# taz.de -- Dokumentartheater in Berlin: Ihre Tochter verlor sie im Meer
       
       > Die „Mittelmeer-Monologe“ bringen Geschichten von geretteten Geflüchteten
       > auf die Bühne. Das Stück richtet sich nicht nur an die Politik.
       
 (IMG) Bild: Meri Koivisto als Selma, Sara Hiruth-Zewdi als Naomie, Soheil Boroumand als Joe (v. l. n. r.)
       
       „Sie sollen nach Süden fahren. Da wartet ein italienisches Schiff“,
       antwortete das Rettungszentrum in Rom auf Selmas Anfrage. Doch als Yassin
       das hörte, erschrak er: „Wie nach Süden? Ich kann nicht zurück nach Libyen.
       Dort lande ich im Gefängnis. Versprich mir, dass wir nicht zurück nach
       Libyen geschickt werden!“ Versprechen konnte es Selma nicht. In Rom wollte
       man es ihr nicht versichern. Am Ende sagte sie doch: „Fahrt nach Süden“,
       und schob schnell hinterher: „Es gibt keine Garantie.“ Doch sie wusste,
       dass sie jetzt Verantwortung trug.
       
       Selma und Yassin, von Schauspielern verkörpert, stehen nun zusammen auf
       einer kargen Bühne. Sie ist Aktivistin von [1][Alarm Phone], einer Hotline
       für Menschen, die das Mittelmeer überqueren. Diese Nummer wählte Yassin,
       als er während der Überfahrt wegen Panik und Erschöpfung nicht mehr
       weiterwusste. Am Ende fuhr er nach Süden und schaffte es nach Europa. Die
       beiden sind zusammen mit Naomie aus Kamerun und dem Sea-Watch-Aktivisten
       Joe die Protagonisten der „Mittelmeer-Monologe“ im Heimathafen Neukölln.
       
       Die Menschen auf der Bühne sind Schauspieler*innen, doch das Erzählte ist
       wahr. Bevor er sich für vier Protagonist*innen entschied, hat Regisseur
       Michael Ruf mit rund 40 Personen mehrstündige Interviews geführt, darunter
       Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um übers Mittelmeer Europa zu
       erreichen, und Aktivist*innen, die sich täglich einsetzen, um deren Leben
       zu retten.
       
       „Das Material wurde verkürzt, aber nichts ist erfunden“, sagt der Regisseur
       und künstlerische Leiter der Bühne für Menschenrechte zu Beginn der
       Uraufführung. Dokumentarisches Theater nennt er sein Konzept, mit dem er
       schon „Die Asyl-Monologe“, „Die Asyl-Dialoge“ und [2][„Die NSU-Monologe“]
       erfolgreich inszeniert hat.
       
       ## Die Betroffenen in den Mittelpunkt stellen
       
       Naomie (Sara Hiruth-Zewdi), Yassin (Aydın Işık), Selma (Meri Koivisto) und
       Joe (Soheil Boroumand) wechseln sich beim Erzählen ab. Anfangs scheinen
       sich die vier Monologe aneinander vorbei zu entfalten. Doch allmählich
       verweben sie sich miteinander wie die Existenzen der Protagonist*innen, die
       auf dem Mittelmeer zusammenkommen.
       
       Zum Beispiel bei einem [3][tragischen Vorfall am 6. November 2017]: Damals
       hinderte ein Rettungsschiff der libyschen Küstenwache, mit der die EU bis
       heute kooperiert, die „Sea-Watch 3“ bei den Rettungsoperationen eines
       sinkenden Schlauchboots mit 150 Passagieren. Dadurch ertranken mindestens
       20 Menschen. Auf jenem Schlauchboot war auch Naomie. Sie wurde gerettet,
       doch sie verlor ihre Tochter in den hohen Wellen. „Es gibt nichts zu
       beschönigen“, sagt Joe, der an jenem Tag als Retter im Einsatz war: „Ein
       Kind liegt in der Tiefkühltruhe.“
       
       Frontal zum Publikum erzählen die Protagonist*innen nicht nur von der
       riskanten Überfahrt, sondern auch von der Zeit davor und danach. Von den
       einstigen Träumen und Freuden, die Traumata gewichen sind, von den
       verzweifelten Versuchen, sich in dem als fortschrittlich geglaubten Europa
       gegen die Deportation zu wehren, sowie von der Hilflosigkeit und den
       Schuldgefühlen, mit denen Retter*innen leben müssen.
       
       „Die Mittelmeer-Monologe“ richten den Fokus weg von den Zahlen und
       Maßnahmen, auf die das Geschehen auf dem Mittelmeer gerne reduziert wird.
       In den Mittelpunkt stellen sie die Geschichten der Betroffenen und die
       Forderung nach der Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Somit widersetzen
       sie sich der Entmenschlichung der Tragödie, die sich tagtäglich an der
       europäischen Außengrenze ereignet.
       
       Die Monologe berühren, schaffen Nähe, machen wütend und benennen vor allem
       Wege, um sich persönlich zu engagieren. Aufgezeigt werden diese im
       anschließenden Publikumsgespräch, das fest zum Konzept gehört. So richtet
       sich der Appell des Stücks nicht nur an die Politik, sondern an alle, die
       im Saal sitzen.
       
       16 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kommentar-Hundegesetz/!5067432
 (DIR) [2] /!5401451/
 (DIR) [3] https://www.nytimes.com/video/opinion/100000005820783/europe-migrant-crisis-mediterranean.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gloria Reményi
       
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