# taz.de -- Spielfilm „Die Tänzerin“ über Loïe Fuller: Die mit dem Licht tanzte
       
       > Die Tänzerin Loïe Fuller wurde in Europa gefeiert, dann vergessen, später
       > akademisch gewürdigt. Der Spielfilm „Die Tänzerin“ erzählt ihr Leben.
       
 (IMG) Bild: Bewegte Skulpturen: die Erfinderin des Serpentinentanzes Loïe Fuller (Soko)
       
       Wir verbrachten die Sommerferien in einem kleinen Dorf im Bayerischen Wald,
       Anfang der 1970er Jahre, als ich das erste Mal etwas von einer
       Loïe-Fuller-Nummer sah. Auf der Wiese neben dem Schwimmbad hatte ein sehr
       kleiner Zirkus sein Zelt aufgeschlagen, Ziegen stiegen über Stöckchen und
       eine Artistin, die um besondere Aufmerksamkeit bat, wedelte mit hellen
       Stoffbahnen, auf die ein Diaprojektor Schmetterlingsbilder projizierte. Und
       sie drehte sich im Kreis, dass der Stoff hoch aufflatterte. Das war mehr
       skurril in seinen bescheidenen Showeffekten als beeindruckend.
       
       Nie hätte ich damals, mit vielleicht 13 Jahren gedacht, Jahre später in
       dieser Nummer die Nachahmung einer der berühmtesten Szenen der Tanz- und
       Kunstgeschichte zu erkennen, den Serpentinentanz von Loïe Fuller. Das
       passierte 1991, auf einem historisch informativen Tanzfilmfestival in
       Berlin, auf dem auch die kurzen Tanzfilme, die es von Loïe Fullers
       Auftritten gab, gezeigt wurden. Sie waren zwischen 1894 und 1912
       entstanden, teils handcoloriert, um die erstaunlichen Farb- und
       Lichteffekte zu transportieren, die Fuller mit vielen Beleuchtungskörpern,
       farbigen Filtern und Lust an der technischen Tüftelei entwickelt hatte.
       
       Das Kino war damals jung, sein Ort noch das Variéte und der Jahrmarkt. Loïe
       Fuller aber war schon ein Star geworden, der aus dem Vaudeville kam, in
       Frankreich aber bald berühmte Maler, Bildhauer und Dichter anregte, über
       Bewegung, Rausch und das Flüchtige nachzudenken und sie als ästhetische
       Herausforderungen zu begreifen. Henri de Toulouse-Lautrec hat ihre
       wirbelnden Bewegungen zeichnerisch übersetzt, der Bildhauer Auguste Rodin
       wurde zu einem Bewunderer und Freund, dessen Werke sie auch sammelte.
       Stéphane Mallarmé und Paul Valéry schrieben über sie. Sie gab Kompositionen
       zu ihren Tänzen in Auftrag.
       
       Doch trotz der Verehrung durch viele Zeitgenossen war Loïe Fuller, 1862 in
       Illinois geboren und 1928 in Frankreich gestorben, bald zu einer wenig
       bekannten Erscheinung geworden. Es dauerte, bis sie wiederentdeckt wurde,
       von Wissenschaftlerinnen und Museen diesmal. Jetzt galt die Bewunderung
       nicht nur der Pionierin der Moderne im Tanz, sondern auch ihrem Umgang mit
       Technik und dem Medium Licht, ihrer Experimentierlust und ihrem
       unternehmerischen Mut.
       
       Gabriele Brandstetter, die in Berlin 2003 den ersten Lehrstuhl für
       Tanzwissenschaft in Deutschland erhielt, machte an Loïe Fuller ihre These
       fest, dass der Tanz ein Instrument der Innovation auch für bildende Kunst
       und Literatur war.
       
       ## Kontakte zu Künstlern und Wissenschaftlern
       
       Nicht zuletzt fiel diese Frau dadurch auf, dass sie andere Künstlerinnen
       unterstützte, darunter die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan und die
       japanische Tänzerin Hanako, die ihrerseits viele Künstler in Europa
       faszinierte. Einen schönen und sehr informativen Text über Fuller, ihre
       Kontakte zu Künstlern und Wissenschaftlern und ihren neuen Umgang mit dem
       Medium Licht hat die Theologin Petra Bahr geschrieben.
       
       Es ist nicht einfach, die Momente der Überraschung und die emotionale Wucht
       einer technischen und ästhetischen Innovation zu vermitteln, wenn diese
       Technik längst Alltag geworden ist. Der Spielfilm „Die Tänzerin“ von
       Stéphanie Di Giusto taucht seine Bilder lange Zeit in Dunkelheit, um dann
       die bewegten Skulpturen aus Licht, die Loïe Fuller in ihrem Tanz erfunden
       hat, umso effektvoller in Szene zu setzen.
       
       Die Bildsprache des Kameramanns Benoît Debie versucht, eine Zeit der erst
       beginnenden Elektrifizierung auszumalen, in deren Dunkel auch Mystizismus
       und Rückständigkeit nistet. Loïe Fullers Aufbruch in eine ungewöhnliche
       Karriere als Tänzerin, Künstlerin und Unternehmerin wird so auch zu einer
       heroischen Legende vom Beginn der Moderne.
       
       ## Tochter eines Cowboys und Rodeo-Reiters
       
       Im Licht eines Lagerfeuers beginnt ihre Geschichte im Film. Als Tochter
       eines Cowboys und Rodeo-Reiters bewegt sie sich unter Männern und Kühen. Im
       Mondlicht auf der Weide rezitiert sie Verse aus Oscar Wildes „Salomé“. Was
       für eine schöne Fantasie von romantischer Grenzüberschreitung: dieser
       Bildungshunger, dieser poetische Enthusiasmus inmitten eines Milieus von
       Losern und Alkoholikern, diese Eigenwilligkeit eines Mädchens mit dunklen
       Locken und dunklen Augen.
       
       Die Bildsprache, die die französische Regisseurin Stéphanie Di Giusto
       gewählt hat, ist oft sehr nahe dran an den Körpern und sucht wenig den
       Überblick. So erzeugt sie eine Atmosphäre von Bedrängnis und
       Verunsicherung, eigentlich eine Welt voller Angst.
       
       Als Loïe nach der Ermordung des Vaters zu ihrer Mutter in eine strenge,
       religiöse Gemeinschaft kommt, ist von ihrem Zimmer oft nur ein hohes
       gotisches Doppelfenster und ein Christus am Kreuz zu erkennen. Was ihr in
       diesem puritanischen Milieu die Kraft und Eigenwilligkeit gibt, entgegen
       den sozialen Regeln an ihrer Sehnsucht nach Schauspiel, Kunst, Tanz und
       Bühne festzuhalten, erklärt sich nicht, sondern bleibt einfach Behauptung.
       
       ## Gekrümmt und mit dunkler Brille
       
       Ein bisschen als Passionsgeschichte, als Kunst, die durchlitten werden
       muss, erzählt der Film ihr Leben und auch als feministisch verklärte
       Legende. Dieses erstaunliche Mädchen weiß, was sie will, sie kämpft dafür,
       und sie bezahlt dafür, mit einem fürchterlich leidenden Körper. Das Gewicht
       der Stäbe, mit der sie ihre Arme verlängert, um die das Licht auffangenden
       Stoffbahnen zu vergrößern und zu bewegen, schmerzt in Schultern, Armen und
       Rücken, das auf sie gerichtete Licht schadet ihren Augen. Gekrümmt und mit
       dunkler Brille bewegt sie sich außerhalb der Bühne.
       
       Es wäre ungerecht, einen Spielfilm über Fuller an ihrer Biografie zu
       messen; es ist das Recht der Regisseurin, sich die Figur und Geschichte zu
       erfinden, die sie erzählen will. Ich hätte diesen Film so gerne einfach
       toll gefunden, aber das geht leider nicht. Denn er neigt zum Schwulst,
       schwelgt in Dekadenz und Fin de Siècle, in flüsternden Schatten, in
       verlassenen Schlössern und dämmernden Wiesen, über die Fullers Schülerinnen
       wie eine Schar antiker Mänaden wallen.
       
       Die Erzählung von der Befreiung aus den Korsetts der Kleidung, den
       disziplinierten Tanzformen vom Ballett, den Konventionen der Gesellschaft,
       sie ist zu Kitsch geworden. Zu exzentrisch ist jede der auftretenden
       Figuren gezeichnet.
       
       ## Melodramatische Überhöhung
       
       Zudem werden mehrere unglückliche Liebesgeschichten eingeflochten, von
       einem müden europäischen Grafen zu Loïe Fuller, von ihr zu Isadora Duncan,
       und das sind noch nicht alle. Eine solche melodramatische Überhöhung wäre
       gar nicht nötig gewesen. Denn es gibt auch andere, sehr ergreifende Szenen,
       die von einem Zwiespalt der Tänzerin erzählen, von ihrer Angst, sich als
       Person der Öffentlichkeit zu zeigen.
       
       Verkörpert wird ihre dunkle Energie, ihre Besessenheit und auch ein wenig
       ihr Autismus, von der französischen Schauspielerin und Sängerin Soko. Deren
       eigene künstlerische personae sind ihrer Loïe Fuller nahe. Aus dieser
       Perspektive betrachtet, ist die Filmerzählung wiederum stimmig.
       
       3 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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