# taz.de -- Kopftuch-Debatte in Berlin: Gutes Vorbild, schlechtes Vorbild
       
       > Nach einem Gerichtsurteil wird wieder ums Berliner Neutralitätsgesetz
       > gestritten. Sollen Lehrerinnen mit Kopftuch endlich unterrichten dürfen?
       
 (IMG) Bild: Die „Mutter aller Kopftuch-Klägerinnen“: die Muslima Fereshta Ludin erstritt 2003 das erste Kopftuch-Urteil vom Bundesverfassungsgericht
       
       Für SchülerInnen scheint es keine große Sache zu sein. „Es würde mich nicht
       stören, wenn meine Lehrerin Kopftuch tragen würde. Hauptsache, sie
       unterrichtet gut und ist nett“, sagt die 14-jährige Sophie Helmer von der
       Evangelischen Oberschule Steglitz. Auch Franka Thurau vom
       Beethoven-Gymnasium meint: „Ich fände das voll in Ordnung, außer, sie würde
       wollen, dass wir Schüler alle auch muslimisch werden.“ Liv Hübner,
       Schülerin am Fichtenberg-Gymnasium, findet: „Es ist deren Religion, und es
       gibt auch Lehrer, die ein Christenkreuz um den Hals tragen.“
       
       Für Erwachsene dagegen ist das Thema fast so etwas wie ein „rotes Tuch“.
       Seit das Berliner Landesarbeitsgericht am 9. Februar einer Lehrerin
       Entschädigung zusprach, weil sie wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt
       worden war, ist der „Kopftuch-Streit“ wieder voll im Gange. Dabei entstehen
       teils merkwürdige Konstellationen: So liegen die beiden großen Kirchen, die
       das Urteil begrüßten, plötzlich auf Linie mit islamischen Organisationen
       wie Millî Görüş und migrantischen wie dem Türkischen Bund
       Berlin-Brandenburg.
       
       Dagegen vergessen die Christdemokraten in diesem Fall ihr „christliches“
       Erbteil: Sie zeigten sich entsetzt vom Urteil und drängen den Senat in
       Berufung zu gehen. „Gerade wir wertschätzen religiöse Bekenntnisse. Aber
       wir wissen auch, dass die Zur-Schau-Stellung religiöser Bekenntnisse von
       manchem als selbstgewählte Abgrenzung wahrgenommen wird“, sagte Burkhard
       Dregger, CDU-Abgeordneter, kürzlich im Abgeordnetenhaus.
       
       Teilweise läuft die Kontroverse auch innerhalb von Organisationen. Der
       religionskritische Humanistische Verband Deutschlands (HVD) etwa hat
       bislang keine einheitliche Position entwickelt. Der taz erklärte Jan
       Gabriel, Präsident des HVD Berlin-Brandenburg: „Für die Verfechter einer
       eindeutigen Trennung von Staat und Kirche im HVD sind staatliche
       Lehrkräfte, die sich erkennbar religiös positionieren, unvorstellbar.“
       
       Andere Verbandsmitglieder würden dagegen „die individuelle Haltung der
       einzelnen Lehrkraft stärker berücksichtigt sehen“, so Gabriel, und das
       staatliche Neutralitätsgebot weniger streng auslegen wollen. „Sie finden,
       dass Lehrer_innen, die religiöse Symbole tragen, durchaus Mathe- oder
       Deutschunterricht erteilen können, solange sichergestellt ist, dass der
       Schulfrieden nicht gefährdet ist und sich die Lehrkraft im Unterricht
       weltanschaulich-neutral verhält.“
       
       ## Senat genau so uneins wie die ganze Gesellschaft
       
       Auch der Senat ist sich höchst uneins, wie auf das Gerichtsurteil zu
       reagieren ist. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sah in seiner ersten
       Reaktion das Ende des Neutralitätsgesetzes nahen – jenes Gesetzes, das
       Landesbediensteten in Schulen, Polizei und Justiz mit wenigen Ausnahmen das
       Tragen religiös-weltanschaulischer Kleidung im Dienst verbietet. Dagegen
       erklärte der fachlich zuständige SPD-Innensenator Andreas Geisel: „Wenn es
       das Gesetz nicht gäbe, müsste es sofort geschrieben und verabschiedet
       werden.“
       
       Aber auch Kultursenator Klaus Lederer (Linke) macht sich vorsichtig für ein
       Umdenken stark. Zwar sei die Grundidee – die strikte Trennung von Staat und
       Religion sowie die „Gleichbehandlung zugunsten des multireligiösen
       Miteinanders“ – nach wie vor richtig, sagte er der taz. „Wenn die Praxis
       aber anders aussieht, muss das Gesetz diskutiert und in der Konsequenz auch
       neu verhandelt, überarbeitet werden.“
       
       Tatsächlich betonen heute alle Verfechter des Neutralitätsgesetzes, dass es
       kein Kopftuchverbot sei, da alle religiösen Symbole gleichermaßen verboten
       sind. Die ursprüngliche Absicht war allerdings eine andere. Nach einem
       Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2003 (siehe Text rechts) preschte der
       damalige SPD-Innensenator Ehrhart Körting vor und wollte ein
       Kopftuchverbot-Gesetz. Nur war die PDS als damaliger Regierungspartner
       strikt dagegen. Erst nach mehrmonatigem Koalitionsstreit wurde das Verbot
       aller religiösen Symbole als Kompromiss gefunden.
       
       ## Gesetz trifft de facto nur Muslima
       
       De facto betrifft das Neutralitätsgesetz bis heute nur muslimische Frauen.
       Es sei daher als „Benachteiligung von Frauen bei ihrer Berufsausübung zu
       bewerten“, sagt Markus Hanisch, Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der
       Lehrergewerkschaft GEW. „Insofern ist es angemessen, die Berliner
       Rechtslage zu überdenken.“
       
       Zumal sich viele Frauen um das Verbot nicht mehr scheren. An den Berliner
       Universitäten gebe es immer mehr Lehramtsstudentinnen mit Kopftuch,
       beobachtet Sabine Achour, die Politikdidaktik und Politische Bildung an der
       FU unterrichtet. „Vor einigen Jahren gab es das fast gar nicht.“ Heute,
       schätzt sie, trügen etwa vier Studentinnen von 100 in Politikwissenschaft
       für das Lehramt Kopftuch, im Grundschulbereich seien es sechs bis acht von
       100.
       
       Zum Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e. V.),
       kämen auch immer mehr Frauen mit Beschwerden, sagt die Juristin und
       Projektleiterin Zeynep Çetin. Zum einen Studentinnen und Referendarinnen,
       die von Schulen im Rahmen ihres Praktikums und Referendariats aufgrund
       ihres Kopftuchs abgelehnt wurden, obwohl sie gesetzlich vom Kopftuchverbot
       ausgenommen sind. Zum anderen hätten sich nach dem jüngsten
       Kopftuch-Prozess, in dem unter anderem Inssan die Klägerin unterstützt hat,
       zwei weitere Lehrerinnen gemeldet, die klagen wollen. „Das Urteil macht Mut
       für angehende muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch“, so Çetin.
       
       Eine von ihnen ist Canan Özdemir. Die junge Frau, die aus Angst vor
       Stigmatisierung ihren richtigen Namen nicht nennen will, macht gerade ihr
       Referendariat an einer Ostberliner Grundschule. Im August will sie sich bei
       Lehrer-Castings um eine Stelle bewerben – und klagen, wenn sie nicht
       genommen wird. „Ich bin von Natur aus eine Kämpferin und werde das so nicht
       hinnehmen“, sagt sie. Beim derzeitigen Lehrermangel dürfe jeder
       Quereinsteiger an Grundschulen arbeiten. „Warum ich nicht, obwohl das mein
       Traumberuf ist, für den ich mich so angestrengt habe?“
       
       ## „Aufhören, mich nach meinem Äußeren zu beurteilen“
       
       Dass sie als Kopftuchträgerin nicht fähig sein soll, bei ihrer Arbeit
       Neutralität zu wahren, wie die Gesetzesbefürworter meinen, kränkt sie. „Nie
       würde ich Kindern meine Meinung aufdrücken. Ich will sie zu kritischen,
       selbstständig denkenden Menschen erziehen!“ Aber hier seien offenbar die
       üblichen Vorurteile am Werk: dass Muslime andere Lebens- und Sichtweisen
       nicht tolerieren würden. „So etwas höre ich, seit ich mit 14 Jahren das
       Kopftuch angelegt habe. Man soll doch bitte aufhören, mich nach meinem
       Äußeren zu beurteilen.“
       
       An ihrer Schule seien alle – Lehrer, Eltern, Schüler – mit ihr zufrieden,
       so Özdemir. Die Direktorin würde sie auch gern übernehmen: „Sie sagt, sie
       bräuchten dringend Lehrerinnen mit Kopftuch, gerade als Vorbild für Kinder
       mit Migrationshintergrund.“
       
       Ja, gute Frage: Was halten SchuldirektorInnen vom Neutralitätsgesetz?
       Offenbar ist das Thema heikel: Von zehn Anfragen der taz wurden neun
       ignoriert oder negativ beschieden. Nur Rita Schlegel von der
       Hermann-Sanders-Grundschule in Neukölln war zum Gespräch bereit.
       
       Sie liegt ganz auf Linie der Bildungsverwaltung und würde niemals eine
       Lehrerin mit Kopftuch einstellen. „Wir sollen neutral sein, ich darf auch
       nicht mit einem Parteiabzeichen durch die Schule laufen“, sagt sie. Und:
       „Mein Glaube ist das, was ich im Herzen trage, aber das muss ich doch nicht
       nach außen zeigen.“ Wer dies tue, etwa mit einem Kopftuch, signalisiere
       damit, dass er oder sie eben nicht neutral sei, sondern „streng gläubig“.
       
       Schlegel hält auch nichts von der These, dass Kopftuch tragende Lehrerinnen
       wichtig seien als Vorbilder oder Kulturmittler für muslimische Familien.
       Dafür habe man LehrerInnen mit türkischem oder arabischem Hintergrund,
       erwidert sie. Vielmehr sehe sie die Gefahr, dass muslimische Mädchen durch
       Kopftuch tragende Lehrerinnen verleitet würden, auch das Kopftuch zu
       nehmen. „Lehrer sind ja auch Vorbilder.“
       
       ## In Neukölln schon Erstklässlerinnen mit Kopftuch
       
       Diese Gefahr beschwört auch Franziska Giffey, SPD-Bezirksbürgermeisterin in
       Neukölln und lautstarke Befürworterin des Neutralitätsgesetzes. Sie sehe es
       mit Sorge, dass in ihrem Bezirk schon Erstklässlerinnen mit Kopftuch und
       langen Gewändern zur Schule kommen, sagte sie der taz. Und: „Mädchen, die
       vor der Entscheidung stehen, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht, werden
       dabei von ihrem Umfeld beeinflusst, von Nachbarn, Familie, Freunden. Das
       erleben wir heute schon. Eine Lehrerin mit Kopftuch würde diesen Einfluss
       verstärken. Da braucht es keine aktive Beeinflussung, das Vorleben allein
       genügt dafür.“
       
       Dieses Argument lässt Politikwissenschaftlerin Achour nicht gelten. Die
       Tatsache, dass es bereits Schülerinnen mit Kopftuch gebe, zeige, „dass
       diese Entscheidung anscheinend komplett unabhängig von den LehrerInnen
       fällt“. Für nicht erwiesen hält sie zudem die These, dass Kopftuch tragende
       Lehrerinnen weltanschaulich nicht neutral sein können. „Das kann man nicht
       wissen, ohne es auszuprobieren“, sagt sie – und: Bei ihren Studentinnen mit
       Kopftuch könne sie das nicht erkennen.
       
       Dagegen teilt Achour die Einschätzung, dass Frauen mit Kopftuch eher einem
       „traditionelleren, konservativerem Islam“ zuneigen. „Das Wertemuster ist
       vergleichbar mit dem ländlicher Milieus in Deutschland.“ So entspreche das
       Kopftuch zwar eher nicht dem westlich europäischen Begriff von
       Emanzipation. „Aber die Frauen haben oft innerhalb ihrer Communitys
       Emanzipationsprozesse durchlaufen und sind häufig gerade aufgrund
       konservativerer Wertemuster systemstabilisierend.“ Mitarbeit: Julia
       Karthigesu
       
       Dieser Text ist Teil des Wochenendschwerpunkts zur Debatte ums Kopftuch an
       Schulen. Darin außerdem: Ein Interview mit einem Psychologen, ein Essay und
       ein Überblick über die juristische Praxis. In Ihrem Briefkasten und am
       Kiosk. 
       
       Mehr zum Thema Kopftuch und Neutralitätsgesetz lesen Sie im Berlin-Teil der
       taz.Am Wochenende – im Abo oder am Kiosk.
       
       3 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Memarnia
       
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