# taz.de -- Türkische Diaspora in Deutschland: Die Namenlosen von küçük Istanbul
       
       > Deutschland ist eine Erdoğan-Bastion. Die einen schwärmen für ihn,
       > kritische Stimmen verstummen. Ein Stimmungsbild aus Berlin.
       
 (IMG) Bild: Viele Türken folgten dem Aufruf des türkischen Präsidenten, gegen den Putsch in der Türkei zu demonstrieren, hier am 16. Juli in Berlin
       
       BERLIN taz | Ein grauer Donnerstag im August vor der Şehitlik-Moschee in
       Berlin-Neukölln. Ein Sarg wird durch den Nieselregen getragen. „Wir sind
       aus Respekt gekommen“, sagt Yasin Rüzgar.
       
       „Tayyip“, er nennt Erdoğan stets beim Vornamen, „hat uns endlich wieder
       Kraft gegeben. Uns hier in Deutschland nennt er seine Kinder. Er hat uns
       nicht vergessen.“ Hinter Yasin Rüzgars Bart versteckt sich ein knochiges
       Gesicht mit einer großen Nase. Die Gemeinde, die Deutschtürken, hier ist er
       zu Hause. Berlin, sie nennen es küçük İstanbul, das kleine Istanbul.
       
       Eine Bekannte der Familie ist gestorben. Krebs. Der junge Mann und seine
       Angehörigen verweilen noch in der Menschentraube vor der Moschee. Man nickt
       sich zu, eine Frau bricht lautstark in Tränen aus.
       
       ## Gülen-Anhänger unerwünscht
       
       Die Religion spendet hier Trost. Doch nicht alle sind heute willkommen. An
       der Şehitlik-Moschee hing noch vor einigen Tagen ein Zettel am schwarzen
       Brett: „Gülen-Anhänger unerwünscht“. Viele Trauergäste gehören zu den
       Unterstützern des türkischen Staatspräsidenten, der seinen einstigen
       Verbündeten Fethulah Gülen für den Putsch vom 15. Juli verantwortlich
       macht. Betreiber des Gotteshauses wiederum ist die Türkisch-Islamische
       Union der Anstalt für Religion (DİTİB), die der türkischen Regierung
       untersteht.
       
       Auch Yasin Rüzgar hat wie 340.000 Türken in Deutschland im vergangenen Jahr
       für die Regierungspartei AKP gestimmt. 1,5 Millionen der 3 Millionen hier
       lebenden Türkeistämmigen waren wahlberechtigt. Aufgrund der niedrigen
       Wahlbeteiligung bedeutete dies, dass fast 60 Prozent der abgegebenen
       Stimmen an die AKP gingen. In keinem Land auf der Welt gab es mehr Prozente
       für die türkische Regierungspartei als hierzulande. Deutschland, eine
       Bastion Erdoğans.
       
       ## Die ehemalige Betriebsrätin
       
       Montag, 14.10 Uhr, am Kottbusser Tor. Fast jeden Tag kommt eine 72-Jährige
       in das Café Simitdchi. Roter Lippenstift, kurze Haare, klein, zart. „Ich
       habe schon viele Parteien kommen und gehen sehen.“ Seit mehr als 50 Jahren
       lebt die gebürtige Istanbulerin in Kreuzberg. Sie gehört zur ersten Gruppe,
       die damals als Gastarbeiterinnen nach Berlin kam. Auf ihrem Tablett: zwei
       türkische Sesamkringel und ein Çay. „Ich hab genug von der Politik“, sie
       lächelt. Betriebsrätin war sie. Als Benno Ohnesorg erschossen wurde, da war
       sie dabei. „Auf Pferden kam die Polizei. Kann man sich nicht vorstellen.“
       Jetzt will sie etwas Ruhe. 
       
       Die Alt-68erin gehört zu den 2,6 Millionen Türkeistämmigen, die im Herbst
       vergangenen Jahres nicht ihre Stimme der AKP gegeben haben. 
       
       Der psychologische Druck auf die Opposition hat längst auch Berlin
       erreicht. In der türkischen Community wurde per WhatsApp eine Liste
       verschickt, auf der Geschäfte stehen, die angeblich mit Gülen in
       Zusammenhang stehen und die man deshalb boykottieren solle. Die Frau, auf
       die die Kettennachricht zurückgeführt wird, soll Kontakt zur türkischen
       Regierung haben.
       
       Deutschtürken, die sich in der Öffentlichkeit kritisch zur Regierung
       äußern, bangen um ihre Familien in der Türkei. Viele bekommen täglich
       Hassnachrichten und Morddrohungen. Am Telefon redet man nicht mehr über
       Politik, weil man Angst vor einer Abhörung hat.
       
       ## Bürger zweiter Klasse
       
       Yasin Rüzgar sitzt auf einer Bank im Park Tempelhof. Er redet gern über
       Politik. Swipt er auf seinem Handy nach links, finden sich Meldungen von
       Spiegel Online und Welt. Und er liest Bücher von Jürgen Todenhöfer. „Bürger
       zweiter Klasse bin ich hier.“ Bei Vorstellungsgesprächen habe er immer
       Absagen bekommen. In seiner Klasse saßen ausschließlich Deutschtürken.
       
       Yasin Rüzgar besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft. Er ist in Berlin
       geboren. Am Tag des islamistischen Anschlages in Würzburg saß er neben
       einem vollbärtigen Palästinenser in der U-Bahn. Einige wechselten die
       Plätze. „Angst haben sie vor uns.“ Der „Islamische Staat“ ist der
       Antiislam, sagt Yasin Rüzgar.
       
       ## Der Geheimdienst hört mit
       
       Freitag, 11.30 Uhr, in einem Kiosk in Kreuzberg. „Fragen nach Erdoğan
       machen uns Probleme. Der türkische Geheimdienst ist hier unterwegs.“ Der
       Besitzer ist kurdischer Abstammung. Er will sich nicht äußern. Kein Name. 
       
       Deutsche Freunde hatte Yasin Rüzgar noch nie. Er habe sich immer fremd
       gefühlt in dem Land, in dem er aufgewachsen ist. In der U-Bahn klatscht er
       im Vorbeigehen Freunden die Hände, in seinem Kiez kennt er alle. Und nach
       drei Jahren in Ankara ist er freiwillig aus der Türkei zurück nach Berlin
       gekommen. Aber Deutscher? Ist er nicht, wie er sagt.
       
       „Mit Hubschraubern haben sie auf uns geschossen“, sagt er. „Wir“, damit
       meint er die Millionen Türken, die sich am 15. Juli auf den Straßen der
       Türkei dem Militär entgegengestellt haben. Der Student saß in der Nacht des
       gescheiterten Putschs in Berlin vor dem Fernseher. Auf seinem iPhone zeigt
       er Videos von der Horrornacht. Auch Erdoğan spricht: „Meine Schwestern,
       meine Brüder“. – „Wie er liest. Ich kriege Gänsehaut“, schwärmt Yasin
       Rüzgar. Ein Teil seiner Familie lebt in Ankara. Ein Bekannter ist in der
       Nacht niedergeschossen worden. In den Stunden des Putschs starben 172
       Zivilisten, 63 Polizisten und fünf Soldaten. Für Yasin Rüzgar sind sie
       Märtyrer.
       
       ## „Wir sind Arbeiter“
       
       „Die deutschen Medien sprechen von den Verhaftungen. Wenn sich das
       türkische Volk gegen eine Militärdiktatur wehrt, dann wurde die Demokratie
       doch gerettet.“ Die deutsche Politik findet er heuchlerisch.
       
       Montag, 16.30 Uhr, in Kreuzberg. Fünf Rentner versammeln sich wie jeden Tag
       zum Spielen. „Okey“ heißt ihr Spiel, eine Art Rommé mit Steinen. Von den
       fünf Tischen im glanzlosen Teppichcafé ist nur einer besetzt. Hinterm
       Tresen stehen zwei Frauen. An der Wand hängen Bilder von anatolischen
       Dörfern. Der Aschenbecher ist fast leer. Die Männer lachen viel beim
       Spielen. „Mit Erdoğan haben wir nichts zu tun“, sagt einer. Auch sie wollen
       ihre Namen nicht nennen. „Wir sind Arbeiter.“ 
       
       Yasin Rüzgar hat Wut im Bauch. Gegen die Deutschen, die ihn nie ernst
       nehmen würden, gegen die Schule, in die er ging, und auch gegen die
       Gülenisten, denen er selbst einst folgte: „Das ist eine Sekte. Schlimmer
       als die Salafisten.“ Seine Stimme zittert euphorisch.
       
       ## Aufstieg durch Bildung
       
       Drei Jahre blieb Yasin Rüzgar in Ankara, um sein Abitur zu machen. Als er
       noch das Robert-Koch-Gymnasium in Berlin besuchte, nahm er auch die
       Nachhilfe der Gülen-Bewegung in Anspruch.
       
       Yasin Rüzgar gehört zur dritten Generation. Sein Großvater kam Anfang der
       70er Jahre aus dem Dorf Danacı nahe Ankara nach Deutschland, schuftete im
       Trockenbau. Yasin Rüzgars Vater ist Baggerfahrer, seine Mutter arbeitet bei
       der AWO und hilft dort Flüchtlingen. Eine fleißige Arbeiterfamilie mit
       einem Sohn, der es zum Studium der Wirtschaftsinformatik gebracht hat.
       
       „Aufstieg durch Bildung“ verspricht die Hizmet-Bewegung, wie sich die
       Gülen-Anhänger auch nennen. „Fetto, der Fette“ nennt Rüzgar den Begründer
       Fethullah Gülen. „Die haben dort immer von Fetto gesprochen. Aber warum
       haben wir ihn nie gesehen?“
       
       Yasin Rüzgars Familie hatte wie viele auch die Zeitungen der Organisation
       abonniert, als Schüler fuhr er auf Seminare ins Brandenburgische. Zum Beten
       und für den Islamunterricht sei man dort in den Keller gegangen. Wer dabei
       war, dem wurde durch die Schule geholfen. Präsident Erdoğan hat Yasin
       Rüzgar und seiner Familie vor einigen Jahren die Augen geöffnet. Der neue
       Feind, der Bruch. Alle Zeitungen und Bücher landeten im Müll. In der Türkei
       wird die Gülen-Literatur dieser Tage massenhaft verbrannt.
       
       ## Der reisende Student
       
       Mittwoch, 18.30 Uhr, im Café Kotti in Kreuzberg. Durch ganz Europa ist ein
       Student aus Ankara gereist. Berlin findet er toll, er will länger bleiben.
       Sein Handyhintergrund zeigt Lenin vor rotem Hintergrund. Der 22-Jährige
       zeigt Bilder aus Prag, aus Barcelona. Er selbst bezeichnet sich als Laz –
       eine in der Türkei nicht anerkannte Minderheit am Schwarzmeer. Seine
       Prognose: „In fünf Jahren ist Erdoğan weg.“ Er erzählt von seiner
       kommunistischen Partei und von guten Professoren, die in den letzten zwei
       Jahren ihre Lehrstühle auf Anweisung der AKP-Regierung räumen mussten. Der
       Reisende bittet darum, seinen Namen nicht zu veröffentlichen. 
       
       Mehr als 80.000 Staatsbedienstete sind seit dem Putsch in der Türkischen
       Republik suspendiert worden. „Alles Verräter“, meint Yasin Rüzgar.
       
       Am Ufer des Landwehrkanals dreht sich Yasin Rüzgar eine Zigarette. „Im
       Islam jemanden fertigzumachen ist etwas Falsches“, sagt er zu der Jagd auf
       die Gülen-Bewegung. Tayyip aber habe die Türkei doch vereint.
       
       Donnerstag, 14.30 Uhr, am Halleschen Tor. Vor dem Verein Dersim stehen fünf
       junge Aleviten. „Vier Stunden Ausgangssperre in Istanbul in der
       Putschnacht. In Dersim haben wir das seit Jahren.“ Von der Gülen-Säuberung
       bleiben sie verschont. „Wir sind nicht die Putschisten, wir sind die
       Terroristen in Erdoğans Augen.“ Man solle ihre Namen nicht in die Zeitung
       schreiben, bitten sie. 
       
       ## Der Tod ist relativ
       
       Falls es zur Abstimmung über die Todesstrafe kommt, will Yasin Rüzgar dafür
       stimmen – der Tod sei doch etwas Relatives.
       
       Das sagte Yasin Rüzgar schon auf der Trauerfeier vor der Moschee in
       Neukölln: „Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Der Tod ist kein
       Ende. Er ist ein Anfang.“
       
       Tayyip Erdoğan sagt, der 15. Juli sei der Anfang der türkischen Nation.
       Endlich habe man die antidemokratischen Kräfte entlarven und zerstören
       können. Die Nation habe sich erfolgreich gewehrt. Auch Yasin Rüzgar ist
       sich sicher: „Das ist der Anfang der Demokratie.“
       
       27 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Timo Lehmann
       
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