# taz.de -- Die Wahrheit: Abnormitäten unter der Gürtellinie
       
       > Warum ist das Wort „Komiker“ derzeit zum Schimpfwort geworden? Eine
       > historische Herleitung eines aktuellen Konflikts.
       
       Karl Valentin, Münchner Komiker, Sohn eines Ehepaares.“ Ein Satz, wie er
       nur von Karl Valentin selbst stammen kann. 1926 hat er ihn geschrieben.
       „Karl Valentin. Eine Selbstbiographie“ heißt der Text, dem er entstammt und
       in dem jede Menge des schönsten Unsinns steht. „Karl Valentin erlernte aus
       Gesundheitstrücksichten im Alter von zwölf Jahren die Abnormität und zeigte
       nach reiflicher Überlegung Talent zum Zeitungslesen.“ Solche Sachen. Er war
       eben ein großer Komiker, einer, der immer so tat, als könne er gar nicht
       anders, als so zu sein, wie ihn die Leute auf der Bühne sahen. Und
       selbstverständlich bezeichnete er sich als Komiker. Er war ein stolzer
       Komiker. Komiker, das war mal so etwas wie ein Ehrentitel.
       
       Heute ist es beinahe schon ein Schimpfwort. Auf jeden Fall wird es immer
       häufiger abwertend benutzt. Dass der frisch gewählte ukrainische Präsident
       Wolodimir Selenski beinahe von jedem Medium als Komiker ohne jede
       politische Erfahrung bezeichnet wird, ist gewiss nicht als Kompliment
       gemeint. Ein Komiker kann ja nichts können. Da ist sogar ein Boxer noch
       besser. Als man den unerfahrenen Ex-Profi-Boxer Witali Klitschko zum
       Bürgermeister von Kiew gewählt hatte, schwang in der Berichten diese Art
       Abfälligkeit jedenfalls nicht mit. Boxer haben heutzutage einen besseren
       Ruf als Komiker.
       
       Hätte man es besser gemeint mit dem guten Herrn Selenski, dann hätte man
       ihn vielleicht als TV-Produzenten bezeichnet, der er ja auch ist. Oder als
       Fernsehsatiriker, was dann schon beinahe ein Adelsschlag wäre. Auch wenn
       man ihn als Comedian bezeichnen würde, wäre das weit weniger abfällig als
       das Wort Komiker.
       
       Dabei war Comedian früher tatsächlich ein Schimpfwort – in
       gutbildungsbürgerlichen Kreisen jedenfalls. Als sich 1993 Kräfte wie Wigald
       Boning, Olli Dittrich und Esther Schweins für die TV-Sendung „RTL Samstag
       Nacht“ vor die Kameras stellten, da staunten die Leute nicht schlecht, dass
       es im deutschen Fernsehen möglich war, Sketche unter dem Titel „Kentucky
       schreit ficken“ zu etablieren. Das Spiel mit der Gürtellinie war Methode,
       und endlich wussten die Freunde des gepflegten Rollkragenkabaretts, die
       Apologeten der hintersinnigen Politpointe, was die unteren Schichten zum
       Lachen bringt.
       
       ## Comedians waren das Allerletzte
       
       Unterschichtenfernsehen war ein Wort, das man seinerzeit gern benutzt hat.
       Komiker haben sich diese Comedians nicht genannt. Vielleicht haben sie sich
       nicht getraut, diese Meister des Schlüpfrigen. „Mögen hätt ich schon
       wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut“, hätte das bei Karl
       Valentin geheißen. Die TV-Comedians der Privatfernsehfrühzeit hatten andere
       Pointen: „Darf ich Sie mal an die Bheke titten?“. Nicht einmal
       Toilettenpointeuse und Karnevalsprinzessin Annegret Kramp-Karrenbauer würde
       sich trauen, so ein Buchstabenverdreherwitzchen zum Besten zu geben.
       Comedians waren das Allerletzte. Das Wort Komiker benutzte eh kaum mehr
       einer.
       
       Dann kamen Anke Engelke, Bastian Pastewka und andere lustige Leute, die in
       einem anderen Sender des Privatfernsehens so gut gespielt hatten, dass fast
       schon nicht mehr aufgefallen ist, dass deren Rollen besonders dann gut
       angekommen sind, wenn sie besonders schlüpfrig waren. Wer hat ein Buch über
       Spaß im Bett geschrieben? Klar, eine Erika von Schaumburg-Nippel. Das war
       zwar nicht viel besser als „gefickt eingeschädelt“, wie es in der
       „Wochenshow“ hieß, aber besser gespielt. Das Ansehen von Comedians begann
       zu steigen.
       
       Als dann das Internet schnell wurde, Facebook und andere Kanäle, die als
       sozial bezeichnet werden, mit sich gebracht hat, ist der Komiker gestorben.
       Die Leute schickten Videos in ihrem virtuellen Freundeskreis herum: „Das
       musst du dir anschauen!“ Comedy aus den USA fing an, viral zu gehen, wie es
       wohl heißt. Und wer nicht wusste, wer Jon Stewart war, wer noch nie dessen
       „Daily Show“ gesehen hatte, galt als Banause.
       
       Die Amis, hieß es, die verstehen was von Humor und sie sind dabei auch noch
       so kritisch. Kaum einer traute sich zu sagen, dass er eigentlich nicht gut
       genug Englisch kann, um die Scherze zu verstehen. Und noch weniger traute
       man sich zuzugeben, dass man noch nie etwas von den irren Tea-Party-Deppen
       gehört hatte, über die da ein Witz nach dem anderen gemacht wurde. Als
       Donald Trump die politische Bühne betrat, wurde US-Comedy noch viraler –
       und wichtiger. Deutsche Comedians wie Oliver Polak erklärten, dass deutsche
       Comedians keinen Humor haben. Und vor allem: Comedian war urplötzlich ein
       ehrenwerter Beruf geworden.
       
       Keiner wollte mehr Komiker sein. Nur noch die deutsche Wikipedia verwendet
       dieses Wort als kreuzbrave Übersetzung des englischen Comedian. Ansonsten
       scheint es mit Schimpf und Schande verbunden zu sein. Kein Wunder also,
       dass eine erfolgreiche deutsche Frau aus dem Humor-Business wie [1][Enissa
       Amani] sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, als Komikerin bezeichnet zu
       werden.
       
       ## Komiker als angesehener Beruf
       
       Kürzlich stand die junge Frau mit persischen Wurzeln und ganz viel
       Spannkraft im Haar, die 500.000 Follower auf Instagram mit eindeutigen
       Kommentaren zu all den Widerwärtigkeiten, die AfD-Heinis so absondern,
       hinter sich geschart hat, im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit einer
       SpiegelOnline-Autorin. Ein Streit, der zum Krieg zwischen neuen und alten
       Medien hochgejazzt wurde. Amani fühlte sich beleidigt, weil sie „Komikerin“
       genannt wurde. Man solle sie gefälligst „Comedienne“ nennen. Dass Komiker
       mal eine angesehene Berufsbezeichnung war, darauf kommt die kreuzbrave
       Netflix-Unterhaltungskünstlerin erst gar nicht. Sie hätte ja auch sagen
       können, sie sei nicht würdig, den Titel Komikerin zu tragen.
       
       Darauf ist man aber auch bei SpiegelOnline nicht gekommen, wo man sie
       gerade deshalb, weil der Rezensentin ein Auftritt von Amani nicht gefallen
       hat, als Komikerin bezeichnet hat.
       
       Und weil man bei SpiegelOnline gerade dabei war, bezeichnete man auch
       gleich Boris Palmer als Komiker, wahrscheinlich weil man dachte, dass man
       ihn damit besonders hart treffen könne. Der hatte es alles andere als
       komisch gefunden, dass die Deutsche Bahn Werbung mit Menschen macht, die
       anders aussehen, als Boris Palmer sich deutsche Bahnreisende vorstellt.
       Palmer hat es ernst gemeint. Und auch wenn man geneigt sein mag, hysterisch
       zu lachen, wenn der „Oberbürgermeister von Thüringen“ (Bild, Zeit.de)
       meint, wieder einmal etwas aussprechen zu müssen, was er selbst
       wahrscheinlich als traurige Wahrheit bezeichnen würde, lustig ist der Mann
       nicht, auch nicht komisch. Nein, Palmer ist kein Komiker. Niemand sollte
       ihm das recht geben, diese Bezeichnung zu tragen.
       
       Aber wie hätte es Karl Valentin gesagt? „Man soll die Dinge nicht so
       tragisch nehmen, wie sie sind.“
       
       4 May 2019
       
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