# taz.de -- Auschwitz-Wachmann verurteilt: Das kleine Rädchen
       
       > Der Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning wird zu fünf Jahren Haft
       > verurteilt. Umfassend geht die Richterin auf die Schrecken des Lagers
       > ein.
       
 (IMG) Bild: „Eine gerechte Strafe überfordert jedes Gericht“: Reinhold Hanning bei der Urteilsverkündung
       
       DETMOLD taz | Der 95-jährige Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum sitzt
       am Freitag in der ersten Reihe des Detmolder Landgerichts, neben sich drei
       weitere Menschen, die die Hölle des Vernichtungslagers überstanden haben.
       „Ich erwarte, dass der Angeklagte verurteilt wird“, sagt er, und weiter:
       „Es ist aber nicht wichtig, dass er ins Gefängnis kommt.“
       
       Einige Minuten später verkündet Richterin Anke Grudda dieses Urteil über
       Reinhold Hanning, 94 Jahre alt und von 1943 bis 1944 SS-Wachmann in
       Auschwitz. Es lautet auf fünf Jahre Freiheitsentzug wegen Beihilfe zum
       Mord. Hanning nimmt das Urteil scheinbar unbewegt zur Kenntnis. Bei der
       Begründung hält er entgegen seinen Gepflogenheiten an diesem 20. und
       letzten Verhandlungstag den Kopf gehoben.
       
       Hanning habe durch seine Tätigkeit in Auschwitz den „Massenmord gefördert“,
       sagt Grudda. Sie geht auf die Befehlshierarchie in dem Lager ein, wo bis zu
       7.000 SS-Männer eingesetzt wurden, und spricht den Angeklagten direkt an:
       „Eines der kleinen Rädchen“, die das Unfassbare möglich gemacht hätten,
       „waren Sie“. Allerdings wirft sie Hanning zugleich vor, zu einer Kerntruppe
       unter den Wachmannschaften gehört zu haben, in der der Angeklagte eine
       „hervorgehobene Stellung in der KZ-Hierarchie“ eingenommen habe. Grudda
       hält Hanning vor, er habe „Kenntnis von dem Vernichtungsgeschehen“ gehabt
       und er hätte sich, „wenn Sie es gewollt hätten, zur Front melden können“.
       
       Als strafmildernd bewertet das Gericht Hannings Geständnis, seine
       Entschuldigung sowie sein junges Alter zur Tatzeit ebenso wie sein hohes
       Alter zum Zeitpunkt des Urteils. Richterin Grudda sagt aber auch angesichts
       der Dimension des Massenmordes in Auschwitz mit mindestens 1,1 Millionen
       Todesopfern: „Eine gerechte Strafe überfordert jedes Gericht.“
       
       Die Urteilsbegründung geht ausführlich auf die Grausamkeiten in Auschwitz
       ein. Das Verhungernlassen habe ebenso zum Alltag gehört wie das Erschießen
       von Gefangenen. „Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen vor
       Ihren Augen verhungerten“, sagt die Richterin Hanning zugewandt.
       
       ## Möglichkeiten für weitere Verfahren
       
       Die Bewertung dieses Verhaltens als Beihilfe zum Mord ist in einem
       deutschen Strafprozess neu. Sie könnte zu weiteren Prozessen gegen NS-Täter
       führen. Die jüngsten Verfahren waren davon ausgegangen, dass wegen Beihilfe
       zum Mord nur verurteilt werden kann, wer in einem Vernichtungslager tätig
       war, weil nur dort alle Insassen planmäßig ermordet wurden. Das
       Hanning-Urteil aber eröffnet Möglichkeiten zu Verfahren auch gegen
       KZ-Wärter, denn auch in KZs starben die Gefangenen in großer Zahl infolge
       der Haftbedingungen.
       
       Ungewöhnlich deutlich ging die Richterin auf das Versagen der
       bundesdeutschen Justiz nach dem Krieg ein. Damals hätten sich Politik,
       Justiz und Gesellschaft nicht mit den Geschehnissen beschäftigen wollen,
       sagte sie. „Statt als Täter sahen sich die Deutschen als Opfer.“ Es sei das
       Mindeste, was die Justiz den Überlebenden schuldig sei, die Täter zu
       verfolgen.
       
       Die Staatsanwaltschaft hatte für Hanning sechs Jahre Haft verlangt, die
       Verteidigung auf Freispruch plädiert. Sie will in jedem Fall Rechtsmittel
       einlegen und eine Revision prüfen. Ob Hanning tatsächlich die Haft antreten
       muss, ist noch offen.
       
       Und Leon Schwarzbaum, der Auschwitz-Überlebende? Er nennt das Urteil
       „gerecht“.
       
       Seit Jahren war bei Auschwitz-Prozessen immer wieder die Rede davon, das
       jeweilige Verfahren könnte das „allerletzte“ gewesen sein. Mit dem
       Detmolder Prozess könnte nun tatsächlich der Schlusspunkt erreicht sein.
       Einem weiteren Verfahren in Neubrandenburg droht die Einstellung, das
       Landgericht Kiel musste die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten zur
       Kenntnis nehmen. Und in Hanau starb der angeklagte ehemalige SS-Wachmann
       nur wenige Tage vor Prozessbeginn. Das biologisch bedingte Ende der
       NS-Prozesse infolge des Alters der Verantwortlichen naht.
       
       17 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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