# taz.de -- Gerettete Kinder besuchen Berlin: Die Rückkehr der „Glücklichen“
       
       > Kindertransporte retteten 10.000 jüdische Kinder vor den Nazis. Melissa
       > Hacker organisiert nun für vier von ihnen eine Reise zu den
       > Kindheitsorten.
       
 (IMG) Bild: Das von Frank Meisler geschaffene Kindertransport-Denkmal an der Berliner Friedrichstraße
       
       taz: Frau Hacker, am 4. Juli wird eine Gruppe von teils über 90-jährigen
       Männern und Frauen aus der ganzen Welt am Berliner Hauptbahnhof ankommen.
       Wer sind diese Menschen? 
       
       Melissa Hacker: Unsere Gruppe besteht aus 18 Personen. Vier von ihnen haben
       den Holocaust überlebt, weil sie als jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland
       und aus den von den Nazis besetzten Ländern fliehen konnten. Ihre Eltern
       haben sie mit den Kindertransportzügen nach Großbritannien geschickt. Die
       anderen 14 Personen sind Kindertransport-Überlebende der zweiten
       Generation. Die „Kinder“ leben heute in den USA, verschiedenen europäischen
       Ländern und Australien.
       
       Ihr Verein The Kindertransport Association (KTA) hat diese „Kinder“ zu
       einer ungewöhnlichen Zugreise eingeladen. 
       
       Ja, zum 80. Jahrestag des ersten Kindertransportes wollten wir etwas
       Besonderes machen. Deshalb werden wir jetzt zusammen in die Städte
       zurückkehren, die die „Kinder“ einmal ihr Zuhause genannt haben. Wir werden
       dafür mit dem Zug fahren, so wie sie es damals tun mussten. Es ist nicht
       genau dieselbe Strecke, aber fast. Wir werden die Reise in Wien beginnen,
       kommen von dort nach Berlin und fahren dann mit dem Zug weiter in die
       Niederlande. Von dort werden wir mit der gleichen Fähre nach Großbritannien
       übersetzen, auf der auch die „Kinder“ damals fuhren.
       
       Ihr Verein hat seinen Sitz in New York, Sie sind die Präsidentin. Was ist
       die KTA? 
       
       Die KTA geht zurück auf die Initiative von Bertha Leverton. Sie war selbst
       ein „Kind“ und hat 1989 zum 50. Jahrestages des ersten Kindertransports die
       erste Zusammenkunft der überlebenden Flüchtlingskinder in London
       organisiert, also erst fünf Jahrzehnte nach dem Krieg. Sie müssen bedenken,
       dass Überlebende nach dem Holocaust lange Zeit nicht darüber sprechen
       konnten oder wollten, was sie erlebt hatten. Für die „Kinder“ hat das noch
       länger gedauert, denn sie hatten den Eindruck, dass sie die „Glücklichen“
       sind, die weggebracht wurden und überlebten, während Millionen andere
       starben. Unser Verein war von Anfang an ein generationsübergreifendes
       Projekt, das die überlebenden „Kinder“ und die nachkommenden Generationen
       zusammenbringen will.
       
       Haben Sie selbst auch einen familiären Bezug zu den Kindertransporten? 
       
       Ja, meine Mutter floh als Kind aus Wien. Leider brachte sie mir kein
       Deutsch bei, sodass wir jetzt in Ihrer Sprache sprechen könnten. Sie wollte
       nicht, dass ihre Kinder in ihrem neuen Zuhause Deutsch sprechen, in ihrem
       neuen Land, eine Sprache, in der sie so viel Schmerz erfahren hatte.
       
       Die KTA-Gruppe wird vier Tage in Berlin verbringen. Was steht auf Ihrem
       Programm? 
       
       Die Gewerkschaft Verdi wird unsere Gastgeberin sein und dafür sind wir
       dankbar. Gleich wenn wir in Berlin ankommen, werden wir das
       Kindertransport-Denkmal am Bahnhof Friedrichstraße besuchen. Wie Sie
       vielleicht wissen, war Frank Meisler, der Künstler, der das Denkmal
       geschaffen hat, selbst ein „Kind“. Auch das Jüdische Museum werden wir
       besuchen. Das bedeutet uns viel, weil ein Mitglied unserer Gruppe die
       Papiere und Briefe seiner Familie dem Archiv des Jüdischen Museums
       überlassen hat. Jetzt wird er hier zum ersten Mal die Dokumente seiner
       Familie hier im Archiv sehen können. Er wird auch das Grab seiner Familie
       am jüdischen Friedhof in Weißensee besuchen.
       
       Nimmt auch die Berliner Politik Ihren Besuch zur Kenntnis? 
       
       Ja, am Freitag werden wir im Abgeordnetenhaus empfangen, um
       Repräsentant*innen aus der Politik und dem jüdischen Leben in Berlin zu
       treffen. Auf dem Programm steht darüber hinaus noch die „Wir waren
       Nachbarn“-Ausstellung im Rathaus Schöneberg und die Blindenwerkstatt Otto
       Weidt, wo jüdische Blinde und Gehörlose im Zweiten Weltkrieg Arbeit finden
       konnten. Dann werden wir auch noch bei einem deutsch-syrischen Projekt für
       Geflüchtete zu Gast sein.
       
       Warum dieser Programmpunkt mit heutigen Geflüchteten? 
       
       Wie ich schon sagte, beschäftigt sich die KTA nicht nur mit der
       Vergangenheit, sondern möchte sich auch bei den gegenwärtigen Fluchtthemen
       einbringen. Unser Verein hat zudem die Mission, für Bildung über den
       Holocaust zu sorgen und bei den Problemen von geflüchteten Kindern heute
       Hilfestellung zu leisen. Ganz besonders ist für uns auch, dass wir
       Berliner*innen treffen werden, die als Kind oder in zweiter Generation den
       Holocaust überlebt haben.
       
       Wie empfinden die Überlebenden des Kindertransports das heutige Berlin? 
       
       Es ist kompliziert. 2014 veranstaltete die World Federation of Jewish Child
       Survivors of the Holocaust & Descendants, also die weltweite Organisation
       von jüdischen Menschen, die als Kind den Holocaust überlebt haben, ihre
       erste Konferenz hier. Natürlich gab es damals auch Bedenken, aber viele
       Teilnehmende waren auch glücklich, wieder in Berlin zu sein. Die „Kinder“
       machen sich natürlich auch Sorgen, was die Zunahme von Antisemitismus
       überall auf der Welt angeht. Aber ich denke, die meisten von ihnen werden
       angenehm überrascht sein, wie sich die Stadt entwickelt hat. Die Reise ist
       dafür da, eine andere Erfahrung von Berlin zu ermöglichen. Also es gibt
       natürlich negative Gefühle, aber auch eine gewisse Offenheit.
       
       In Berlin wird derzeit viel über einen neuen Antisemitismus diskutiert –
       auch wegen konkreter Vorfälle. 
       
       Ja, Leute haben mich tatsächlich gefragt: Ist es dort sicher? Aber ich
       hoffe und glaube, dass es das ist. Aufgrund seiner Geschichte ist
       Deutschland sensibler für Antisemitismus geworden. Angst und Hass nehmen
       überall in der Welt zu, wir müssen überall damit klarkommen. Unsere Reise
       möchte eine Gelegenheit bieten, voneinander zu lernen und auf beiden Seiten
       die Diskussion zu eröffnen.
       
       3 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Hunglinger
       
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