# taz.de -- Das Gesicht der Piraten in Island: Eigensinnig und ganz weit vorne
       
       > In anderen Ländern Europas schmiert die Piratenpartei ab. In Island wird
       > Birgitta Jónsdottír vor der Wahl sogar als Regierungschefin gehandelt.
       
 (IMG) Bild: Birgitta Jónsdottír
       
       Die blauen Strähnen in ihrem Haar sind zwar längst herausgewachsen.
       Birgitta Jónsdóttir gelingt es dennoch, Althing, Islands Parlamentsgebäude,
       ein wenig bunter zu machen. In ihrem weißen Hippiekleid aus Baumwollstoff
       und dem dunkelblau bestickten Kurzmantel entspricht die 49-jährige
       Jónsdóttir so gar nicht dem Bild der klassischen Politikerin.
       
       Aber seit mittlerweile sieben Jahren ist sie Abgeordnete, vier davon
       Hauptfigur der isländischen Piratenpartei. Jónsdóttir, die zuvor
       Pressesprecherin der Enthüllungsplattform Wikileaks war, nennt sich selbst
       eine „Poetician“, eine Polit-Poetin. Lyrik sei ihre wahre Leidenschaft,
       sagt sie. In der Tat hat sie schon diverse Gedichtbände veröffentlicht. Das
       tägliche Polit-Klein-Klein liege ihr nicht, sagt sie. Ein Narrativ vom
       Nicht-Politiker, das auch die deutschen Piraten immer wieder gerne bemühen.
       
       Die Umfragen sagen Gutes für Jónsdóttir voraus: Die Piraten könnten laut
       den Erhebungen bald die Regierung anführen – sogar vielleicht mit
       Jónsdóttir als Regierungschefin.
       
       Islands wurde in den letzten Jahrzehnten von Konservativen regiert. 2008
       dann traf die Wirtschaftskrise das kleine Land hart. Als 2016 die Panama
       Papers veröffentlicht wurden, wurde die isländische Politik erneut
       erschüttert. Die veröffentlichen Unterlagen legten offen, dass hochrangige
       Politiker Steuerhinterziehung betrieben hatten.
       
       ## Partei ohne Altlast
       
       „Die Menschen sind wütend und frustriert“, sagt Karl Blöndal,
       stellvertretender Chefredakteur der konservativen isländischen Zeitung
       Morgunbladid. „Für viele Wähler sind die Piraten derzeit die einzige
       unbefleckte Partei. Birgitta war seit dem Crash das Gesicht der
       Opposition.“
       
       Seit die Piraten vor über einem Jahr begonnen haben, in den Umfragen
       zuzulegen, zierte sich Jónsdóttir, wenn es um die Frage geht, ob sie das
       Amt der Regierungschefin übernehmen will. Dazu muss man wissen: Islands
       Piratenpartei hat seit Anfang des Jahres in den Umfragen wieder einiges an
       Zustimmung eingebüßt. Derzeit liegt sie gleichauf mit der regierenden
       liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei und den oppositionellen
       Links-Grünen. Jónsdóttirs angestreber Posten sei der der
       Parlamentspräsidentin, sagt sie selbst. Ein Amt, aus dem heraus sie ihre
       Energie in die Gesetzgebung investieren könne – und darin, den Menschen
       Politik näher zu bringen.
       
       „Wir kämpfen für einen grundlegenden demokratischen Wandel“, sagt
       Jónsdóttir in ihrem Parlamentsbüro. An der Wand hängt ein „Freiheit für
       Bradley Manning“-Poster – Chelsea Mannings Haare sind mit Filzstift
       dazugemalt -, ein Bild des Dalai Lama und eine sehr große schwarze Flagge,
       die einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen zeigt – das Symbol der Piraten.
       Auf dem obersten Regalbrett thront ein rotes Megaphon.
       
       Obwohl die isländischen Piraten derzeit nur drei der insgesamt 64
       Parlamentssitze inne haben, ist die Partei hier so stark im Parlament
       vertreten wie sonst nirgendwo in Europa. Sie waren die weltweit ersten
       Piraten, die überhaupt in Fraktionsstärke in ein nationales Parlament
       einzogen.
       
       ## Asyl für Edward Snowden
       
       Gleichwohl wollen Jónsdóttir und ihre Partei mehr sein als nur die direkte
       Demokratie-Bewegung, die sie auf der Insel anführen. Für sie ist Island ein
       „Testlauf für eine radikale Umbruchsbewegung“. Die Partei tritt dafür ein,
       die Whistleblowing-Plattform Wikileaks international zu legalisieren. Auch
       fordern sie Asyl für Edward Snowden und wollen Drogen legalisieren. Sie
       planen außerdem, das winzige Island zu einem Datensicherheitsparadies zu
       machen, zu einem Ort, an dem Whistleblower ihre Enthüllungen gefahrlos
       übermitteln und aufbewahren können.
       
       Auf lokaler Ebene experimentieren Islands Piraten damit, BürgerInnen an der
       Finanzverwaltung und der Gesetzgebung ihrer Städte zu beteiligen –
       Stichwort Liquid Democracy. Ihr Vorbild nährt ein internationales Netzwerk
       von horizontal denkenden lokalen Verwaltungen und eine weltweite
       Graswurzelbewegung für digitale Demokratie. Islands Piraten sind inhaltlich
       breit aufgestellt. Sie fordern ein Grundeinkommen und radikale Schritte bei
       der Bekämpfung des Klimawandels. So ist ihnen das Schicksal anderer
       europäischer Piratenparteien, die weniger breit aufgestellt waren, – die
       deutsche zum Beispiel – bislang erspart geblieben.
       
       Trotzdem sind die Piraten keine klassisch linke Partei. „Wir wollen keinen
       bevormundenden Staat, wie viele andere traditionell linke Parteien in
       Skandinavien“, sagt Jónsdóttir. „Aber wir wollen die Menschen ermächtigen.“
       Ob nun links oder nicht, Islands Piarten planen auch, die Steuern für
       Reiche zu erhöhen und konnten so in der Vergangenheit grüne und
       sozialdemokratische Wähler für sich gewinnen.
       
       ## Industriezweige verstaatlichen
       
       Das zentrale Wahlkampfthema der Piraten ist die Forderung einer
       Verfassungsreform. Zu Beginn der Wirtschaftskrise 2008 erarbeitete die
       Crowd einen Verfassungsentwurf, zusammengestellt von rund 1000 zufällig
       ausgewählten BürgerInnen und einem sehr viel kleineren Kommitee, das ihn am
       Ende formulierte. Der Entwurf enthält Bestimmungen, nach denen
       Industriezweige, die auf natürlichen Rohstoffen basieren, wieder
       verstaatlicht werden sollen und sieht die Einführung einer Bürgerregierung
       vor. Zwar trage die aktuelle Verfassung nicht die alleinige Schuld an den
       isländischen Korruptionsfällen, sagt Jónsdóttir. Sie habe jedoch möglich
       gemacht, dass Politiker Einnahmen am Finanzamt vorbei schleusten und die
       Vetternwirtschaft begünstigt.
       
       Sowohl Islands turbulente Politik als auch der überraschende Erfolg der
       Piraten sind Folgen der Finanzkrise 2008 und der Schockwellen, die sie nach
       sich zog. Ein Jahrzehnt zuvor hatte sich Island noch als wirtschaftliches
       laisser-faire-Märchen inszeniert. Nachdem exzessiv geliehen und investiert
       worden war, senkten Islands Politiker die Steuern, lockerten die
       Bankenregulierung und privatisierten Fischereibetriebe,
       Telefongesellschaften, Energiekonzerne und Banken. Zwischen 2002 und 2008
       stieg Islands Aktienvolumen um 900 Prozent.
       
       Als ausländische Kredite fällig wurden, fiel alles wie ein Kartenhaus in
       sich zusammen. Islands Inlandsverschuldung lag bei 160.000 Euro pro Kopf.
       Die Staatsfinanzen – ein finanzielles Desaster von epischem Ausmaß. Über
       Nacht wurde das gesamte Land in einen Strudel eingesogen: Die
       Arbeitslosigkeit stieg, Tausende Unternehmen gingen pleite, junge Isländer
       flohen ins Ausland.
       
       Aber anders als im Rest von Europa und in den USA weigerten sich die
       Isländer, die Banken mit Hilfe von Steuergeldern zu sanieren. Statt der
       Finanzinstitute entschloss man sich, die BürgerInnen zu retten.
       Finanzkontrollen wurden implementiert, so dass kein Geld mehr das Land
       verlassen konnte. Parallel dazu wurde die soziale Absicherung ausgeweitet.
       
       ## Die Töpfe- und Pfannenrevolution
       
       Die Weigerung der Regierung zurückzutreten, löste die sogenannte Töpfe- und
       Pfannen-Revolution aus. Ein Viertel der Bevölkerung ging Nacht für Nacht
       auf die Straße und schlug dabei lautstark auf mitgebrachte Küchenutensilien
       ein, die ihre finanziell gestressten Haushalte symbolisieren sollten.
       Jónsdóttir marschierte an der Spitze mit, als Gründerin einer neuen Gruppe,
       die sich „Bürgerbewegung“ nannte. Nach dem Rücktritt der Regierung und
       Neuwahlen übernahm eine Koalition aus Links-Grünen und Sozialdemokraten die
       Macht – erstmals in der Geschichte Islands. Neue Ministerpräsidentin wurden
       Jóhanna Sigurðardóttir – die einzige Regierungschefin der Welt, die offen
       lesbisch lebte.
       
       Jónsdóttir zog als Vertreterin der Bürgerbewegung ins Parlament ein. Ihr
       Lebenslauf glich nicht dem einer typischen isländischen Politikerin:
       geboren 1967, die Mutter eine isländische Volkssängerin, ihr Stiefvater
       Fischer. Als Kind hatte sie in der Fischerei ihres Dorfes gearbeitet,
       später entdeckte sie Punkrock, Anarchismus und bewusstseinserweiternde
       Drogen. Mit 22 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband.
       Jónsdóttir ging auf Reisen. Zurück in Island tauchte die alleinerziehende
       Mutter von drei Kindern ins Internet ein und brachte sich selbst das
       Programmieren bei.
       
       2010 schließlich – da war Jónsdóttir bereits Abgeordnete und
       Digitalaktivistin – half sie Julian Assange dabei, geheimes Videomaterial
       eines Hubschrauberangriffs auf irakische Zivilisten in Bagdad aus dem Jahr
       2007 zusammenzustellen. Die Aufnahmen waren ihnen von einem IT-Spezialisten
       innerhalb der US-Streitkräfte zugespielt worden – von Chelsea, damals
       Bradley, Manning. [1][Das Video], das daraus entstand, wurde unter dem
       Titel „Collateral Murder“ veröffentlicht – und machte Wikileaks und ihren
       Kopf Julian Assange weltweit bekannt.
       
       ## Post-Panama-Papers
       
       Islands erste und womöglich auch letzte rot-grüne Regierung hielt genau
       eine Amtszeit. 2013 wurde sie aus dem Amt gejagt. Genau wie andere Staaten
       Europas, die unter ihrer großen Schuldenlast zu ersticken drohten, war auch
       die isländische Regierung versucht, sich dem strikten Austeritätsprogramm
       des Internationalen Währungsfonds zu unterwerfen und so die Rezession
       abzumildern. Die linke Regierung musste für diese Entscheidung büßen,
       obwohl sie die Niederlage im Grunde nicht verdient hatte. Noch viel weniger
       verdienten sie, von der konservativen Partei abgelöst zu werden – von genau
       den Übeltätern also, die für die finanzielle Bruchlandung des Landes fünf
       Jahre zuvor verantwortlich gewesen waren.
       
       Mitte April 2016 offenbarten dann die Panama Papers, dass Tausende private
       und öffentliche Personen an Offshore-Geschäften beteiligt waren. Darunter
       auch Islands Regierungschef Sigmundur Davíð Gunnlaugsson, der zuvor
       versprochen hatte, das Bankensystem zu reformieren. Wieder gingen die
       Isländer auf die Straße, so lange, bis Gunnlaugsson am 6. April zurücktrat.
       
       Nun stellt sich die Frage, ob der Erfolg der Piraten nur ein Strohfeuer
       ist. Ob es sich um eine Protestpartei handelt, für die die Menschen
       stimmen, weil sie mit dem den alten Parteien abrechnen wollen. Umfragen
       zufolge sinkt ihre Beliebtheit bei den Wählern seit Januar – was darauf
       schließe lässt, dass viele Isländer am Ende doch den traditionellen
       Parteien ihre Stimme geben werden, sobald sie in der Wahlkabine stehen.
       
       Obwohl die linken Parteien, etwa die Links-Grünen, den Piraten vorwerfen,
       in ihrem Programm zu vage zu bleiben und zu unerfahren zu sein, sind sie
       bereit, eine Koalition mit den Piraten zu bilden. In der Tat fiel es den
       Piraten zum Teil schwer, genügend wählbare KandidatInnen zu finden, um die
       Wahllisten füllen zu können. KritikerInnen sagen außerdem:
       durchschnittliche Isländer und Isländerinnen, die nicht in Reykjavíks
       Hipsterbars zu finden sind, hätten andere Sorgen als ein freies Internet
       und Snowdens Schicksal. Viele müssten sich darum sorgen, wie sie ihren
       Lebensunterhalt finanzieren.
       
       “Ich glaube, das Island bereit für einen echten Wandel ist“, widerspricht
       Jónsdóttir. “Wir haben ein Viertel der Isländer für die Piraten begeistert.
       Das ist schon ziemlich cool.“ In Griechenland, sagt sie, sei es Syriza am
       Ende nicht gelungen, die gewonnen Macht auch zu nutzen. “Das war eine echte
       Enttäuschung“, sagt sie. “Syriza hat den Schwanz eingezogen. Ich tue hier
       alles dafür, dass wir bereit sind, wenn es soweit ist. Vielleicht scheitern
       wir, aber wir werden ganz sicher nicht solche Kompromisse eingehen. Wir
       nehmen die Macht nicht nur um der Macht willen an.“
       
       Übersetzung: Marlene Halser
       
       29 Oct 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=5rXPrfnU3G0&feature=youtu.be
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Paul Hockenos
       
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