# taz.de -- Musical zur Wohnungsfrage: Das Böse hat ziemlich gute Musik
       
       > Mit einem Musical von Christiane Rösinger startete in Berlin das Festival
       > „Berlin bleibt“ zur Stadt- und Wohnungspolitik.
       
 (IMG) Bild: „Stadt unter Einfluss“ mit Christiane Rösinger in der Mitte
       
       Schon mal einen Berberitzen-Ingwer-Cocktail probiert? Ein Ballett der
       Rollkoffer gesehen? Zwei Dinge, die man in vier Jahrzehnten Berlin noch
       nicht hatte, und doch gibt es sie. In [1][Christiane Rösingers] Musical
       „Stadt unter Einfluss – das Musical zur Wohnungsfrage“, das am Donnerstag
       im Hebbel am Ufer (HAU1) Premiere hatte, haben der unmögliche Drink und der
       plausiblere Reigen ihren Auftritt.
       
       Es gab Szenenapplaus, nach anderthalb Stunden ohne Pause ein mitsingendes
       Publikum und lang anhaltenden Beifall. Die Geschichte kann als leider
       bekannt betrachtet werden, jede/r hat sie so oder ähnlich erlebt oder
       mindestens im Freundeskreis davon gehört: Es geht um Mietenkampf und
       Gentrifizierung, es geht ums große Ganze, zu Recht Kapitalismus genannt.
       Das Musical eröffnete das Festival „Berlin bleibt“, das sich bis 5. Oktober
       in den HAU-Theatern und in dem leerstehenden Hochhaus der ehemaligen Post
       um die Themen Stadt, Zukunft, Wohnen dreht.
       
       Im taz-Interview (am 26.9.) hat die Musikerin Rösinger einen ehemaligen
       Kreuzberger Nachbarn zitiert: „Die Mietenpolitik hier im Land ist
       Klassenkampf!“ Ein Satz Heiner Müllers, des Dramatikers, dem es vergönnt
       war, das Bürgerliche Gesetzbuch als Kriminalroman zu lesen.
       
       Rösingers Stück kommt eher als Revue daher, den Titel entlehnt sie einem
       Film des US-amerikanischen Regisseurs John Cassavetes von 1974: „Eine Frau
       unter Einfluss“. In ihm geht es um eine Liebe, die sich nicht artikulieren
       kann, die Sprachlosigkeit mündet in den psychischen Kollaps der
       Titelheldin.
       
       Bei Rösinger sind es gleich mehrere Menschen, die gefühlt am Rande des
       Nervenzusammenbruchs agieren: Da ist die Frau in ihrer Einzimmerwohnung, im
       Achtzigerjahre-Design mit New-Wave-Poster an der violetten Wand. Die
       Hausfassade zerfließt wie auf einem Gemälde Salvador Dalís, die Mieterin
       schaut gelähmt auf das Treiben vor ihrem Fenster: Die Stadt wird
       aufgehübscht und kommerzialisiert; nicht für sie, ahnt die Betrachterin.
       
       Dabei war das nicht immer so. In der via Bühnenprojektion ins Jahr 1992
       verlegten Eröffnungsszene war die Frau zu sehen gewesen, wie sie gerade
       ihre Wohnung eingeweiht und von dem großen, eigenen und anderen Leben
       gesungen hatte, das nun beginnen sollte und so wahrscheinlich auch erst mal
       stattgefunden hat.
       
       Die Stadt Berlin als Verheißung also, doch geht in ihr ein Gespenst um. Es
       ist vorerst nicht das des Kommunistischen Manifests, sondern eine
       Maskenfigur, deren Auftritte mit der Themenmelodie Darth Vaders aus „Star
       Wars“ angekündigt werden. Das Böse hat, es muss gesagt werden, eine
       ziemlich gute Musik. Das Gespenst entrollt ein Banner, es bewirbt
       Eigentumswohnungen.
       
       Was dann folgt, hat Christiane Rösinger selbst erlebt, es gipfelt in einer
       traumatischen Heimsuchung, einem Besichtigungstermin, auf dem wildfremde
       Menschen ihre Homebase buchstäblich vermessen. Alternativen werden erwogen
       und verworfen: Der Kauf der Wohnung ist nicht zu stemmen, der Umzug ins
       Umland für die Stadtpflanze keine Option. Was tun?
       
       Die Mieterin, auch das muss gesagt werden, ist nicht allein. Da ist die
       Nachbarin, die sich mit mehreren Jobs über Wasser hält. In einem reicht sie
       die Berberitzen-Plörre über den Tresen einer Imbissbude, an der sich
       abendlich der Kiez trifft. Da ist das Pärchen, das aufeinander hockt in
       einer Bude, zu klein für die gestorbene Liebe, und da sind noch viele
       andere. Sie schmieden Pläne, und sie setzen sie um.
       
       Ein Märchen hat Christiane Rösinger ihr Stück genannt, und es nimmt ein
       gutes Ende. Dass das nicht von selbst kommt, versteht sich von selbst. Denn
       Rösingers Märchen ist ein dokumentarisches: Zwischen die Szenen und 21
       Songs hat sie Auftritte von Mieter-AktivistInnen geschaltet, die ganz
       praktische Tipps zum Umgang mit dem Gespenst geben.
       
       Historische Verweise kommen hinzu. Die Songs von „Stadt unter Einfluss“
       zitieren mehrmals Rio Reiser und Ton Steine Scherben, eine Band von
       Hausbesetzern für Hausbesetzer: „Wir brauchen keine Hausbesitzer, / denn
       die Häuser gehören uns.“
       
       An einer Stelle wird auf das Rote Wien der Jahre 1918 bis 1934 verwiesen,
       das mit seiner sozialdemokratischen Kommunalpolitik auf umfassenden
       sozialen Wohnungsbau und Gesundheits- und Bildungsreformen setzte.
       
       An anderer Stelle kommt die Kreuzberger Instandsetzungsbewegung der
       achtziger Jahre auf die Bühne. Nur: Kam die so freundlich daher, wie es die
       Musik von „Stadt unter Einfluss“ über weite Strecken tut? Und ein Einwurf:
       In einer späten Ton-Steine-Scherben-Aufnahme sagt Rio Reiser den Song „Der
       Turm stürzt ein“ an. Den jähen Publikumsapplaus konterkariert er mit dem
       Satz: „Sehen wir zu, dass er uns nicht auf die Köpfe fällt.“ Mehr
       Doppelbödigkeit, bitte!
       
       27 Sep 2019
       
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 (DIR) Robert Mießner
       
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