# taz.de -- Die Wahrheit: Verschämte Stellvertreter
       
       > Besuch bei einer Agentur, die von Flug- bis Autoscham sämtliche
       > unangenehmen Klimagefühle ihrer zahlungswilligen Kunden übernimmt.
       
       Die Wände sind nicht verputzt, auf dem Boden sind eher notdürftig ein paar
       Teppiche ausgebreitet und an den Fensterrahmen kleben noch die
       Werbehinweise des Herstellers. Der nüchterne Raum, in dem sich an diesem
       Samstagvormittag etwa 100 Menschen versammeln, ist nicht viel mehr als ein
       Provisorium. Seit etwa einem Jahr kommen dort Menschen zusammen, um
       gemeinsam Schamdienste zu verrichten.
       
       Menschen aus allen Generationen treffen sich in dem ehemaligen Kühlhaus
       einer Schlachterei: Männer mit weißen Rauschebärten, wursthaarige
       Jugendliche, Frauen, die ihre gebatikten T-Shirts so gut gepflegt haben,
       dass sie nach gut dreißig Jahren immer noch zu gebrauchen sind. Es ist
       ruhig in der Halle. Wie eine Andacht mag diese stille Versammlung auf die
       Beobachter wirken. Doch es ist kein Gottesdienst, der da veranstaltet wird.
       Die 100 Menschen, die so kontemplativ und gelassen wirken, sind gekommen,
       um gemeinsam zu arbeiten. Sie sind professionelle Fremdschämer.
       
       „Scham ist das große Thema unserer Zeit“, erläutert Otto Hankel. Als sich
       Greta Thumberg, die schwedische „Nervensäge“, wie er sie augenzwinkernd
       nennt, vor einem Jahr das erste Mal vor ihre Schule gesetzt hat, um für den
       Klimaschutz zu schwänzen, ist ihm die Idee für sein Business gekommen. Der
       Mittvierziger, der mit seinen kurz geschorenen Haaren und seinem
       krokodilbesetzten Polohemd so aussieht, als würde er den Klimawandel am
       liebsten mit seinen Golfschlägern vertreiben, bezeichnet sich selbst als
       überaus umweltbewusst.
       
       ## „Ich hätte mich damals wirklich gerne geschämt“
       
       „Natürlich bin ich kein Öko“, sagt er und zeigt auf seinen BMW. „Aber die
       Umwelt liegt mir dann schon am Herzen.“ So sehr, dass ihn im Oktober des
       vergangenen Jahres ein unerwartet schlechtes Gewissen plagte, nachdem er
       von Frankfurt nach München geflogen war. „So etwas kannte ich bis dato
       nicht.“ Für Hankel begann an diesem Tag ein neues Leben.
       
       Den Moment bezeichnet der Selfmademan heute als sein Erweckungserlebnis.
       Ihm war sofort klar, dass er sich umgehend zu schämen hatte. Das Wort
       Flugscham war damals schon in vieler Munde. Nun hatte es ihn erwischt.
       „Glauben Sie mir“, ruhig fixiert Hankel jetzt mit den Augen seinen
       Gesprächspartner. „Ich hätte mich damals wirklich gerne geschämt.“ Hankel
       lehnt sich zurück. „Aber ich hatte beim besten Willen keine Zeit dafür.“
       
       ## Geschäftsidee nach Inlandsflug
       
       Termine habe er gehabt, stand kurz vor wichtigen Vertragsabschlüssen mit
       großen Playern in der Branche. „Amazon, Google, Microsoft …“, so Hankel.
       Mit einer kleinen Textnachricht habe dann all das begonnen, was er sich
       hier bis heute aufgebaut hat, erzählt er. „Habe Mist gebaut. Inlandsflug
       Frankfurt–München. Ich liebe dich!“ Mehr stand nicht in der WhatsApp, die
       er seiner Freundin geschickt habe. Die Antwort kam postwendend. „Das ist ja
       schrecklich. Ich denk ganz fest an dich. Kim.“ Er habe sofort, so Hankel,
       gespürt, dass sich Kim für ihn geschämt hat. „Verstehen Sie, ich brauchte
       mich nicht mehr selbst zu schämen. Kim hat das für mich erledigt.“ Eine
       neue Geschäftsidee war geboren.
       
       Heute kann er über mangelnde Kundschaft nicht klagen. Das Geschäft läuft.
       Seine Agentur für Fremdscham kann die Nachfrage kaum noch stillen. Immer
       mehr Menschen wenden sich über die kundenfreundliche Shame-App an Hankels
       mittlerweile weit über 300 Mitarbeiter. Jede Woche stelle er neue Bewerber
       ein – für das Callcenter oder direkt für den Schambereich, das Herz seines
       Unternehmens.
       
       Beim Business mit dem schlechten Umweltgewissen seien die Grenzen des
       Wachstums noch lange nicht erreicht. Es seien nicht nur die teuren Pakete,
       die über die App gebucht würden. Wer sich die Scham für einen Inlandsflug
       abnehmen lassen möchte, der muss bis zu 600 Euro bezahlen. „Dafür schämt
       sich eine Mitarbeiterin aber auch mindestens einen ganzen Tag lang.“
       
       ## Eine detaillierte Preisliste in der App
       
       Erstschämer würden natürlich Rabatte bekommen, erklärt Hankel. „Wir gehen
       da in gewisser Weise schon auch in Vorleistung“, sagt er. Billiger kommt
       weg, wer sich die Scham über das Verwenden einer Plastiktüte abnehmen
       lassen möchte. Wer wissen möchte, was es kostet, sich das schlechte
       Gewissen wegen eine Fahrt mit dem SUV zum nächstgelegenen Bäcker reinigen
       zu lassen, der findet in der App eine detaillierte Preisliste.
       
       „Ich habe mich schon lange nicht mehr selbst geschämt“, sagt Joachim
       Frauendorfer. Er steht neben seinem nagelneuen Porsche Cayenne und wirft
       einen anerkennenden Blick über das Firmengelände der Fremdschamagentur.
       „Klar weiß ich, dass es scheiße ist, heute noch einen SUV zu fahren“, sagt
       er. Deshalb sei es ihm ja auch so wichtig, dass sich jemand für ihn schämt.
       
       Frauendorfer ist Stammkunde bei Hankel. Der lädt in regelmäßigen Abständen
       seine besten Kunden ein, damit sie die Mitarbeiter, die sich für sie
       schämen persönlich kennenlernen können. Frauendorfer ist beeindruckt von
       der Begegnung mit seiner Schämerin. Andrea Reifensteiner hat zwar nicht
       viel Zeit für den Mann, dem sie in gewisser Weise ihren Job verdankt, ein
       paar Worte konnten die beiden immerhin wechseln. Nun ist Frauendorfer
       voller Bewunderung für die Frau, die schon seit acht Jahren vegan lebt, den
       Behörden ihren Führerschein zurückgeschickt hat und im Urlaub nur an Orte
       verreist, die sie zu Fuß erreichen kann. „Ich könnte das nicht“, sagt
       Frauendorfer mit glasigen Augen.
       
       ## Anwerbung auf dem Kirchentag
       
       „Da treffen oft Welten aufeinander“, meint Hankel. Die Dankbarkeit der
       Kunden sei für ihn mindestens ebenso wichtig wie der Umsatz, den er mit
       seinem Geschäft mache. Dass er schon so bald voller Zufriedenheit über
       seine Zahlen schauen würde, hätte er zunächst nicht gedacht. Er habe sich
       nicht vorstellen können, überhaupt genug Leute zu finden, die bereit sind,
       sich für andere zu schämen. Das Recruiting, mit dem er auf dem
       Evangelischen Kirchentag begonnen hat, habe ihn dann schnell eines Besseren
       belehrt. „Da finden Sie genug Leute, die sich sowieso den ganzen Tag
       schämen für die Schlechtigkeit der Welt“, sagt Hankel. Viele hätten
       gezögert bei der Vorstellung, Geld anzunehmen für etwas, was sie ohnehin
       den lieben, langen Tag täten. Dann hätten sie allerdings angeheuert. Hankel
       reibt Zeigefinger und Daumen aneinander und grinst.
       
       Nun brummt der Laden. Ein neues Fremdschamzentrum wird gerade gebaut. 500
       Schämerinnen und Schämer sollen bald dort arbeiten. Das gemeinsame Schämen
       habe sich als unheimlich effektiv erwiesen, so Hankel. Die Mitarbeiter
       unterstützen sich gegenseitig, wenn es gilt, sich für einen
       Interkontinentalflug zu schämen. „Da wird auch schon mal geweint“, sagt
       Hankel und wirft einen Blick über seine Mitarbeiter. „Ohne Greta“, sagt er
       dann, „wäre all das hier nicht möglich.“ Eine Träne läuft über seine Wange:
       „Wir sollten ihr unendlich dankbar sein.“
       
       24 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Rüttenauer
       
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