# taz.de -- Die Wahrheit: Nagelharter Zehentee
       
       > Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (12 und Ende). Heute: Zu Gast bei
       > Stalins alter Friseurin im russischen Rostow am Don.
       
       In zwölf Folgen hat den Sommer über das reisefreudige Völkchen der
       Journalisten und Schriftsteller von ihren Expeditionen durch aller Damen
       und Herren Länder berichtet und einige der abseitigsten Absteigen des
       Erdenrunds vorgestellt. Mit der heutigen Folge beenden wir unsere kleine
       Wahrheit-Sommerserie. Vorerst. Vielleicht geht es ja im nächsten Sommer
       weiter mit den „unwirtlichsten Unterkünften der Welt“ … 
       
       Warum nur war mir nichts aufgefallen, fragte ich mich später. Als mich auf
       dem Vorplatz des Busbahnhofs der südrussischen Stadt Rostow am Don
       uniformierte Beamte angesprochen haben, die eine Schärpe trugen, auf der
       „Touristenpolizei“ stand, dachte ich mir nichts Schlechtes. „Kann ich Ihnen
       helfen?“, fragte mich einer der beiden Beamten in bestem
       Spätaussiedlerdeutsch. Er lächelte dabei. Oder grinste er? War er wirklich
       freundlich oder hämisch? Es sind diese Fragen, die ich mir stelle, seit ich
       die Metropole am Fluss wieder verlassen habe.
       
       „Geradeaus bis zur großen Kreuzung, bei Lenin links abbiegen, dann sehen
       Sie schon die schwarzgraue Fassade.“ Ich folgte den Hinweisen der
       Touristenpolizisten und fand am beschriebenen Haus ein kleines
       handgeschriebenes Schild mit dem Namen des Hotels, das ich gebucht hatte:
       „Hollywood 2“. Ich war richtig.
       
       Weil die Tür verschlossen war, klingelte ich. Nichts rührte sich. Wieder
       klingelte ich. Nach etwa einer halben Stunde öffnete eine alte Frau die Tür
       und begann zu schimpfen. Ich solle mich bloß nicht beschweren, dass ich so
       lange habe warten müssen, sagte sie. Sie habe es auch nicht leicht. Um sich
       das immer teurer werdende Leben leisten zu können, arbeite sie als
       Bettlerin in Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“. Die Schwarte lese
       zwar heutzutage kaum einer mehr, aber ab und zu greife doch noch jemand zu
       dem Buch und dann müsse sie eben in die Rolle der Mutter des unehelichen
       Kindes von Fjodor Karamasow schlüpfen.
       
       Meine herausragenden Russischkenntnisse erlaubten mir zwar zu verstehen,
       was sie gesagt hatte. Was sie gemeint hatte, vermochte ich indes nicht zu
       ergründen. Während ich noch über den Sinn des eben gehörten nachdachte,
       fuhr sie mich an. „Und jetzt zeigen Sie Ihren Pass!“
       
       ## Nächtliche Bauarbeiten
       
       Da ich als erfahrener Russlandreisender wusste, dass die Kontrolle der
       Reisedokumente bisweilen halbe Tage in Anspruch nehmen konnte, fragte ich,
       ob ich mein Gepäck auf mein Zimmer bringen könne. „Da können Sie erst rein,
       wenn die Bauarbeiter da sind“, sagte die Alte an der Rezeption und begann
       das Foto in meinem Pass mit einem Bleistift der Härte 5B abzupausen. „Der
       KGB, Sie wissen“, sagte sie, als ich sie fragend ansah.
       
       Hinter mir lag eine anstrengende Reise, die mich von den Tschuwanzen zu den
       Inguschen, über einen Abstecher zu den Nenzen bis in das Gebiet der
       Udmurten geführt und mich trotz meiner hervorragenden körperlichen
       Verfassung doch auch angestrengt hatte. Und so fragte ich die Alte, ob sie
       mir einen Stuhl anbieten könne. „Das ist bei uns grundsätzlich nicht
       vorgesehen“, meinte sie. Ich nickte wissend und antwortete: „Der KGB, ich
       weiß.“
       
       Die Frau erinnerte mich stark an die Flurdame im längst abgerissenen Hotel
       Rossija unweit des Roten Platzes in Moskau, deren Aufgabe es war, die
       Betten missliebiger oder verdächtiger Gäste im Auftrag der
       Sicherheitsbehörden zu verwanzen. Dabei ging es nicht um das Abhören der
       Gäste – dafür waren die Dienste selbst zuständig –, sondern um das
       Ausbringen von Bettwanzen in die Matratzen der betreffenden Zimmer.
       Deschurnajas wurden diese bösen Geister genannt, die über die Flure der
       sowjetischen Hotellerie zu wachen hatten. Ich hatte diese Spezies Mensch
       eigentlich für ausgestorben gehalten.
       
       Ob sie denn wenigstens eine kleine Erfrischung für den Gaumen eines
       weitgereisten Russlandkenners habe, hätte ich mich beinahe nicht zu fragen
       getraut, derart schüchterte mich die Frau ein, deren Buckel mindestens so
       groß war wie der Jamantau, der höchste Berg im südlichen Teil des Urals,
       den ich vor etlichen Jahren einmal höchstselbst bestiegen hatte.
       „Vielleicht möchten Sie eine Tasse Tee?“ Beinahe freundlich klang, was die
       Alte, deren Falten im Gesicht gewiss tiefer waren als der Baikalsee, auf
       die Bitte hin, die ich dann doch geäußert hatte, antwortete.
       
       ## Reaktionen im Darmtrakt
       
       Als ich an der Tasse nippte, die sie mir gereicht hatte, hörte ich sie
       kichern. „Wie finden Sie meinen Tee?“, fragte sie mich und kicherte weiter,
       als ich meinte, dass mir das Gesöff, so ungewöhnlich es schmecken würde,
       ganz gut mundete. Ich blieb bei meinem Urteil über den Tee, obwohl auch ich
       es, nun ja, merkwürdig fand, dass ich gerade einen Aufguss ihrer Zehennägel
       trank. Die habe sie sich, so erklärte die Alte, zu Zeiten des Personenkults
       geschnitten und gemahlen. Das entstandene Granulat habe sie dann in aus den
       Haaren Stalins selbst gestrickte Teebeutel gefüllt. Bis heute gebe ihr der
       Aufguss die Kraft, die sie für ihre beiden Jobs als Romanfigur und
       Rezeptionistin brauche. Meinen Blick aufnehmend meinte die Alte, ich
       brauche mich nicht zu wundern, sie sei damals Stalins Friseurin gewesen.
       „Ja dann“, sagte ich und nahm noch einen Schluck von dem Getränk, das in
       meinem Magen Dinge auslöste, die alsbald heftige Reaktionen auch in meinen
       Darmtrakt hervorriefen.
       
       Als die Dunkelheit schon lange über die Stadt hereingebrochen war, wurde
       die Alte endlich fertig mit dem Abpausen meines Passes, setzte ihr
       fiesestes Lächeln auf und meinte, nun müssten die Bauarbeiter wirklich
       gleich da sein. In der Tat ließ mich kurz darauf ein Trupp angetrunkener
       Maurer in mein Zimmer, und während ich mich zum Schlafen fertig machte,
       stemmten die Männer die Außenwand auf, was ich für eine gar nicht mal so
       schlechte Idee hielt, war in dem Zimmer doch zuvor kein Fenster gewesen.
       
       An Schlaf war bei dem Baulärm natürlich nicht zu denken, und so fragte ich,
       warum die Bauarbeiten eigentlich in der Nacht stattfinden würden, worauf
       mir einer der Bauarbeiter zur Antwort gab: „Anders lassen sich die
       niedrigen Preise doch gar nicht rechtfertigen.“ Nun, das immerhin leuchtete
       mir ein.
       
       Am nächsten Morgen konnte ich in der Scherbe, die wohl daran erinnern
       sollte, dass an dieser Stelle einmal ein Spiegel hing, sehen, dass wirklich
       stimmt, was über Bettwanzen geschrieben steht. Sie beißen ganze Straßen in
       den Körper. Ich sah aus wie der heilige Sebastian, nachdem man die Pfeile,
       die ihn durchbohrt hatten, aus seinem Körper gezogen hatte. Dass ich zudem
       zitterte und schwitzte, als hätte ich einen Marathonlauf bei vierzig Grad
       Hitze absolviert, hatte, wie ich vermutete, noch mit den Spätfolgen des
       Zehennageltees zu tun.
       
       Als mir die Alte vom Empfang zum Frühstück dann eine Tasse Tee angeboten
       hat, verließ ich fluchtartig das Hotel. Am Busbahnhof angekommen, sah ich
       die zwei Beamten der Touristenpolizei wieder, die mir gestern den Weg
       gewiesen hatten. Sie lächelten mir zu. Jetzt erst begriff ich, was ihre
       Aufgabe war. Sie waren zur Touristenabwehr eingesetzt. Die hatten sie in
       meinem Fall jedenfalls erfüllt. Denn eines stand fest: Nach Rostow am Don
       würde ich nie wieder reisen.
       
       15 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Rüttenauer
       
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