# taz.de -- FDP im Wahlkampf: Ethos, Pathos, Logos
       
       > Christian Lindner gibt trotz Flüchtlinge-raus-Rufen den Wählern das
       > Gefühl, weltoffen und liberal zu sein. Warum das keine Manipulation ist.
       
 (IMG) Bild: Beherrscht die Trias: FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner
       
       Hoppla, was ist jetzt los? FDP-Chef Lindner gibt Bild ein Interview, und
       die Schlagzeile lautet: „Alle Flüchtlinge müssen zurück!“ Hat sich Lindner
       grade noch rechtzeitig an das FDP-Erbe der Nationalliberalen, des
       ultrarechten Naumann-Kreises und dessen späten Wiedergängers Jürgen
       Möllemann erinnert, um in der entscheidenden letzten Phase des Wahlkampfs
       die rechte Karte zu ziehen? Steht jetzt eine nationale Abschottungsfront
       aus Union, FDP und AfD mit 60-Prozent-Mehrheit?
       
       So könnte man meinen, aber so einfach ist es nicht. Vor allem steht da nun
       einmal mehr ein Christian Lindner vor uns, der nicht nur ein hervorragender
       Stratege, sondern auch ein exzellenter Rhetoriker ist. Strategische
       Raffinesse bewies Lindner schon bei der Wahl in NRW, als er mit dem
       geschickten Aufrufen bestimmter Themen potentielle FDP-Wähler aktivierte.
       Da reichte es manchmal schon, mit den richtigen Leuten aufzutreten, etwa
       Gerhart Baum.
       
       Aristoteles definierte Rhetorik nicht als Kunst der Überredung, sondern als
       Kunst der Überzeugung. Genauer als „Fähigkeit, bei jeder Sache das
       möglicherweise Überzeugende zu betrachten“. Die Rhetorik ruht dabei auf
       drei Säulen: Ethos, Pathos und Logos. Womit die Glaubwürdigkeit des
       Redners, der emotionale Zustand des Hörers und das Argument gemeint sind,
       wobei das Argument dem alten Griechen als das Entscheidende erschien.
       
       Die Glaubwürdigkeit des Redners Lindner stellt sich durch einen einfachen
       Kniff her. In einem weithin als „langweilig“ empfundenen Wahlkampf machte
       Lindner klare Aussagen. Auf die Frage, ob er angesichts der hohen
       Flüchtlingszahlen im Herbst 2015 anders als Kanzlerin Merkel die deutschen
       Grenzen geschlossen hätte, antwortet er: „Ja. Wir haben Menschen in einer
       humanitären Notsituation im September 2015 aus Ungarn einreisen lassen. Für
       diese Ausnahme hatte ich Verständnis. Unmittelbar danach hätte Frau Merkel
       die Regeln von Dublin wieder anwenden und die Grenze schließen müssen!“
       Angela Merkel ist Mutter? Christian Lindner, Jahrgang 1979, präsentiert
       sich als guter Vater: streng, aber gerecht. Ein Mann mit Ethos.
       
       ## Lindner hat auf die Bild-Schlagzeile spekuliert
       
       Auf die Frage, was mit den Hunderttausenden Flüchtlingen geschehen soll,
       die bereits in Deutschland sind, antwortet Lindner: „Wir sollten es machen,
       wie es in den Neunzigerjahren während des Balkankrieges Praxis war. Wir
       fördern und unterstützen Flüchtlinge. Aber aus dem Flüchtlingsstatus kann
       nicht automatisch ein dauerhafter Aufenthaltsstatus werden. Die Menschen
       müssen in die alte Heimat zurückkehren, sobald die Lage es dort zulässt.“
       
       „Ihr Ernst? Alle?“, geben die Bild-Redakteure daraufhin zurück. Ob die
       Überraschung gespielt oder authentisch ist, sei dahin gestellt. Jedenfalls
       spielen Bild und Lindner weiter elegant Pingpong. Während des Spiels
       referiert der FDP-Chef meist nur die herrschende Rechtslage. Es klingt aber
       anders, und natürlich hat Lindner darauf spekuliert, dass Bild die
       Überschrift wählen würde, die sie dann gewählt hat: „Alle Flüchtlinge
       müssen zurück!“
       
       ## Der Ton macht die Musik
       
       Der wichtigste Bestandteil jeder Rede ist aber das Argument, das gerne
       wiederholt werden darf, damit es auch sicher bei der Hörerin ankommt. Jedes
       Mal, wenn Lindner also eine „brutale Wahrheit“ adressiert hat, setzt er mit
       der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz nach. Das passiert in diesem
       gar nicht so langen Interview immerhin drei Mal.
       
       Über Flüchtlinge, denen Deutschland Schutz gewährt, sagt er: „Wenn Frieden
       herrscht, müssen Flüchtlinge zurückkehren, wenn sie nicht die Kriterien
       eines neuen Einwanderungsgesetzes erfüllen, das ihnen einen neuen
       Aufenthaltsstatus verschafft.“
       
       Über die Syrer, die vor Assad geflohen sind, sagt er: „Aber am Ende, wenn
       es in Syrien wieder sicher ist, muss der Flüchtlingsschutz in Deutschland
       erlöschen. Dann sollte man sich um legalen Daueraufenthalt bewerben können.
       Aber wenn man unsere Kriterien nicht erfüllt, muss man gehen.“
       
       Zu den Flüchtlingen des Balkankriegs sagt er: „Um die 90 Prozent der
       damaligen Flüchtlinge sind später wieder gegangen. Leider haben wir damals
       einen Fehler gemacht. Es gab keine legale Bleibemöglichkeit. Dafür müssen
       wir heute neues Recht schaffen.“
       
       ## Er spricht die Schizophrenie der Wähler an
       
       Lindner hat gute Antennen für die gegenwärtige Gemütslage, den Pathos der
       Deutschen. Die Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge betrachten sie
       mit Skepsis. Aber dass rigide Abschottung weder realpolitisch durchsetzbar,
       noch wünschenswert ist, wissen die meisten doch ganz genau. Und schließlich
       gibt es eine große Zahl von Menschen im Land, die wie Lindner die
       historische Entscheidung der Kanzlerin für richtig halten, die Grenzen
       angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe nicht zu schließen.
       
       So zeigt sich Lindner als Redner, der eine wesentliche rhetorische Maßgabe
       verinnerlicht hat, die viele Politiker erstaunlich oft ignorieren: Der Ton
       macht die Musik. Beim Flöten seiner Töne ist Lindner Meister. Ihm gelingt
       der unmöglich scheinende Spagat, erfolgreich die Schizophrenie der Wähler
       anzusprechen, die sich vor Flüchtlingen irgendwie fürchten, aber als
       weltoffene, liberale und fortschrittliche Menschen die Segnungen der
       Globalisierung begrüßen.
       
       ## Vielleicht erweist Lindner uns allen einen Dienst
       
       Ist das Manipulation? Nein, das ist Überzeugungsarbeit, die ohne die
       bösartige Verleumdung und Verächtlichmachung Andersdenkender und Schwacher
       auskommt, weswegen sie mancher tendenziell verunsicherten Wählerin
       entgegenkommen könnte, die ihre Stimme nur ungern einer Partei mit
       unübersehbarem Faschismusproblem geben möchte.
       
       Wenn Christian Lindner mit seiner Rhetorik der AfD ein paar Prozent der
       Wählerstimmen entwinden sollte, wird er nicht nur seinem Ruf als Stratege
       und Rhetoriker gerecht geworden sein. Vielleicht hat er uns allen einen
       Dienst erwiesen.
       
       7 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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