# taz.de -- Debatte Geburt und Familie: Gebärende haben keine Lobby
       
       > Die Geburt ist das prägendste Ereignis im Leben, aber nur selten schön.
       > In der deutschen Geburtshilfe ist noch Luft nach oben.
       
 (IMG) Bild: Ob sich eine Geburt gut anfühlt, darf nicht länger Glücksache sein
       
       Zum Thema Familiengründung und -alltag ist viel gesagt und geschrieben
       worden. Nur die Umstände, unter denen Frauen Kinder gebären, scheinen kaum
       der Rede wert. Während ein würdevolles Lebensende unter großer
       Medienanteilnahme die Zentrale Ethikkommission beschäftigt, kämpft für
       einen würdevollen Beginn [1][eine Handvoll kleiner Organisationen] oder
       [2][ein winziges Bundesland wie Bremen], weitgehend von der Öffentlichkeit
       unbemerkt.
       
       Hin und wieder ein Artikel über die Kaiserschnittrate, eine Anfrage im
       Bundestag über die Arbeitsbedingungen von Hebammen – ansonsten bleibt die
       Auseinandersetzung um Geburten Privatsache. Dabei gestalten sich die
       Gespräche schwierig, das Verletzungsrisiko ist groß. Anstatt sich ehrlich
       auszutauschen, nehmen die meisten sofort eine Verteidigungshaltung ein:
       „Das war ein Not-Kaiserschnitt, wir wären sonst gestorben!“ Oder: „Zu Hause
       gebären ist nicht unsicher, wenigstens wird einem dort das Kind nicht
       weggenommen, weil es sich mit Krankenhauskeimen infiziert hat!“
       
       Solche Diskussionen kommt über das Individuelle nicht hinaus. Dabei zeigen
       fast alle persönlichen Erzählungen, dass in der deutschen Geburtshilfe Luft
       nach oben ist. Und das vor allem dort, wo über 98 Prozent aller Geburten
       stattfinden: im Krankenhaus. Oder wie viele Frauen und Paare kennen Sie,
       die sich nur aus einem Grund für die Klinik entschieden haben: Weil sie
       gehört oder erlebt haben, dass es sich dort selbstbestimmt und in Ruhe
       gebären lässt?
       
       ## Momente der Bevormundung
       
       Ich habe den Satz, „Das war einfach schön“ genau einmal gehört. Von einem
       Paar, das die Geburt im Geburtshaus abbrechen musste. Alle anderen
       berichten von Momenten der Bevormundung, der Hektik, des
       Alleingelassenwerdens. Auffallend oft erst Monate oder Jahre später. Dann
       sprechen Frauen über das Gefühl, versagt zu haben – als Gebärende oder
       Stillende. Dann erzählen sie von der Hebamme, die ihnen trotz einsetzender
       Wehen befahl, die geburtseinleitende Pille zu schlucken. Vom Arzt, der
       einen Blick auf das Geschehen warf und befand „OP – hat keinen Zweck“.
       
       Bei manchen setzt die Ernüchterung auch erst auf der Wochenbettstation ein:
       Wenn die Kinderkrankenschwester sie anschnauzt, weil sie das Neugeborene
       noch nicht gewickelt haben. Und dann gibt es noch diejenigen, die die
       Geburt ihres Kindes als blanken Horror in Erinnerung haben. Wie viele davon
       regelrecht traumatisiert sind, dazu gibt es nicht einmal Schätzungen.
       
       Mit Sicherheit sind Extremfälle, bei denen die Betroffenen sich ohnmächtig
       und entwürdigt erleben, die Ausnahme. Und nur sehr wenig geschieht aus
       böser Absicht. Oft schaut das Klinikpersonal aus Angst und Überforderung
       mehr auf Zeit- und Maßeinheiten als auf die Frau oder die neue Familie. Und
       ja, heute ist vieles besser als in den 60er und 70er Jahren, als sich die
       Klinik als Geburtsort etablierte. Heute dürfen Familien zusammenbleiben,
       die Räume sind gelborange getüncht, es gibt Stillbeauftragte, Gebärwanne
       und Aromaöl-Massagen.
       
       Dass aber in vielen Kliniken ÄrztInnen ein Drittel bis die Hälfte der
       Frauen in den OP schicken, steht nicht auf deren Internetseiten. [3][Dabei
       gibt es Häuser, die beweisen, dass es anders geht.] Zudem müssen Hebammen
       häufig zeitgleich drei oder mehr Gebärende begleiten. In Deutschland ist
       vorgeschrieben, wie viele Kinder eine Erzieherin betreuen darf, aber nicht,
       welcher Personalschlüssel im Kreißsaal unverantwortlich ist. Weil die
       Kassen für Geburten wenig zahlen und Hebammen Mangelware sind, kommen auf
       eine Hebamme jährlich 64,35 Geburten – einen schlechteren Schlüssel haben
       nur Spanien und Zypern. In Schweden sind es 14,2. Kaiserschnittrate? 17
       Prozent. Und nein, [4][dort sterben nicht mehr Säuglinge als in
       Deutschland]. Sondern weniger.
       
       Es gibt noch mehr messbare Indikatoren dafür, dass in deutschen Kreißsälen
       nicht alles rund läuft. Etwa die fehlende Vielfalt an Gebärpositionen. Eine
       auf dem Bett liegende Frau ist praktisch für die GeburtshelferInnen. Doch
       mangelnde Bewegung – auch ausgelöst durch Betäubungen wie die PDA – kann
       die richtige Drehung des Kindskopfs ins Becken verhindern und den Einsatz
       einer Saugglocke oder einen Kaiserschnitt notwendig machen. Zudem ist die
       Verletzungsgefahr in Rückenlage signifikant erhöht. [5][Dennoch gebaren
       2014 in horizontaler Lage: 80 Prozent aller Frauen.] Viermal so viel wie im
       Vergleichszeitraum in der [6][außerklinischen Geburtshilfe]. Kein Wunder,
       dass das passive Verb „entbinden“ sehr viel häufiger verwendet wird als das
       aktive „gebären“.
       
       Und obwohl bekannt ist, dass medizinische Eingriffe wie Einleitungen und
       Betäubungen den Verlauf einer Geburt oft nicht erleichtern, sondern im
       Gegenteil erschweren, werden sie routinemäßig eingesetzt.
       
       ## Preis für ein gesundes Kind
       
       Dass sich dagegen keine größeren Proteste erheben, hat damit zu tun, dass
       eine Geburt nur ein kurzer Moment im Leben ist, kein anhaltender Zustand.
       Vor allem aber glauben Eltern, einen Preis zahlen zu müssen, wenn sie mit
       einem gesunden Kind nach Hause gehen wollen. In Ermangelung anderer Rituale
       ist für werdende Eltern, wie Paula-Irene Villa in ihrem klugen taz-Essay
       „[7][Geburt ohne Spuren]“ dargelegt hat, ärztliches Handeln das magische
       Amulett. Mit dem wappnen sie sich dagegen, dass Geburten unberechenbar sind
       und sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen.
       
       Es geht nicht darum, diese medizinischen Praktiken ganz zu verwerfen. Das
       will keine Hebamme, die eine Frau in ihrer Fähigkeit bestärkt, ein Kind aus
       eigener Kraft zu gebären. Und wenn sie einer Frau von einem Kaiserschnitt
       oder einer PDA abrät, dann nicht, [8][weil sie einem „antimodernen“
       Glauben] an die Natur anhängt. Sondern weil sie um die wissenschaftlich
       belegten Vorteile der „natürlichen“ Geburt weiß.
       
       Es darf nicht länger Glückssache sein, ob sich eine Geburt – allen
       Scheißschmerzen zum Trotz – gut anfühlt. Selbst wenn sie ganz anders
       verlaufen ist als geplant, auch wenn es schwierig war, vielleicht
       haarscharf an der Katastrophe vorbeischrammte: Eine Geburt ist der
       wahrscheinlich bewegendste und einschneidenste Moment im Leben. Es reicht
       nicht, wenn der nur „okay“ war.
       
       Mehr Texte aus der Reihe „Familienangelegenheiten“ finden Sie unter
       [9][www.taz.de/Familie]
       
       27 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.akf-kaiserschnitt-kampagne.de/cms/
 (DIR) [2] http://www.natuerlichegeburt.net/
 (DIR) [3] /Gesundheit/!5064378
 (DIR) [4] http://www.gbe-bund.de/pdf/Kap_1.4.4_Saeuglingssterblichkeit.pdf
 (DIR) [5] https://sqg.de/front_content.php?idart=119
 (DIR) [6] http://quag.de/quag/publikationen.htm
 (DIR) [7] /Essay-Zur-Welt-Bringen-in-der-Gegenwart/!5205076
 (DIR) [8] /Kolumne-Nach-Geburt/!5304420
 (DIR) [9] /Familie
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eiken Bruhn
       
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