# taz.de -- Protest in Ungarn: Eine selbstbewusste Bevölkerung
       
       > Seit Tagen demonstrieren tausende Ungarn gegen ein neues Hochschul- und
       > NGO-Gesetz. Die Stimmung erinnert an die Loveparade in Berlin.
       
 (IMG) Bild: Demonstration vor dem Parlament gegen die Regierung Orban
       
       Ich bin enttäuscht. Diese Demonstration wirkt wie ein Kaffeekränzchen. Ich
       habe nichts gegen friedliche Proteste, aber die hier könnten schon ein
       bisschen kraftvoller sein.“ Eine 50-jährige Frau, die an diesem
       Mittwochabend auf der Andrássy-Straße in Budapest steht, redet sich in
       Rage. „Zehntausende sind hierhergekommen. Und jetzt sagen uns die
       Organisatoren, dass wir nach Hause gehen sollen. Das will ich aber nicht.
       Ich habe genug von dieser Regierung.“
       
       Scheinbar ungeordnet ziehen Tausende Menschen bis vor das Parlament und
       dann wieder zurück ins Zentrum. Ihr Unmut richtet sich, wie so oft in den
       letzten Wochen, gegen ein neues Hochschulgesetz und ein neues Gesetz über
       nichtstaatliche Organisationen (NGO). Das Universitätsgesetz könnte zur
       Schließung der von dem US-amerikanischen Milliardär George Soros
       geförderten Central European University (CEU) führen. Und nach dem
       NGO-Gesetz müssen sich Organisationen, die mehr als 7,2 Millionen Forint
       (23.200 Euro) im Jahr von ausländischen Gebern erhalten, bei Gericht
       registrieren lassen. Zudem müssen sie künftig bei allen Medienauftritten
       und in Publikationen die Bezeichnung „auslandsunterstützte Organisation“
       führen.
       
       „Europa, Europa!“, ruft eine etwa 25-jährige Frau. „Ich lebe in Kopenhagen,
       weil ich dort eine Chance habe, zu studieren und zu arbeiten. Ich
       demonstriere, damit die anderen, die zu Hause geblieben sind, die gleichen
       Möglichkeiten haben“, sagt sie. Ihren Namen möchte sie nicht nennen.
       
       Die Stimmung unter den Demonstranten vom Mittwoch erinnert an die
       Loveparade in Berlin. Tausende junge Leute haben sich auf dem Oktogon, dem
       zentralen Verkehrsknotenpunkt in Budapest, eingefunden und tanzen dort zu
       Technomusik. Immer wieder skandieren sie: „Freies Land, freie Universität!“
       und „Orbán, weg mit dir!“
       
       „Erst ging es bei den Protesten nur um eine Hochschule. Jetzt geht es um
       die Zukunft eines ganzen Landes“, sagt eine Studentin von der Universität
       Corvinus. Auch sie möchte anonym bleiben. In Ungarn zähle nur noch der
       Wille der Regierungspartei Fidesz und von Ministerpräsident Viktor Orbán,
       sagt sie. Orbán sei bereit, alles für sein Imperium zu opfern. Ein junger
       Mann neben ihr fügt hinzu: „Das hier ist ein historischer Moment in einem
       Land, das sich gerade von der Demokratie abwendet. Wir werden das nicht
       zulassen.“ Nun gehe es um grundlegende Freiheiten und den Umgang mit dem
       Recht. „Und um unsere Zukunft, darum, wie wir Bildung verstehen, ob Medien
       frei berichten können und ob kritisches Denken noch möglich ist“, meint er.
       
       ## Viele Ungarn kommen aus ihrer politischen Apathie heraus
       
       Die Regierung versucht, Ängste zu schüren. Zsolt Bayer, bekannter
       Journalist und enger Freund des Regierungschefs, warnte die jungen
       Demonstranten unlängst in einem Kommentar: „Ihr werdet erleben, was für ein
       Gefühl das ist, verfolgt und bedroht zu werden.“ Eine anderer Publizist,
       András Hont, antwortete ihm [1][auf dem Internetportal hvg.hu]: Die
       Menschen haben keine Angst mehr. Jetzt wollen die beiden in einem Boxkampf
       gegeneinander antreten. Wann und wo das Spektakel stattfindet, ist noch
       unbekannt.
       
       Der Kampf tobt nicht nur zwischen einzelnen Journalisten, sondern auch
       zwischen Zeitungen. Die Oppositionellen ziehen über die Propagandamedien
       von Fidesz her, und die sogenannten Propagandamedien arbeiten sich an
       Soros-Freunden und Flüchtlingsfreunden ab.
       
       Viele Ungarn, so scheint es nun, kommen endlich aus ihrer politischen
       Apathie heraus. Gergely Németh, ehemaliger Chef einer NGO, sitzt beim
       Friseur und sagt, in Ungarn gebe es zwei Probleme mit der
       Zivilgesellschaft. Die habe hier erstens keine Tradition – nur wenige
       Menschen engagierten sich. Und zweitens könne die Regierung mit dem
       erwachenden Selbstbewusstsein ihrer Bevölkerung nicht umgehen.
       
       „Die Bürger müssen eines lernen“, sagt er. „Wenn wir Ungarn zu einem
       besseren Platz für unsere Kinder und Enkelkinder machen wollen, müssen wir
       uns jetzt widersetzen und für unsere Rechte eintreten.“
       
       15 Apr 2017
       
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