, aber auch herzlich, aufrichtig
       und witzig.
       
       Ist „Biografie“ ein konservativer Roman mit einer aus dem 19. Jahrhundert
       überkommenen Vorliebe fürs Psychologische? Nope. Weil das Psychologische
       immer wieder ins Psychedelische, das nüchtern Beschriebene ins
       Tagtraumhafte, Irreale, Wunschgetriebene umschlägt.
       
       Die Normalzeit des Romans, an der sich die anderen Zeitebenen orientieren,
       ist definiert durch jene Phase nach Noah Forlanis vermeintlicher Ermordung
       durch islamistische Terroristen im Sudan, in der Soli Karubiner wegen des
       peinlichen Vorfalls in der Elstar-Sauna nach Israel geflüchtet ist, wir
       sprachen davon. Von dieser Achse aus springt die Erzählung ständig in
       vergangene Zeitebenen hinein, in die Erinnerungen von Soli und Noah, denn
       auch das „Ich“ bleibt in dieser kaleidoskopartig aufgefächerten,
       multisperspektivischen Erzählung nicht Soli vorbehalten. Manchmal ist das
       erzählende Ich auch das Ich von Noah.
       
       Was als atemloser Stil erscheint, der manche Rezensenten gelangweilt hat,
       ist das Ergebnis der ästhetischen Entscheidung, das Multitasking, das Hin-
       und Herspringen zwischen den Kanälen und Gesprächsebenen, das popkulturell
       informierte Zitieren vergangener Dialoge, das die Kommunikation gegenwärtig
       lebender Menschen prägt, sich als erzählerische Form anzueignen.
       
       Müssen wir noch über das deutsch-jüdische Verhältnis sprechen, das den
       historischen Hintergrund bildet, vor dem sich die Figuren abheben? Darüber
       kann man ganze Romane schreiben, und Biller hat’s gemacht. Nur so viel:
       Soli Karubiner ist ein Schriftsteller, der die Deutschen ärgern kann, weil
       sie schon beleidigt sind. Sie kommen nur rational, nicht emotional mit
       ihrer Vergangenheit klar.
       
       Am Ende ist „Biografie“ ein wunderbarer, witziger, großer Roman auf der
       Höhe der Zeit. Über eine Freundschaft und einen Vater, der nicht so
       schlecht ist, wie der Sohn ihn sich gemacht hat. [1][ULRICH GUTMAIR]
       
       ***
       
       Teil 7 
       
       Serien seien wie Romane, hieß es lange. Heute kann man sagen: Romane sind
       wie Serien. Man will wissen, wie’s weitergeht, man freut sich auf die
       Abendstunden, und dann liest man viel zu lange. Und wenn man sich mal
       losgerissen hat und jemanden trifft, der gerade dieselbe Serie liest, ist
       das wunderbar. Irgendwann heißt es: „Ach, da warst du noch gar nicht? Das
       wird super, kannst dich drauf freuen, nein, ich verrate nix.“
       
       Womit wir beim Stichwort Verrat sind. Maxim Billers ‚Biografie‘ ist ein
       Roman über Liebe, Freundschaft und Verrat. Sie bilden die Eckpunkte eines
       Dreiecks. Von der Liebe war in dieser Kolumne schon mehrmals die Rede.
       
       Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern ist ein Topos, den Maxim Billers
       Protagonisten fast manisch umkreisen, weil sie sich dieser Liebe nicht
       sicher sind. Immer wieder kehrt Soli Karubiner zu den an ihm nagenden
       Fragen zurück. Warum war der Vater so zornig, warum schlug er den Sohn,
       warum hat die Mutter das nicht verhindert, warum schickten sie ihn für ein
       Jahr zum Großvater nach Moskau?
       
       Schläge lassen sich noch als kaputte Form der Liebe deuten, aber verlassen
       zu werden ist Verrat. Soli wird noch einmal verlassen, als seine Mutter zum
       Vater von Solis Schwester Serafina nach Miami zieht. Soli ist schon
       vierzig, aber als Verrat empfindet er es trotzdem. Die vielen Sexszenen in
       „Biografie“ sind vor allem dazu da, mehr oder weniger verschlüsselt von
       Gefühlen des als Verrat empfundenen Liebesentzugs und der daraus
       resultierenden Ur-Erfahrung der Ohnmacht zu erzählen.
       
       Liebe und Verrat bedingen sich gegenseitig, auch Freundschaft ist ohne
       Liebe und Verrat nicht denkbar. Ein „Biografie“-Leser sagte kürzlich im
       Biergarten: „Das Schöne an diesem Roman ist, dass er von Freundschaft
       handelt. Die große, zärtliche Freundschaft zwischen Soli und Noah ist
       rührend.“
       
       Freundschaft ist in diesem Roman ein liebevolles Verhältnis. Man könnte
       fast meinen, dass eine spezifische Definition von Freundschaft formuliert
       wird: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten. Vielleicht ist das
       aber auch zu idealistisch und apodiktisch formuliert. Wählen wir lieber den
       Imperativ: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten sollen.
       
       In der Mitte dieses Buchs öffnet sich zwischen der atemlosen, ständig die
       Zeitebenen wechselnden Erzählung plötzlich ein Raum. In einer über viele
       Seiten hinweg entwickelten Szene wird Solis Freund Noah am Pazifikstrand
       von seinen vermeintlichen Freunden verlassen, die sich sodann in den Tempel
       eines buddhistischen Gurus begeben und dort ihre Verhältnisse klären, immer
       wieder auf Kosten des abwesenden Noah, während dieser im selben Moment
       erkennt, wie er sein Leben ändern muss, um derjenige zu werden, der er sein
       möchte.
       
       Er muss sich emanzipieren, indem er aufhört, alles immer nur so zu machen,
       „wie er dachte, dass sie es von ihm wollten“. Sie, das sind die Eltern, das
       Kindermädchen, sein Freund Soli, seine Frau, aber auch das Weltgewissen und
       schließlich, „Gott, den es nicht gab“.
       
       Mit dieser Episode korrespondiert eine in Form eines Märchens erzählte
       Geschichte. Sie handelt davon, wie Solis Vater seinen Großvater verrät, um
       sich aus dem Gefängnis zu befreien, während er selbst von seiner Frau
       verraten wird, die ihn mit einem anderen betrügt. All das geschieht im
       Königreich Rotland.
       
       Trotz ständiger Nazireferenzen arbeitet sich Biller in „Biografie“ daran
       ab, was der Stalinismus und seine Verfallsformen im 20. Jahrhundert
       angerichtet haben. Verrat gab es auch in Nazideutschland, aber in der
       Sowjetunion war er die zentrale Schnittstelle zwischen Staat, Ideologie und
       Familienleben. Volksschädlinge sind in diesem System nicht die anderen, die
       vernichtet werden müssen, eben weil sie anders sind. Es sind Väter, Mütter,
       Kinder.
       
       Im Märchen verrät Mojsche der Grebser seinen Vater, weil er selbst des
       Verrats angeklagt ist. Er hat ein Gedicht geschrieben, in dem er die
       Wahrheit über den König von Rotland gesagt hat. [2][ULRICH GUTMAIR]
       
       ***
       
       Teil 6 
       
       „Biografie“, merkwürdiger Titel für einen Roman? Für diesen Roman von Maxim
       Biller lässt sich kaum ein passenderer finden. Höchstens „Biografien“, aber
       das wäre zu beliebig postmodern. Ein Teil des Lesevergnügens besteht ja
       darin, sich zu fragen, wie viel Biller-Biografie in der Lebensgeschichte
       seines Protagonisten, des Schriftstellers Soli Karubiner, steckt. (Der
       glaubt, er werde von „Philo-, Anti-, und Originalsemiten“ für „das
       stakkatohafte, moralische, dionsysische, kurz: intellektuelle Denunzieren
       einer Welt, die andere Menschen doch nur ein bisschen zu lieben versuchen“,
       gehasst und bewundert.)
       
       Zu Solis Biografie gehört seine Busenfreundschaft zu Noah Forlani genauso
       wie das Verhältnis zu Vater Wowa, „dem Schrecklichen“, zu seiner Schwester
       Serafina und nicht zuletzt zu „Mamascha“. Im Zuge der Erzählung werden aber
       auch die Biografien verschiedener anderer Figuren, mal detailreich, mal
       skizzenhaft aus. Die Idee des Biografischen in Gestalt eines
       psychoanalytischen Familien-, Freund- und Feindschaftsromans prägt die
       Story auf allen Ebenen.
       
       Nur scheinbar dominieren Väter diese Lebensgeschichten, weil das Wirken der
       Mütter auch in traditionellen Familien nicht zu unterschätzen ist, was von
       Biller paradoxerweise gerade dadurch betont wird, dass nur „Mamascha“
       namenlos bleibt. Während sich der feministische Leser gerade darüber zu
       mokieren beginnt, warum Biller seine Frauenfiguren erzählerisch so
       vernachlässigt, hat der Autor heimlich, still und leise hier und da bereits
       einige Hinweise fallen gelassen, was es mit den Müttern in diesem jüdischen
       Post-Holocaust-Kosmos auf sich hat.
       
       Solis Mutter etwa, Schriftstellerin wie der Vater, erscheint Zug um Zug
       mehr als selbstverliebte Komplizin der väterlichen Ohrfeigen, als
       „scheinheilige Wowa-Kollaborateurin“. Die Mutter Noahs wiederum, der
       elterliche Liebe in Form von Bordell-Geheimkonten und Überwachungskameras
       erfährt, ist selbst Opfer ihres Manns, sie „besaß kein eigenes Konto, keine
       Kreditkarte, keine EC-Karte, dafür warf er sie manchmal nachts aus dem
       Bett, wenn sie ihn nervte, und sagte: ‚Das Bett gehört mir. Ich habe es
       bezahlt.‘ “
       
       Mütter und Töchter sind wie Väter und Söhne Opfer und Täter zugleich.
       Menschen halt, die damit klarkommen müssen, was sie als Kinder erlebt
       haben. Das klappt nicht so richtig gut, was dem Leser bekannt vorkommt.
       Während die literarische Biografie Maxim Billers von der Kritik leicht
       entnervt aufgenommen wurde, klettert eine andere Autobiografie gerade in
       den Charts nach oben. Die protestantische Geschichte Benjamin von
       Stuckrad-Barres handelt von Absturz, Scham, Reue und Wiederauferstehung
       eines Pastorenkindes. Vielleicht haben die Trolle von der AfD ja doch
       recht: Deutschland ist ein christliches Land, in dem die Nachricht, dass es
       keine Erlösung gibt, immer noch nicht gern gehört wird. [3][ULRICH GUTMAIR]
       
       ***
       
       Teil 5 
       
       Maxim Biller wollte einen Roman über das 20. Jahrhundert schreiben, das
       Zeitalter der Menschheitsverbrechen, der sexuellen Befreiung und der
       Psychoanalyse. Insofern verwundert es nicht, dass sein Ich-Erzähler Soli
       Karubiner erstens gerne Nazivergleiche bei der Hand hat, wenn er etwas
       beschreiben will, zweitens offenherzig über seine sexuellen Fantasien
       berichtet, zu denen er onaniert, und drittens ein Freudianisch gesprochen
       perverses, also genital gestörtes Verhältnis zum Sex hat.
       
       Oritele, die „Königin von Saba und Nord-Tel Aviv“, liebt er erst, „als sie
       weg war“. Danach erinnert er sich an ihre „schönen, ein bisschen zu kurzen,
       zu stämmigen Beine“. Was fällt ihm weiter ein? „Ein kleiner Arsch, der
       trotzdem voller Überraschungen war. Ein ewiger blauer Fleck auf dem Rücken,
       genau dort, wo sie früher, als sie noch in der Gehenna das siedende Öl für
       die anderen umrührte, einen Schwanz hatte. Und eine behaarte Stelle auf der
       linken Schläfe, der erste biologische Atavismus, der mir im Leben
       untergekommen war.“
       
       Soli leckt Oritele gern die „Pflaume“. Oritele wiederum liebt es, Soli erst
       ein, dann zwei Finger in den Hintern zu schieben – und das soll wehtun:
       „Ich weinte, weil Oriteles Finger sich durch mein blitzblankes Loch tief in
       meine Seele bohrte.“ Sex ist in Billers „Biografie“ unter anderem ein
       Vorgang, durch den die kindliche Erfahrung von Ohnmacht durchgearbeitet
       werden. Er ist aber auch ein Ausdruck kollektiver psychischer Prägung, die
       weiter zurückreicht als eine Generation.
       
       „Die irakischen Juden – in Babylon seit Nebukadnezar II. – waren so wenig
       fein, kultiviert und menschlich wie jeder Nomade, Reiterkrieger, Araber,
       mit dem sie in dreitausend Jahren einmal ein Geschäft gemacht hatten. Ihre
       Kultiviertheit war Arroganz, Misstrauen. Sie lauerten immer nur auf die
       richtige Chance, den anderen zu besiegen. Und wenn es der eigene Ehemann
       war.“ Oritele besiegt Soli mit ihrem lubrifizierten Finger.
       
       In diversen Verrissen und darauf folgenden Verteidigungen dieses Romans
       ging es beinahe obsessiv um seine Fülle sexueller Handlungen und Fantasien.
       Eine der dabei gestellten Fragen lautete: Wozu das Ganze? Wozu die vielen
       (womöglich gar noch jiddischen!) Synonyme für das Pitschkale und den Dudek?
       Warum, warum wird da so viel onaniert und gevögelt? Und warum geht es da so
       selten um Nähe und Liebe, aber dafür oft um sadomasochistisch gefärbte
       Projektionen? Die Frage ist richtig gestellt, die allgemeine Antwort darauf
       bereits oben zu finden.
       
       Richtig ist auch die Kritik, dass es bei der Ausarbeitung der
       psychologischen Tiefe der Frauenfiguren noch viel Luft nach oben gegeben
       hätte, wie der Sportreporter sagt.
       
       Einem Autor muss man aber zugestehen, dass er einen bestimmten Aspekt
       seiner Geschichte nicht weiter verfolgt. Weil er davon keine Ahnung hat.
       Weil es ihn nicht interessiert. Oder weil es ihm für das, was er erzählen
       will, schlicht nicht wichtig erscheint. Meine These zugunsten des Autors
       ist diese: Dieser Roman handelt von Männern, die nicht erwachsen werden
       können. Denn die Billerschen Hauptfiguren, die Freunde Soli und Noah, haben
       einen Schaden, den ihre Eltern verursacht haben. Dieser Schaden ist nicht
       nur biografisch wirksam, sondern steht womöglich beispielhaft historisch
       für das Problem von Männlichkeit bei vielen, die ins 20. Jahrhundert hinein
       geboren wurden.
       
       Psychoanalytisch betrachtet ist der schlagende Vater der impotente Vater.
       Seine Autorität wird durch Gewalt nicht bestätigt, sondern beschädigt. Soli
       erfährt die Gewalt direkt, Noah indirekt, weil sein Vater die gewalttätigen
       Kinderfrauen gewähren lässt.
       
       Soli und Noah sind auch als Männer nie so recht ihrer Pubertät entwachsen.
       Sie sind jüdische Jungs geblieben, nie ganz Männer geworden, weil ihre
       Väter trotz aller Härte schwach sind. Dieser Mangel wird zwar am
       deutlichsten, wenn sie Sex haben, ist aber auch sonst nur schwer zu
       übersehen. Noch relativ am Anfang dieses Buchs, nach gut 200 Seiten, stellt
       sich also die Frage: Wann tritt die Mutter auf? [4][ULRICH GUTMAIR]
       
       ***
       
       Teil 4 
       
       „Maxim Biller kann schreiben. Mein Gott, und wie“, hat Daniel Kehlmann für
       seinen Blurb auf der Rückseite gedichtet. Klingt wie aus einem
       Heinz-Rühmann-Film, stimmt aber. Biller kann schreiben, und zwar ganze
       Sätze, von denen jeder selber eine kleine Geschichte erzählt. Davon gibt es
       in diesem Buch also sehr viele, wenn man bedenkt, dass es 900 Seiten hat.
       
       Ich habe die Hundertermarke eben erreicht, und ich weiß: Ich werde bis zum
       Ende weiterlesen. Dieser Roman macht Spaß, ist intelligent, kennt keinen
       Gott und hat vor nichts Angst. Er bedient sich sehr künstlicher,
       drehbuchartig zugespitzter Figuren, die aber trotzdem nachvollziehbar für
       genauso denkbare Menschen stehen, mit unklaren Beweggründen,
       unkontrollierbaren Gefühlen, und Sehnsüchten, die sie selbst nicht kennen:
       Psychologie. So was gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht so
       oft.
       
       „Biografie“ handelt vom Millionärssohn Noah Forlani und dem Schriftsteller
       Soli Karubiner, der uns als Ich-Erzähler mitnimmt auf die Reise dieser
       beiden Männer im besten, also schlimmsten Alter. Sie müssen sich endgültig
       von ihrer libidinös befeuerten Jugend verabschieden, am Horizont lauert der
       Tod und also das Nichts.
       
       Wo wollen sie hin? Nach Buczacz, das heute in der Ukraine liegt und bei
       Biller als das Jerusalem des Ostens erscheint. „Schloimel Forlani, der
       Oberganef, war aus Buczacz. Mein Großvater, der Vater von Wowa, dem
       Familien-Stalin, kam aus Buczacz. Agnon kam aus Buczacz, Simon Wiesenthal
       war aus Buczacz. Wir alle waren Buczaczer, in unseren Köpfen ratterten die
       Räder noch schneller als bei anderen Juden, aber wir konnten auch ganz gut
       mit dem Schwanz denken. Waren wir am Ende alle miteinander verwandt? Noah
       und ich bestimmt. Wir liebten uns mehr als Brüder, und ich fand, wir
       sollten einmal zusammen nach Buczacz fahren, das würde Klarheit in unsere
       Beziehung bringen.“
       
       Noah Forlani wird geliebt, weswegen er sein ererbtes Geld hemmungslos in
       unsinnigen Projekten verjubelt, während sein Freund Soli Karubiner, wie
       Noah meint, von seinem ehemaligen tschechischen Parteischriftsteller- und
       Staatssicherheitsvater nicht geliebt wird. Im Gegensatz zu Noah weiß Soli
       aber, was er will und was er kann. Er weiß, dass in ihm soundso viele
       Romane stecken, unter anderem ein so dickes Ding, wie der Leser es in der
       Hand hält. Aber das hilft nicht über die fundamentale philosophische
       Unbehaustheit hinweg, die ihn nach einer peinlichen Affäre in der Dusche
       der Elstar-Sauna befällt.
       
       Fasziniert und angeregt von einem „unglaublichen weißen Arsch, wie ich ihn
       hier nie zuvor gesehen hatte“, fasst sich der Erzähler zwischen die Beine,
       doch da dreht sich die bewunderte Madame um. Die Polizei kommt, ein
       Erpresser macht eine Falschaussage zugunsten des Schriftstellers. Der Mann
       hat einen Roman in der Schublade, den er mit Hilfe des exhibitionistischen
       Autors veröffentlicht sehen will.
       
       Diese beschämende, peinliche und absurde Begebenheit ist für den
       schadenfrohen Leser lustig, weil man sich gut in sie hineinversetzen kann.
       Auch wenn Biller jeden Anflug eines metaphysischen Gedankens von sich
       weist, ist dieser komische Moment im Roman doch Anlass, sich grundsätzliche
       Gedanken über das Leben zu machen: „Was spürte ich, wenn ich an die
       Elstar-Sauna dachte? Nichts Metphysisches, eher eine kindliche Beklemmung,
       eine Art theatralische Todesangst. Und plötzlich hatte ich auch noch andere
       Fragen an den Psychologischen Weltkongress: Werden wir von unserer Umgebung
       zu dem gemacht, was wir vorher nicht waren? Bilden wir uns den Horror
       niemals bloß ein? Leben wir in einer Welt, die wir überhaupt nicht kennen?
       Dreimal ja, lautete meine Antwort.“
       
       Biller kann nicht nur schreiben, er hat auch Humor. Schreiben können ohne
       Humor, ein warmes Herz und eine traurige Seele, das braucht ja nun auch
       keiner, und ohne Humor ließe sich das dreifache Ja auch nicht aushalten.
       Bin gespannt, wie es weitergeht.
       
       [5][ULRICH GUTMAIR], Dirk Knipphals ist verhindert.
       
       ## ***
       
       ## Teil 3
       
       Ich lese das Buch langsam. Ich bin jetzt am Ende des ersten Drittels von
       Maxim Billers Roman „Biografie“, dem Punkt, an dem, kann ich mir denken,
       die Kollegen Literaturkritiker, die schnell auf das Erscheinen reagieren
       mussten, sich gefragt haben: „Alles schön und gut, aber was macht er da
       eigentlich, was soll das Ganze?“
       
       Es lässt sich an diesem Punkt viel sagen über die Übersexualisierung, über
       die Neigung zu Pointen und Anekdoten, die Sprache (manchmal fühle ich mich
       an die knödeligen Sätze von Günter Grass erinnert und muss lachen, mit
       Grass würde Maxim Biller nicht gern in Verbindung gebracht werden). Aber,
       was zumindest an dieser Stelle schwierig ist, ist, das Projekt in
       irgendeiner Weise auf einen Punkt zu bringen, eine Vorstellung davon zu
       haben, was das Buch der Welt hinzufügt. Genau das braucht man als LeserIn
       bei diesen dicken, komplizierten Büchern aber irgendwann.
       
       Es muss ja auch gar nichts Kompliziertes sein. Bei Knausgård ist klar: Hier
       zieht sich jemand schreibend so nackt aus, wie er kann, um sich selbst auf
       die Spur zu kommen. Bei William T. Vollmann ist klar: Hier will jemand den
       Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs irgendwie zu fassen versuchen. Und Biller?
       Selbstverständlich ist vom Vorwissen über diesen Autor klar, dass im
       Hintergrund die Themen rund um den Holocaust stehen, und man ahnt, dass es
       da irgendwo ein Gravitationszentrum geben mag. Vom Text selbst aus ist das
       bis zum Ende des ersten Drittels nicht klar. Maxim Biller erzählt Anekdoten
       aus der Kreativ-, vor allem der Filmszene, macht sich über den Schauspieler
       Jeff Goldblum und anhand von Darfur-Episoden über Weltrettungsfantasien
       lustig; groovt sich immer wieder in die Schilderung einer offenbar noch
       unverarbeiteten Kindheit zwischen Prag und der Hamburger Hartungstraße 12
       ein, in der Lügen und Ohrfeigen eine große Rolle spielen.
       
       Helge Malchow, der Verleger Maxim Billers, hat in seiner Rede bei der
       Buchpremiere angekündigt, dass ab Seite 750, wenn die beiden Freunde Soli
       und Noah in die Ukraine reisen und ihnen die Geschichte der dortigen
       Pogrome erzählt wird, sich die gesamte Romanwelt eröffnen würde. Von da aus
       solle man das ganze Buch noch einmal lesen: „Hier zeigt sich“, so Malchow,
       „die durchgeknallte Romanwelt ist die Antwort auf eine durchgeknallte
       Welt.“
       
       Am Ende des ersten Drittels hat man verstanden, wie durchgeknallt das ist.
       Jetzt müsste aber noch etwas kommen, das diese Durchgeknalltheit als
       Schreibprojekt begreifbar macht. Mal sehen. Nächste Woche mehr. [6][DIRK
       KNIPPHALS]
       
       ***
       
       Teil 2 
       
       Der Satz „Jetzt, dachte ich, sollte ich sicherheitshalber lachen“ fällt,
       als Solomon, genannt „Soli“ Karubiner, die Zentralfigur, den Inhalt eines
       Familienromans erzählt bekommt, der vom Widerstand einer nichtjüdischen
       deutschen Familie gegen die Nazis handelt. Dieser Soli sitzt dem Verfasser
       des noch unveröffentlichten Romans, Claus, in einem Restaurant in Berlin
       gegenüber. Claus will ihn erpressen, das Manuskript an einen Verlag zu
       empfehlen; und er kann ihn erpressen, weil Soli in einer öffentlichen Sauna
       onaniert hat und eine Frau sich dadurch belästigt fühlte. Wir sind da auf
       Seite 128 von Maxim Billers 900-seitigem Roman „Biografie“.
       
       Die Frage, ob man „sicherheitshalber“ lacht, hat man sich beim Lesen bis
       dahin schon einige Mal gestellt. Es gibt viele komische Details. So trägt
       der besagte Familienroman den Titel „Die Litze der Hammerbachs“, und sofort
       fragt sich Soli Karubiner (wie der Leser), was, verdammt noch mal, eine
       Litze ist.
       
       Außerdem schichtet Max Biller oft die Ebenen waghalsig übereinander. Mitten
       in einem Gespräch, das die Frage berührt, ob die Juden den Opferstatus
       monopolisieren – „Sie und die anderen Judentypen. Ihr denkt, die Erinnerung
       gehorcht nur euch“ –, fällt diesem Claus zum Beispiel auf, in einem
       Promirestaurant zu sitzen: „Das war Tom Cruise. Ich glaub’s nicht, das war
       Tom Cruise!“ Das ist nicht die erste Stelle, an der man sich ernsthaft
       fragt, ob man das Buch nicht einfach wie ein Pulp-Fiction-Ding auf seine
       absurden Stellen schnell weglesen sollte.
       
       Es gibt wirklich hanebüchen ausgedachte Plot Points. Die Dreharbeiten zu
       einem very independent Film über die Ermordung der Goebbels-Kinder spielt
       eine Rolle, eine Geschichte um betrogene Betrüger und eine geschmuggelte
       Buddha-Statue und immer wieder Sex, der in vielen Spielarten eher
       angesprochen als tatsächlich geschildert wird, und zwar so obsessiv, dass
       man beim Lesen gleich denkt: Aha, hier soll ich hinter der heftigen
       Oberfläche die Verzweiflung und Leere dahinter spüren.
       
       Sex, das ist in diesem Roman bislang hauptsächlich Kampf, und zwar gar
       nicht mit und gegen einen Partner, sondern um und mit der eigenen
       Empfindung. Dass sie Narzissten sind, wissen sowieso alle Figuren in diesem
       Buch selbst, und in puncto Beziehungsunfähigkeit wollen sie sich von
       niemandem etwas vormachen lassen.
       
       Im zwölften Kapitel gibt es auch dazu einen passenden Satz. Da ist von der
       „menschlichen Seele“ die Rede, „die lieber schmerzt und Schmerzen bereitet,
       als sich zu langweilen“. Das ist zwar auf den israelisch-palästinensischen
       Konflikt bezogen, kann man aber ohne große Probleme auf alle Beziehungen in
       dem Buch anwenden.
       
       Gleichzeitig kann ich dieses zwölfte Kapitel aber für Leute, die sich
       fragen, ob dieses Buch etwas für sie ist, als Anlesetipp empfehlen (ab
       Seite 160). In ihm erscheinen die Ebenen nicht nur jongleurhaft
       übereinandergeschichtet, sondern tatsächlich aufeinander bezogen. Soli
       betritt die Prager Wohnung seiner Kindheit. Seine Halbschwester kocht für
       ihn. Sie unterhalten sich darüber, wie es für sie war, zu erfahren, dass
       ihr sozialer Vater nicht ihr richtiger Vater war. Soli sieht sich selbst in
       Werbeplakaten für seine Bücher („Ihr wollt nur unsere goldenen Eier“, „Post
       aus dem Holocaust“) gespiegelt, die seine Mutter im Flur aufgehängt hat.
       Erinnerungen an einen Ausflug nach Jerusalem mit seinem Jugendfreund Noah
       spielen hinein, in dem sie an der Klagemauer standen und kein großes Gefühl
       in sich entdecken konnten.
       
       Zugleich nimmt hier die Erzählweise etwas Achtsames an. An vielen Stellen
       bis dahin bleibt die Tragikomik Behauptung. Aber in diesem zwölften Kapitel
       lässt sich tatsächlich spüren, was für eine Überforderung es ist, als
       Nachgeborener dieses schreckliche 20. Jahrhundert auf dem Rücken zu haben.
       Mal weitersehen. [7][DIRK KNIPPHALS]
       
       ***
       
       Teil 1 
       
       Dickes Ich-zeig's-euch-jetzt-mal-Buch. Schwerste Themen wie Holocaust und
       Sex. Ich habe Maxim Billers neuen Roman „Biografie“ (Kiepenheuer & Witsch,
       896 Seiten, 29,99 Euro) aufgeschlagen, wie man eine Aufgabe angeht, um die
       man sich nicht drücken kann: mit einem Seufzer. Und? Mit dem Lesen
       anzufangen hat zu meiner eigenen Überraschung Spaß gebracht. Von da her
       entstand die Idee: die Sache leicht anzugehen, soweit möglich, und einen
       wöchentlichen Lektürebericht abzuliefern. Im besten Fall wird eine
       Besprechung in progress draus, mal sehen. Dies ist die erste Folge.
       
       Woraus ergab sich der Spaß am Anfang? Gar nicht so sehr aus den einzelnen
       Pointen und Anstreichsätzen, deren waghalsigen Witz auch die skeptischen
       Kritiker loben. Sondern eher aus der Überforderung, die sich aus ihrer
       Überfülle ergibt. Mit Namen wie Tal „The Selfhater“ Shmelnyk wird so um
       sich geworfen wie mit Tarantino-Anspielungen, SM-Kalauern und Bonmots
       (“Dass für ihn Gewalt plus Ständer gleich Liebe war, begriff er erst auf
       Sardinien“).
       
       Und allmählich stellt sich die Situation scharf, die geschildert wird. Eine
       Silvesterparty 2005 in Berlin, oversexte Figuren aus dem Kreativmilieu
       versuchen, sich gegenseitig zu beeindrucken.
       
       Mit einer zunächst unlesbar wirkenden Sprachwand konfrontiert zu sein, aus
       der sich Figuren und Handlungen herausschälen, kann (Pynchon, David Foster
       Wallace) ein lustvoller Vorgang sein. Und spätestens wenn das Stichwort ADS
       fällt – die Figuren werfen sich vor, am Aufmerksamkeitsdefizitsyndromzu
       leiden – gönnt einem der Roman auch einen Aha-Effekt. Diese
       Charakterisierung trifft auch auf die Erzählweise zu: Prosa auf ADS, die
       Sätze können einfach nicht ruhig sitzen. Das ist bei Figuren, die
       gleichzeitig ungeheuer nach Aufmerksamkeit strampeln, von einigem Witz. Mal
       sehen, wie es weitergeht.
       
       [8][DIRK KNIPPHALS]
       
       8 Apr 2016
       
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