# taz.de -- Documenta 14 eröffnet in Kassel: Importware aus Griechenland
       
       > Nach dem Start in Athen beginnt die documenta 14 nun auch in Kassel. Auch
       > dort fällt auf, dass sie in der Stadt wenig sichtbar ist.
       
 (IMG) Bild: Sich selbst in der Kunst erkennen, das geht immer – wichtig wären Erkenntnisse darüberhinaus
       
       KASSEL taz | „[1][Lernen von Athen]“ heißt aus Athen importieren. So
       jedenfalls schaut es in Kassel aus, wo am Samstag – [2][in Athen läuft sie
       ja schon seit dem 8. April] − die documenta 14 eröffnet. Im Fridericianum,
       dem zentralen Ausstellungsort, zeigt Adam Szymczyk, Leiter der in diesem
       Jahr zweigeteilten Großausstellung, die Sammlung des Nationalen Museums für
       zeitgenössische Kunst (EMST) in Athen – damit sie überhaupt einmal das
       Licht der Öffentlichkeit erblickt. 2000 gegründet, hat das EMST zwar eine
       Sammlung und seit 2014 auch ein Haus in der ehemaligen Fix-Brauerei, doch
       beides war dem Publikum bislang nicht zugänglich. Erst die documenta
       öffnete das Haus und füllte es mit ihrer Kunst. So weicht die Sammlung nun
       nach Kassel aus.
       
       Spontan erscheint dieser Schritt sinnvoller, als er es tatsächlich ist.
       Denn zum einen sind Katerina Kosina, Direktorin des EMST, und ihre Auswahl
       von 200 Arbeiten nur Lückenbüßer. Adam Szymzcyk wollte im Fridericianum die
       Sammlung des Nazikunsthändlers Hildebrandt Gurlitt zeigen, die sich 2012
       bei seinem Sohn Cornelius fand. Doch die Bundeskunsthalle in Bonn erhielt
       den Zuschlag.
       
       Ob das EMST endgültig seinen Betrieb aufnehmen kann, ist in Athen nach wie
       vor ungeklärt. Und in Kassel findet die documenta am zentralen Ort nicht
       statt. Das EMST zeigt außerhalb der Region unbekannte Positionen junger
       griechischer Kunst. Dazu die eine oder andere kluge Arbeit geschätzter
       Künstler*innen oder eine Entdeckung wie Köken Erguns Video „I, Soldier“
       (2005) aus seiner Serie von Video-Beobachtungen der Nationalfeiertage in
       der Türkei.
       
       Doch nicht nur im Fridericianum, dessen Giebelinschrift die in Istanbul
       lebende Künstlerin Banu Cennetoglu mit „Being Safe Is Scary“, einem in
       Athen gefundenen Graffiti, überschrieben hat, findet die documenta nicht
       statt. Auch im städtischen Außenraum ist sie kaum sichtbar. Zwar fällt am
       Königsplatz Olu Oguibes monumentaler Obelisk „Das Fremdlinge und
       Flüchtlinge Monument“ auf, und am Friedrichsplatz, dort, wo die Nazis 1933
       zweitausend Bücher verbrannten, Marta Minujíns sprechender Nachbau des
       Parthenon aus einst wie heute verbotenen Büchern. Aber die Karlsaue, bei
       Carolyn Christov-Bakargiev noch wesentlicher Schauplatz der documenta 13,
       erstreckt sich von Kunst nahezu unberührt zum Horizont.
       
       ## Hier darf man verstehen, ohne einverstanden zu sein
       
       Das macht sich Romuald Karmakar im Westpavillon der Orangerie zunutze. Er
       stellt dort seinen dreiteiligen Videoscreen vor die Fenster, die er zum
       Park hin weit öffnet, ins Gegenlicht. Die offene, idyllische Situation
       steigert den Sog von „Byzantion“ (2017), einem Film, in dem er Mönche in
       Athen und im russischen Kloster Walaam dabei beobachtet, wie sie den
       Marien-Hymnus Agni Parthene in seiner griechischen beziehungsweise
       kirchenslawischen Version intonieren.
       
       Die Wiederholung des Hymnus in Agni Parthene distanziert, analog zum
       Sprechen der Predigten durch Manfred Zapatka, während die unbeirrt auf die
       Mönche konzentrierte Kamera das Publikum deren Gesangskunst und religiöses
       Pathos direkt erfahren lässt. Ohne die eigene Reserve gegenüber dem
       religiösen Haleluja verleugnen zu müssen, ist einem respektvolles Zuhören
       möglich, ein Zugehen auf das Fremde, nicht Genehme, das am Ende ein Zugang
       zu ihm ist. Verständig, nicht einverstanden. Karmakar ist eben ein Meister
       politischer Kunst.
       
       „Byzantion“ und die Laufschriften-Installation „Die Entstehung des Westens“
       sind Kasseler Premieren, anders als die Mehrzahl der Arbeiten in der nahe
       gelegenen documenta-Halle, die wie die monumentalen roten, geknoteten
       Wollfäden der peruanischen Künstlerin Cecilia Vicuna schon aus Athen
       bekannt sind. Trotzdem ist die Halle gelungen. Soundarbeiten und
       Performance-Dokumentationen wechseln sich mit Räumen mit Malerei ab, wo
       Stanley Whitney dann bunte grobe Farbblöcke der Leinwand über- und
       nebeneinanderstapelt.
       
       Und steht man schließlich in der Installation aus Objekten und
       Archivmaterialien zu Ali Farka Touré – dem Bluesman Afrikas, den Igo
       Diarra, Gründer und Direktor des Kunstraums La Medina in Bamako, Mali, nach
       Kassel brachte –, schießt einem der Gedanke durch den Kopf, einmal dem Weg
       der Elektrogitarre in Afrika nachgehen zu sollen und zu wollen. Wann sie
       wo, wie und warum eingesetzt wurde.
       
       ## Jüdische Märchen-Malerei fürs SS-Kinderzimmer
       
       Die documenta-Halle ist Musik und dem Tänzerischen gewidmet, während die
       Neue Galerie, die die Kunstsammlungen der Museumslandschaft Hessen-Kassel
       des 19., 20. und 21. Jahrhunderts beherbergt, Hauptsitz des
       Geschichtsbewusstseins der documenta 14 sein will. Das funktioniert hier so
       wenig wie im Erdgeschoss des Ottoneums, das die Frage nach Grund und Boden
       aufwirft, auch und gerade im Kontext indigener Geschichte.
       Unglücklicherweise stellt sich über die Bilder und Videos der Eindruck her,
       die Naturvölker würden im Naturkundemuseum entsorgt, wo man gerade dort
       doch besser westliche Konzeptualisten gezeigt hätte.
       
       Nicht weniger erwartbar: Im neuen Museum Grimmwelt deutet die Kunst laut
       Kurzführer Märchen als „Parabeln über die Basisarchitekturen repressiver,
       patriarchaler und übelwollender Gesellschaften“. Genau das geben die von
       Jugendstil inspirierten Kinderbuchillustrationen von Tom Seidmann-Freud,
       einer Nichte von Sigmund Freud, aber nicht her. Auch Bruno Schulz’
       Märchen-Malereien auf Putz, die er als Ghettojude fürs Kinderzimmer des
       SS-Hauptscharführers Felix Landau ausführen musste, sind das nicht, sondern
       Dokumente aus der Zeit der NS-Vernichtungspolitik.
       
       Es ist schon bestürzend, zu sehen, wie Adam Szymczyk und sein achtköpfiges
       Kuratorenteam gute, interessante und manchmal einfach den Umständen
       geschuldete, besondere künstlerische Arbeiten an ihre ebenso hochtrabenden
       wie floskelhaften Zielvorgaben verraten, damit „eine ganz andere politische
       und poetische Landkarte Europas entsteht als jene, die wir von der
       Europäischen Union kennen“. In der Grimmwelt verzeichnet die Karte mit
       Seidman-Freud, Schulz und der Shylock-Interpretation des israelischen
       Malers Roee Rosen dann ein kleines Judenghetto.
       
       ## Recherche zum NSU-Mord
       
       Sonst findet man auf dieser Landkarte eher den documenta shop als die
       documenta selbst. Etwa an der Neuen Hauptpost, in erster Linie
       Ausstellungsort der für die documenta in Kassel in Auftrag gegebenen
       Arbeiten. Unbesehen von deren Qualität – Dan Petermans minimalistisches
       Memento Mori ans Material etwa überzeugt – ist da vor allem ein Beitrag zum
       politischen Zeitgeschehen interessant: Die antirassistische Allianz
       „Gesellschaft der Freund_innen von Halit“, die im Zusammenhang der
       NSU-Morde dem Komplex von rechtsextremem Terror und institutionellem wie
       strukturellem Rassismus in Deutschland nachgeht, profitiert in ihrer
       Recherche von den Netzwerken des Kunstaktivismus, in denen sich der
       kreative und politische Zeitgeist kristallisiert. Um Öffentlichkeit zu
       erreichen, ist die documenta für sie ein mögliches Format unter anderen.
       
       Für die Öffentlichkeit selbst gilt das allerdings genauso. Denn diese
       documenta 14 ist insgesamt wirklich kein Must.
       
       Die documenta 14 beginnt heute in Kassel und ist bis zum 17. September zu
       sehen
       
       10 Jun 2017
       
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 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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