# taz.de -- „Joaquim“ auf der Berlinale: Ein Materialismus der Sinne
       
       > Läuse und faule Zähne: Marcelo Gomes imaginiert in seinem Film „Joaquim“
       > das Making-of eines brasilianischen Revolutionärs.
       
 (IMG) Bild: Julio Machado als Revolutionär Joaquim, Filmstill
       
       Eines der schlagendsten Argumente für unsere Zeit sind die Zahnärzte mit
       sterilen Instrumenten und Anästhesie. Wieviel soziales Prestige man sich
       früher damit aufbauen konnte, wenn man die schlechten Zähne der Mitmenschen
       einigermaßen human zu behandeln wusste, merkt man noch dem abfällig
       gemeinten Spitzname „Tiradentes“ (Zähnezieher) an, unter dem der
       brasilianische Revolutionär Joaquim José da Silva Xavier bekannt wurde.
       
       Als Anführer einer Gruppe von Verschwörern gegen die portugiesische Krone
       wurde er 1792 hingerichtet. Der brasilianische Regisseur Marcelo Gomes
       lässt ihn in seinem Film beim Vornamen nennen: „Joaquim“.
       
       Gomes beginnt mit dem Hinweis auf eine andere schreckliche Praxis: Man
       sieht – Spoiler-Alert! – das aufgespießte Haupt des Revolutionärs, während
       seine Stimme aus dem Off berichtet, er sei auch gevierteilt worden. Warum?
       „Vielleicht weil ich der ärmste unter den Verschwörern war, oder der
       leidenschaftlichste“, lässt Gomes seinen Helden mutmaßen. Dann schaltet der
       Film zurück zur Vorgeschichte.
       
       Joaquim zieht nicht nur Zähne, sondern verfolgt als Grenzbeamter Schmuggler
       und hat eine leidenschaftliche Affäre mit der schwarzen Sklavin Blackie.
       Als die das Weite sucht, versteift Joaquim sich auf die Idee, bei einer
       Goldsuchexpedition mitzumachen, um mit dem Erlös Blackie finden zu können.
       Die Erfahrungen der Expedition schärfen Joaquims Blick für die
       Ausbeuterpraktiken der Kolonialherren und die Ungerechtigkeiten der
       Monarchie.
       
       Was ein Bewusstwerdungsprozess ist, inszeniert Gomes als lockere, disparate
       Serie von Körperzuständen und Sinneseindrücken. In Joaquims Haar sammeln
       sich die Läuse, das Essen reicht kaum, der Rücken schmerzt vom Goldwaschen,
       irgendwo singt ein Indio in einer unverständlichen Sprache. Es ist eine
       chaotische Welt voll Willkür, als die Gomes das Brasilien des 18.
       Jahrhunderts schildert.
       
       Wer Faktisches über Joaquim als Revolutionär, sein Denken erfahren möchte,
       wird von Gomes willentlich enttäuscht. Ihn interessieren die Zahnschmerzen,
       der Hunger, die Bettwanzen. Ein Materialismus der Sinne, wenn man so will.
       Für manchen Geschmack mag die Handlung zu ziellos sein, andere werden
       gerade daran etwas finden, weil mitempfinden können.
       
       17 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Künstlerin
 (DIR) Homosexualität
 (DIR) taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wirtschaftskrise in Brasilien: Warten auf Besserung
       
       Brasilien steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 70 Jahren. Das
       Spardiktat der Regierung trifft vor allem sozial Schwache und Frauen.
       
 (DIR) Berlinale-Staralbum: Sally Hawkins: Die Ausgezeichnete
       
       Nur wenige haben eine so natürliche Ausstrahlung und Körpersprache wie die
       britische Schauspielerin Sally Hawkins.
       
 (DIR) Monika Treut über queere Filme: „Es gab Proteste“
       
       Lesbischer Sex und Sadomaso – die frühen Filme von Monika Treut wurden in
       Deutschland ausgebuht, international waren sie Erfolge.
       
 (DIR) Berlinale-Film aus der Türkei: „Viele Massaker ähneln einander“
       
       In „Kaygı“ geht es ums Erinnern und Vergessen. Regisseurin Ceylan Özgün
       Özçelik über kollektive Traumata und die Wirkung von Nachrichten.