# taz.de -- Premiere von Nicoleta Esinencu in Berlin: Vertreibung böser Geister
       
       > Patriarchat, Staat, Kapitalismus – alles wird mit Besen und Lärm
       > vertrieben in Nicoleta Esinencus Performance „Die Abschaffung der
       > Familie“ in Berlin.
       
 (IMG) Bild: Mit Klappern und Stampfen arbeitet das Ensemble an der Vertreibung böser Geister
       
       „Was ist Familie?“, fragt Nicoleta Esinencu. Und schreit hinterher: „Weg
       mit dem Patriarchat! Weg mit der traditionellen Familie!“ Konsequent gibt
       die moldauische Theatermacherin ihrer neuesten Performance den Titel
       „Abolirea familiei / Die Abschaffung der Familie“ und setzt so den Rahmen
       für sieben Lebensgeschichten, die auf der Bühne des HAU 3 in Berlin erzählt
       werden. Zusammen mit ihr haben Elena Anmeghichean, Cătălina Bucos,
       Doina-Romanta Dochitan, Elena Sîrbu, Doriana Talmazan und Artiom Zavadovsky
       Episoden aus ihrem Leben, dort wo es schwer und fordernd war,
       zusammengetragen. Bei den meisten fiel die Kindheit noch in die
       Sowjetunion. Heute haben alle einen moldauischen Pass.
       
       Anfang der 90er Jahre erklärte sich auch die kleinste Republik der UdSSR,
       die Moldawische SSR, für unabhängig. Ein Bürgerkrieg brach aus, in dem
       moskautreue Milizien die nach Unabhängigkeit strebenden Kräfte bekämpften.
       Als Folge entstanden zwei Ministaaten: die offiziell anerkannte Republik
       Moldau und der international nicht anerkannte Separatistenstaat Republik
       Transnistrien.
       
       Korruption bestimmt bis heute die staatlichen Strukturen in beiden Staaten.
       In der Republik Transnistrien hat die russische Armee einen Stützpunkt, und
       der Oligarch, der über den Landstrich herrscht, leistet sich in der
       Hauptstadt Tiraspol ein Verfassungsgericht.
       
       Das Rentenniveau ist in beiden Staaten extrem niedrig. 65 Euro betrug die
       Rente ihrer Mutter, erinnert sich Esinencu. Es fehlten ihr jeden Monat 30
       Euro zum Existenzminimum. Die [1][Dramatikerin Nicoleta Esinencu] steht im
       HAU3 vor einem Mikrofon und erzählt in moldauischem Rumänisch die
       Krankengeschichte ihrer Mutter, die sich nach einer OP an nichts mehr
       erinnern kann, kleinste Bewegungen wieder neu lernen muss und nach einer
       dreijährigen Leidenszeit stirbt.
       
       ## Skalpelle aus der Sowjetzeit
       
       Esinencu, die sich an erster Stelle als Dramatikerin bezeichnet, auch wenn
       sie in ihren Produktionen Regie führt, ließ während des Probenprozesses
       jeden Performer seine Geschichte aufzeichnen und gab diesen Texten dann
       eine verbindende dramaturgische Form. Diese Form ist vom Aufbau her
       poetisch, selbst in den deutschen Untertiteln liest man sie in Versform,
       und inhaltlich eine wertende Beschreibung.
       
       So ist mit „Ich gebe dem Arzt im Krankenhaus 100 Lei, damit ich meine
       Mutter sehen kann. Ich stelle fest, dass die Skalpelle aus der Sowjetzeit
       stammen“, der Zustand der moldauischen Gesundheitsversorgung auf den Punkt
       gebracht. Der Dramatikerin geht es aber vor allem um Selbstreflexion und
       Positionierung. Am Ende ihres Berichts steht der Gedanke: „Ich habe mich
       am besten mit meiner Mutter verstanden, als sie sich an nichts mehr
       erinnern konnte.“
       
       Dann steht Elena Sirbu vor den drei Tischen mit Schüsseln, Töpfen und einem
       Sauerkrautstampfer, erzählt von ihrer Heirat mit einem Moldauer und der
       folgenden Ausgrenzung in ihrer „community“. Denn sie ist Roma. Historisch
       ist das Gebiet der heutigen Republik Moldau, das bis 1940 Bessarabien hieß,
       ein traditionelles Ansiedlungsgebiet der Sinti und Roma.
       
       ## Archaische Strukturen der Roma-Gesellschaft
       
       Sirbu ist Journalistin. In ihrer Muttersprache Romanes beschreibt sie die
       bis heute gültigen archaischen Strukturen der Roma-Gesellschaft, in der
       Frauen nicht arbeiten gehen sollen, ihre persönliche Emanzipation und die
       nichtsdestotrotz bestehende Ausgrenzung durch die moldauische
       Mainstream-Gesellschaft.
       
       Zwischen den Erzählungen versucht man sich an einer theatralen Austreibung
       der Übel, die aus der Sicht von Esinencu zu der kompletten Schieflage der
       postsowjetischen Gesellschaft beitragen. Die Küchengeräte, die auf
       Soundplatten stehen, sorgen für die akustische Untermalung – sie rühren in
       Schüsseln, klopfen auf Topfdeckel, rasseln mit Trockenfrüchten –, dann wird
       für immer abgeschafft, verflucht, weggezaubert: Monogamie, Patriarchat, der
       Staat, das Privateigentum und der Kapitalismus.
       
       Das hat Agitprop-Charakter und zeichnet mit der Energie der Beschwörung das
       Wunschbild einer Gesellschaft, in der es keine Hierarchien gibt und jeder
       akzeptiert wird. Nach und nach begreift man, was diese Institutionen zum
       Druck auf die erzählenden Personen beigetragen haben, wie sie ihren
       Entfaltungsraum verengten.
       
       ## Gender-Zuschreibungen
       
       Artjom Zavadovsky berichtet in seiner Muttersprache Russisch über die
       Lebenswirklichkeit eines Menschen, der sich nicht auf ein Geschlecht
       festlegen möchte. Esinencu gibt ihm einen stark reflektiven Text an die
       Hand. Mit wenigen „Strichen“ zeichnet er die Zuschreibungen und Erwartungen
       der moldauischen Gesellschaft an jemanden, der mit einem Glied geboren
       wurde. Um dann sein ganz persönliches Selbstbild dagegenzustellen.
       
       Das HAU hat diese allen Figuren liebevoll zugewandte Performance
       produziert, denn Nicoleta Esinencus Teatru Spălătorie (Wäscherei), das sie
       2010 in der moldauischen Hauptstadt Chişinău gegründet hat, bekommt dort
       keinerlei staatliche Unterstützung.
       
       16 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Dramatikerin-ueber-Moldau-und-Europa/!5042664
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katja Kollmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theater
 (DIR) Republik Moldau
 (DIR) Kapitalismuskritik
 (DIR) Patriarchat
 (DIR) Musiktheater
 (DIR) Theater
 (DIR) Republik Moldau
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Musical zur Wohnungsfrage: Das Böse hat ziemlich gute Musik
       
       Mit einem Musical von Christiane Rösinger startete in Berlin das Festival
       „Berlin bleibt“ zur Stadt- und Wohnungspolitik.
       
 (DIR) Serbische Regisseurin über Theater: „Dinge wieder ans Licht bringen“
       
       Mit ihrem Stück „Danke Deutschland“ beginnt das Festival Internationaler
       Neuer Dramatik in Berlin. Ein Gespräch mit Regisseurin Sanja Mitrović.
       
 (DIR) Dramatikerin über Moldau und Europa: „Absolut kein Anlass zur Hoffnung“
       
       Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu sieht die europäische Perspektive ihrer
       Heimat pessimistisch. Den Glauben an Veränderung hat sie aufgegeben.