# taz.de -- Maggie Nelsons Buch über die Farbe Blau: Stil got the blues
       
       > Die blaue Stunde, blau sein, blaue Flecken davontragen: In dieser Farbe
       > steckt die ganze Welt. Die Autorin Maggie Nelson widmet ihr ein ganzes
       > Buch.
       
 (IMG) Bild: Verschiedene Blautöne in Schleswig-Holstein, Plön
       
       Es ist nicht immer einfach, zwischen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit zu
       unterscheiden. Damit es gelingt, sind gute Beispiele notwendig, eines davon
       könnte das neue Buch der US-Autorin Maggie Nelson sein, das unter dem Titel
       „Bluets“ eine bestimmte Empfindlichkeit behandelt, nämlich die, mit der sie
       auf die Farbe Blau reagiert – auf empfindsame Weise, könnte man hinzufügen.
       
       Von Anfang an ist alles da: Gleich auf der ersten Seite, auf der knapp drei
       der insgesamt 240 Paragrafen des Werkes zu lesen sind, fallen all die
       Begriffe und Wendungen, denen Nelson nachgeht. Dass sie sich in eine Farbe
       verliebt habe, schreibt sie, und auch, dass sie sich dagegen wehrte und
       dass das Blau „ein heimlicher Code sei“, und vor allem, dass es sich um
       einen „Wahn aus freien Stücken“ handele bei ihrer Leidenschaft für eine
       Farbe und all die Phänomene, in denen sie auftritt.
       
       Die blaue Stunde ist jene, in der das Tageslicht eigentlich schon ganz
       verschwunden ist, in der es aber noch hell ist, oft keine fröhliche Zeit,
       blau zu sein heißt besoffen sein (zumindest im Deutschen), absterbende
       Körperteile laufen zunächst blau an, und wer den Blues hat, weiß vielleicht
       weniger von der gleichnamigen Musik zu berichten als von dem Gefühl
       durchdringender, aber auch unbestimmter Traurigkeit, nach dem sie benannt
       ist.
       
       Leonard Cohen schrieb ein Lied über einen berühmten blauen Regenmantel,
       Novalis schickte Heinrich von Ofterdingen auf die Suche nach der blauen
       Blume, Mallarmé fühlt sich vom Azurblau geradezu verfolgt, keine
       Farbtheorie ohne Blau.
       
       ## „Album verschriftlichter Gedanken“
       
       All diese Phänomene sind Teil von Maggie Nelsons Prosagedicht (sie selbst
       spricht an einer Stelle von einem „Album verschriftlichter Gedanken“) über
       die Farbe Blau, das im Original bereits 2009 erschien, in Jan Wilms
       Übersetzung aber nun der deutschen Erstveröffentlichung ihres Memoirs „Die
       Argonauten“ im vergangenen Jahr nachfolgt.
       
       „Bluets“ begegnen Maggie Nelson als Kornblumen auf einem gleichnamigen
       abstrakten Gemälde von Joan Mitchell, als französischer Name einer Blume,
       die sie noch nicht kennengelernt hat und deren botanische Identität sie
       erst zum Ende des Buches aufklärt.
       
       Es spricht sehr für die sensible Übersetzung des Textes, dass der
       Originaltitel erhalten geblieben ist und seine Bedeutung damit während der
       Lektüre lange Zeit in der Schwebe gehalten wird. Damit wird auch die
       deutsche Übersetzung dem Verfahren von Nelson gerecht, die die Geschichte
       vom Ende einer Liebesbeziehung nicht linear oder einer argumentativen
       Folgerichtigkeit entsprechend erzählt.
       
       Stattdessen lässt sie einzelne Erinnerungsfetzen in einzelnen Paragrafen
       aufscheinen, die zwischen anderen schweben, die sowohl nüchterne
       Feststellungen („237. In jedem Fall zähle ich nicht mehr die Tage.“) als
       auch aphoristisches Zitat („77. Warum sollte ich mich einsam fühlen? Ist
       unser Planet nicht in der Milchstraße? (Thoreau)“), Miniaturerzählung oder
       erkenntnistheoretische Reflexion sein können.
       
       Dieses Vorgehen leitet sich aus dem Wunsch ab, ihre sich ständig
       verändernde Empfindung der Farbe Blau zu schildern und damit begreifbar zu
       machen, wie sich ihre Wahrnehmung immer weiter radikalisiert, in dem sie
       immer empfindlicher wird.
       
       Das Verfahren, das sie dabei entwickelt, folgt dem, was Silvia Bovenschen
       in einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 als Idiosynkrasie beschrieben hat,
       jenen Zustand, der sowohl eine „eigene oder eigentümliche Mischung“
       beschreibt als auch eine „Über-Empfindlichkeit“, wie auch der Titel von
       Bovenschens Buch lautet.
       
       ## Vertrakte Vermischung
       
       In einem ersten Essay beschreibt sie darin, dass diese Über-Empfindlichkeit
       nicht nur eine schrullige Reizbarkeit ist, die sowohl von bestimmten
       Redewendungen, Gerüchen, Gegenständen ausgelöst werden kann, sondern dass
       „Idiosynkrasie aus einer Konstellation [entsteht]“, mehr noch: dass sie
       selbst eine Konstellation ist.
       
       Die hoch ausgefahrene Eigentümlichkeit, als die man Idiosynkrasie vor allem
       in der englischsprachigen Verwendung des Begriffs bezeichnet, wie
       Bovenschen unter Rückgriff auf Richard Rorty zeigt, wird schließlich zu
       einer „vertrakten Vermischung alltagspraktischer und ästhetischer
       Elemente“.
       
       In „Bluets“ wird jene Vermischung zum wichtigsten Prinzip des Textes, der
       sich dem „Wahn aus freien Stücken“ nicht nur in Form einer besonderen
       Beziehung und Wahlverwandtschaft zur Farbe Blau hingibt, sondern auch in
       dem wilden Wechsel von Banalität, Intimität und philosophischer Reflexion.
       
       Vermischungswahn war bereits in „Die Argonauten“ zu beobachten, wo er auch
       mit einem mächtigen Schutzheiligen versehen wurde. Als Anrufung des
       Poststrukturalisten Roland Barthes könnte auch „Bluets“ gelesen werden,
       gleichzeitig übersteigt Nelsons Mut zur Ausstellung ihrer Subjektivität
       Barthes’ transgressive Experimente zwischen Theorie, Literatur und
       Autobiografie bei weitem.
       
       ## Vorliebe für S/M grundierte Sexszenen
       
       Während das in jenen Szenen bewundernswert ist, in denen sie beispielsweise
       ihre Freundschaft zu einer durch einen Unfall schwer verletzten Freundin
       und ihre Lektüre der Farbtheorie Wittgensteins schildert, wird die Mutprobe
       an anderer Stelle fragwürdig. Das gilt insbesondere für die durch eine
       Vorliebe für S/M grundierte Sexszenen, die Nelson einbaut. Einige von ihnen
       etablieren die Intimität und den körperlichen Schmerz, den das Vermissen
       eines geliebten Menschen bedeuten kann, als Thema des Buches, anderswo ist
       die Funktion der Sexszenen weit weniger klar.
       
       Es mag sein, dass die Mitteilung, dass man sich an einem Nachmittag „zum
       Ficken“ im New Yorker Chelsea Hotel einfindet (Leonard Cohen, ick hör’ dir
       trapsen), als schlichte Markierung eines bestimmten Milieus angelegt ist,
       mit dem gleichen Stellenwert, den die Beschreibung eines Supermarktbesuchs
       in anderen literarischen Texten hat.
       
       Aber auch nach mehrmaliger Lektüre und mit größtem Wohlwollen ist es mir
       nicht gelungen, mir diese Szene nicht in Form eines Comics vorzustellen, in
       dem neonfarbene Strotzpfeile mit dem Verweis „super berühmtes Hotel!!“,
       „echt Boheme!!“ oder „geil verwegen!!“ auf den intellektuellen
       Matratzensport zeigen. Natürlich ist auch das eine Idiosynkrasie, und es
       gäbe Gründe dafür, sie aus einer Rezension auszuschließen. Die Gründe
       dafür, sie stattdessen starkzumachen, verweisen aber auf die Kraft von
       Nelsons Buch.
       
       ## Anderes in Gang bringen
       
       Runde, wohl geformte Erzählungen und Argumente sind eine schöne Sache, sie
       sind aber nicht Nelsons Sache. „Bluets“ ist wie ihre anderen Bücher kein
       Text, der ein Thema oder ein Phänomen stillstellt, indem er es erschöpfend
       beschreibt. Erschöpfende Behandlungen machen vor allem müde, Nelson macht
       einen wach.
       
       Dieses hier ist ein Buch, das nicht darauf zielt, andere Texte überflüssig
       zu machen, sondern darauf, diese zu ermöglichen und in Gang zu bringen. Und
       sei es, um ihr zu widersprechen, nicht nur in ihrem Verfahren, sondern auch
       in den von ihr geschilderten Vorlieben oder ihren Lektüren, die alle
       nahelegen, dass sich das Denken im Allgemeinen einer Auseinandersetzung mit
       Farbe in Momenten existenzieller Intensität widmet, bei lebensbedrohlicher
       Krankheit beispielsweise – und dass in diese Kategorie eben auch
       Liebeskummer gehört, setzt all jene in ihr Recht, die einmal daran gelitten
       haben.
       
       Das Prinzip des „Albums“, von dem Nelson selbst spricht, ist einerseits
       wiederum als ein Hinweis auf Barthes zu verstehen, der in verschiedenen
       Schriften von den „Mythen des Alltags“ bis zu „Über mich selbst“ immer
       wieder mit dieser Form spielte; in „Über mich selbst“ sogar in Form eines
       Fotoalbums. Aber auch in neueren literarischen Texten der Literatur wird
       diese Form aufgegriffen und weiterentwickelt, siehe Claudia Rankines
       „Citizen. An American Lyric“ (ins Deutsche übersetzt von Uda Strätling und
       bei Spector Books erschienen), das als Beispiel genannt werden kann und –
       anders als „Bluets“ – auf Illustrationen setzt und ebenfalls zwischen
       verschiedenen poetischen Formen navigiert.
       
       ## Intellektuelle und ästhetische Brillanz
       
       Ein weiteres Beispiel wäre das „Versepos“ „Verbannt!“ von Ann Cotten, in
       dem wiederum andere Wege gegangen werden, um Lyrik aus der Kurze-Texte-Ecke
       zu holen (in der sie bei nur etwas genauerer historischer Betrachtung
       vielleicht auch nie wirklich zu Hause war).
       
       Diese Beispiele sind fast willkürlich herausgegriffen, weniger willkürlich
       ist die Bemerkung, dass es sich dabei durchweg um Autorinnen handelt, die
       sich auf herausfordernde Weise mit lyrischen Traditionen und den
       Möglichkeiten ihrer formalen Erneuerung (beispielsweise im Medium der
       Philosophie) auseinandersetzen. Auch das ist keineswegs neu oder
       überraschend, spektakulär ist jedoch die intellektuelle und ästhetische
       Brillanz des Prozesses, der sich daran zeigt und nach wie vor Emanzipation
       heißen muss.
       
       7 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanna Engelmeier
       
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