# taz.de -- Theaterstück zum NSU-Komplex: Die Kanzlerin tritt zurück
       
       > In München thematisiert die Regisseurin Christiane Mudras die großen
       > Versäumnisse bei der Aufklärung der NSU-Morde.
       
 (IMG) Bild: Zerrbilder, pantomimisch gespielt, werden auf die Leinwände projiziert
       
       Es ist ein Bühnenbild, das Unruhe vermittelt: Im Zuschauerraum des Theaters
       Hoch X in München sind unregelmäßig Platten gestapelt. Auf ihnen kauern die
       Besucher wie ein Haufen Schiffbrüchiger, umgeben von vier Leinwänden. Mit
       Beginn der Vorstellung bricht Finsternis über die Zuschauer herein. Die
       Dunkelheit wird nur periodisch vom Licht der vier Projektionsflächen
       erleuchtet. Das schärft den Gehörsinn, erschreckt aber auch.
       
       In den folgenden 90 Minuten gilt es, die Stimmen aus dem Off einzuordnen,
       als da sind: Vertreter des NSU-Untersuchungsausschusses, Beamte der Landes-
       und Bundesbehörden für den Verfassungsschutz, Sprecher der
       Bundesanwaltschaft, des Bundesverfassungsgerichts und der
       Generalbundesanwalt. Dazwischen montiert sind Zeugenaussagen, Pressestimmen
       und offizielle Verlautbarungen.
       
       Es geht in dieser Collage, die wie ein Hörspiel vor allem auf das vom Band
       abgespielte Wort setzt und wenig auf eine theatralische Spielhandlung, um
       Versäumnisse und Vertuschungen bei den Ermittlungen zur NSU-Mordserie. Und
       das ist problematisch: Auch wenn die Sprecher mit Namen und Funktion
       genannt werden, erfordert es eine erhebliche Anstrengung, den
       Argumentationslinien zu folgen.
       
       Manches bleibt hängen und erschüttert immer noch, etwa wenn die Mitarbeiter
       des Amtes für Verfassungsschutz davon sprechen, dass die Opfer doch
       schließlich nur „türkische Gemüsehändler“ gewesen seien. Vernichtend auf
       den Punkt gebracht wird die desaströse Ermittlungsarbeit mit Aussagen über
       die Topquellen, die im Bundesamt für Verfassungsschutz geäußert wurden.
       Etwa über den V-Mann-Führer Kaldrack: „Wer zum Henker soll uns noch
       glauben, dass wir nichts von den Morden wussten?“
       
       ## Zerrbilder und Geräusch-Sperrfeuer
       
       Ebenso ungläubig vernimmt man die Aussage von Lothar Lingen, Referatsleiter
       der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz: Es geht
       um die Vernichtung zahlreicher Akten zu V-Männern aus der Thüringer
       Neonaziszene am 11. 11. 2011, unmittelbar nach dem Auffliegen des
       NSU-Trios. Die sogenannte Operation Konfetti ereignete sich
       bezeichnenderweise am Faschingsbeginn.
       
       Was erschüttert, sind die Fakten, die Christiane Mudra in diesem Stück, für
       das sie als Autorin und Regisseurin verantwortlich ist, in akribischer
       Kleinarbeit zusammengetragen hat: In der Summe der ungeheuren
       Fehlleistungen und Irrtümer sticht da besonders die Tatsache heraus, dass
       bereits 2003 Hinweise von mehreren ausländischen Nachrichtendiensten auf
       das mordende NSU-Trio an die deutschen Behörden ergingen.
       
       Zerrbilder, pantomimisch gespielt, werden auf die Leinwände projiziert und
       von einem Geräusch-Sperrfeuer begleitet. Sie spannen den Bogen von
       Hassbildern der 1930er Jahre, aus den Anfängen der nationalsozialistischen
       Diktatur in Deutschland, bis zur gegenwärtigen Bedrohung des Rechtsstaats
       durch erweiterte Befugnisse der Geheimdienste und dem Aufkommen der
       rechtsextremen identitären Bewegung.
       
       Am Ende des Stückes steht eine schier utopische Vision: Alle Straftäter,
       die im Rahmen des NSU Verbrechen begangen haben, werden verurteilt, die
       schuldigen Verantwortlichen in den Behörden entlassen, die Kanzlerin tritt
       zurück.
       
       ## Irritation des Zeigefingers
       
       Bereits etliche Theaterproduktionen haben sich in den letzten Jahren mit
       dem NSU-Thema befasst. Darunter ist etwa „Das schweigende Mädchen“ von
       Elfriede Jelinek über die mutmaßliche Rechtsterroristen Beate Zschäpe und
       ihren Prozess oder das Dokumentartheaterstück „Urteile“ von Christine
       Umpfenbach, das den strukturellen Rassismus kritisierte.
       
       Beide Inszenierungen wurden, wie nun auch Mudras Arbeit, bezeichnenderweise
       in München uraufgeführt, der Stadt, in der zwei NSU-Morde geschahen. In
       Berlin war „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ des Autorenduos Angry
       Birds im Ballhaus Naunynstraße zu sehen.
       
       Doch nicht immer ist der Erkenntniswert dieser politisch und moralisch
       ambitionierten Stücke tatsächlich groß. Bei Mudra irritiert der moralische
       Zeigefinger, der einen bedauerlicherweise nicht emotional berührt. Leider
       hat Drehbuchautorin und Regisseurin Christiane Mudra so viel Stoff in den
       Abend gepackt, dass man sich als Zuschauer letztendlich überfordert fühlt
       angesichts dieses Informations-Overkills. Gut gemeint ist eben nicht immer
       gut gemacht.
       
       7 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annette Walter
       
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