# taz.de -- Historiker über Geschichtsbewusstsein: „Wir brauchen Antifaschismus“
       
       > In einer Vortragsreihe in Berlin analysiert Hannes Heer die Verdrängung
       > der NS-Zeit. Der Historiker sieht eine Rückkehr in alte Muster.
       
 (IMG) Bild: Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel. 12. April 1961
       
       taz: Herr Heer, wann begann die Selbstaufklärung der Bundesrepublik über
       die NS-Zeit? Gibt es ein Schlüsselereignis? 
       
       Hannes Heer: Zwei Schlüsselereignisse. Das erste war 1956 der Film
       [1][„Nacht und Nebel“ von Alain Resnais], dessen Aufführung in Cannes von
       der Bundesregierung verhindert wurde. „Nacht und Nebel“ zeigt, was
       Vernichtungslager wie Auschwitz und wer die Täter waren. Die
       Bundesregierung fand, dass dieser Film die Freundschaft zwischen dem
       deutschen und französischen Volk störe. Das hat zu eminenten Protesten von
       Künstlern und Intellektuellen in Frankreich und auch in der Bundesrepublik
       geführt.
       
       Ist es typisch, dass der Anstoß von außen kam? 
       
       Ja, auch der [2][Eichmann-Prozess 1961] war eine Intervention von außen.
       Der israelische Geheimdienst hatte Eichmann entführt, der Staat Israel
       macht Eichmann den Prozess. Eichmann hätte in der Bundesrepublik vor
       Gericht stehen müssen – aber daran hatte die Bundesregierung kein
       Interesse. Die Interventionen mussten wegen der Mauer des Schweigens von
       außen kommen. Ähnlich war es 1979 mit der US-Serie „Holocaust“.
       
       Gab es in den späten 50er Jahren nicht auch in Deutschland
       Problematisierungen der NS-Zeit – etwa 1959 die Proteste gegen
       antisemitische Schmierereien in Köln? 
       
       Ja, aber das hat die massive Verleugnung der Völkermorde an den Juden und
       den slawischen Völkern nicht durchbrochen. In Köln wurden die beiden Täter
       aus einer Neonazi-Partei verurteilt. Das öffentliche Bewusstsein, die
       Nazizeit als bloßes Zwischenspiel zu behandeln, hat das nicht angekratzt.
       Für die Adenauer-Republik waren Hitler und die SS die
       Alleinverantwortlichen. Auch die SPD strebte eine innere Versöhnung mit den
       Millionen Ex-Nazis an.
       
       Die Westdeutschen waren schon Mitte der 1950er Jahre überzeugt, von Hitler
       erst verführt worden, dann Opfer des Krieges und schließlich auch noch
       Geschädigte der Besatzungsmächte gewesen zu sein. Es gab zwar dauernd
       kleinere Skandale. Hier wurde der Chef eines Landeskriminalamtes als
       SS-Schlächter in Minsk enttarnt, dort ein Landesgerichtspräsident als
       Massenmörder. Aber das Massiv der Verleugnung blieb unerschüttert.
       
       Und die Sprengmeister waren die 68er? 
       
       Das ist komplexer. Die Generation der Kinder der Täter hatte es mit
       schweigenden und zum Teil mit traumatisierten Eltern zu tun, die mit
       aggressiver Zurechtweisung oder Abbruch reagierten, wenn man das Thema
       ansprach. Unsere Generation hat einen gesellschaftlichen
       Selbstreinigungsprozess ausgelöst. Der hatte zwar irrationale Anteile – es
       war Rache an den Eltern, eine generationelle Kriegserklärung, die mit der
       eigenen Identitätsfindung verknüpft war. Wir haben zum Beispiel nur die
       Täter angeklagt und uns nicht um die Geschichte der ermordeten Juden
       gekümmert.
       
       68 war eine kollektive Antwort auf ein kollektives Versagen. Der Protest
       hat, wie es Norbert Elias prägnant formuliert hat, die Wir-Schicht
       getroffen, die kollektive, durch eine ungeheure Schuld gestörte Identität
       der Deutschen. 68 hat, trotz aller Pathologien und Neurosen, alle folgenden
       Geschichtsskandale maßgeblich beeinflusst.
       
       Die 68er waren in Bezug auf die NS-Zeit ambivalent, weil sie Aufklärung und
       Generationenkonflikt verknüpften? 
       
       Ja, sicher. Wir waren als Kinder eng verbunden mit unseren Vätern. Ich habe
       meinen Vater in den 60er Jahren, nachdem ich erfahren hatte, dass er Nazi
       war, nach dem Warum gefragt. Er hat mir nie eine Antwort gegeben. Unsere
       Väter und Mütter haben geschwiegen, und wenn man dieses Erbe, das
       Schweigen, nicht annahm, gab es Krach. Ich durfte ab 1968 mein Elternhaus
       nicht mehr betreten und wurde enterbt.
       
       Die Historikerin [3][Christina von Hodenberg] hält die Revolte der Söhne
       gegen die Naziväter für einen literarischen Mythos, der die Frauen
       ausklammert … 
       
       Das ist oberflächlich und hat mit der realen Geschichte nichts zu tun. Neu
       ist daran nur, dass von Hodenberg den Feminismus benutzt, um die
       68er-Bewegung zu diffamieren.
       
       Kann man die Geschichte der Bundesrepublik als zaghaften Prozess wachsender
       Aufklärung über die NS-Zeit beschreiben? 
       
       Ja. Die 80er und 90er Jahre sind dafür entscheidend. Der Historikerstreit
       endet mit der Niederlage von Ernst Nolte und einem Sieg von Habermas’ Idee,
       die universellen Menschenrechte als Grundlage für Demokratie zu verstehen.
       Das Publikum strömt zu den Lesungen aus Viktor Klemperers Tagebüchern. Eine
       Million Menschen besuchen die Wehrmachtsausstellung. Die Bundesrepublik war
       bereit, die Tatsache der beiden Völkermorde zu akzeptieren. Dieser
       Fortschritt wurde aber sofort bekämpft. [4][Martin Walsers Rede] von 1998
       mit seinem Lob des Wegsehens und Verdrängens belegt das ebenso wie der
       Erfolg von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“, das den Luftkrieg als
       Holocaust an deutschen Zivilisten beschreibt.
       
       Es gibt also ein erinnerungspolitisches Rollback? 
       
       Ja, die Reihe der Beispiele ist ja länger. Günter Grass schreibt die
       Novelle „Im Krebsgang“ und insinuiert, dass es Neonazis nur gibt, weil wir
       die Verbrechen an den Deutschen ignoriert haben. In „Der Untergang“ sind
       Hitler und Goebbels pathologische Fälle, die den vernünftigen Generälen
       keine Chancen lassen. In [5][„Unsere Mütter, unsere Väter“] hat die
       Elterngeneration nie etwas mit HJ oder BdM zu tun gehabt und den Völkermord
       im Osten hat es nie gegeben. All diese Bilder zeigen Deutsche als Opfer.
       Der Geschichtsrevisionismus der AfD und der offene Neonazismus von Höcke
       knüpfen genau dort an. Wenn Gauland die NS-Zeit „einen Fliegenschiss“ nennt
       oder erklärt, man dürfe „stolz sein auf deutsche Soldaten in zwei
       Weltkriegen“, ist das die Rückkehr in die 50er Jahre.
       
       Hilft historische Aufklärung dagegen? 
       
       Nicht allein. Man muss den Jüngeren weiterhin vermitteln, was nach 1933
       geschah. Aber man muss auch scharf die politisch Verantwortlichen
       kritisieren, die den Neonazismus, von Wehrsportgruppen bis zum NSU,
       sträflich unterschätzt haben. Und wir brauchen Antifaschismus als
       Minimalkonsens aller Demokraten und die entsprechende Praxis der politisch
       Verantwortlichen.
       
       22 Oct 2019
       
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