# taz.de -- Ein Jahrhundertleben in Litauen: Diese Frau kann nicht hassen
       
       > Irena Versaitė überlebte unter den Nazis in einem Versteck im Getto.
       > Unter Stalin entging die Intellektuelle der Deportation nach Sibirien.
       
 (IMG) Bild: Ein Leben lang gegen den Strom geschwommen: Irena Veisaité in ihrer Wohnung in Vilnius
       
       VILNIUS/KAUNAS taz | Backsteinmauern ducken sich in tiefen Gräben. Das XI.
       Fort, am Rande der litauischen Großstadt Kaunas gelegen, macht einen
       unscheinbaren Eindruck, so tief ist es im Boden eines Hügels versteckt. Und
       doch ist die unter dem russischen Zaren 1914 errichtete Befestigungsanlage
       kaum zu verfehlen, denn nur wenige Meter von den Mauern entfernt streckt
       sich eine gewaltige Skulptur in den grauen Winterhimmel. Die mehr als
       dreißig Meter hohe Statue, 1984 unter sowjetischer Herrschaft errichtet,
       zeigt drei trauernde Menschenfiguren.
       
       Das Mahnmal erinnert an die Menschen, die hier von den Nazis und diesen
       wohlgesinnten Litauern gefangen, gequält und ermordet wurden. Allein bei
       der „große Aktion“ genannten Räumung des kleinen jüdischen Gettos der Stadt
       Kaunas am 28. Oktober 1941 töteten die SS und ihre Verbündeten dort etwa
       9.000 Juden, die Hälfte von ihnen Kinder.
       
       Irena Veisaitė hätte unter ihnen sein können. Doch das damals 13-jährige
       Mädchen lebte nicht im kleinen, sondern im großen Getto, und dort bekamen
       die Juden noch eine Gnadenfrist.
       
       Eine Zweizimmerwohnung in der Innenstadt von Vilnius. Irena Veisaitė wird
       in wenigen Tagen 92 Jahre alt. Die kleine Frau mit dunklem Haar sitzt an
       einem Tisch in der Mitte ihres Arbeitszimmers. Und sie ist wach,
       unglaublich wach. Sie zitiert den polnischen Literaturnobelpreisträger
       Czesław Miłosz: „Ich höre schlecht, ich sehe schlecht, aber ich verstehe
       alles.“
       
       Veisaitė hat das Getto überlebt. Sie hat danach in Vilnius, Moskau und
       Leningrad studiert, sie ist Historikerin, Germanistin und
       Theaterwissenschaftlerin geworden, und, am wichtigsten: Sie mischte sich
       ein. In der Sowjetzeit unterstützte sie Dissidenten, nach der Wende zeigte
       sie Flagge für die Zivilgesellschaft. Ihr Arbeitszimmer ist mit Büchern
       vollgestopft. Die Bücher belegen die Regale an den Wänden, mäandern auf
       ihren Schreibtisch hinüber und laufen an der Zimmerdecke aus. Eine Helferin
       bringt Tee und Gebäck.
       
       ## Überleben im Getto von Kaunas
       
       Sie erinnert sich an Kaunas unter den Nazis, damals, bevor die Familie ins
       Getto ziehen musste. „Das Leben war gefährlich. Man durfte nicht mehr auf
       dem Bürgersteig gehen. Wir mussten einen gelben Stern tragen. Wir hatten
       keinerlei bürgerliche Rechte. Gar nichts. Die Juden konnten einfach auf der
       Straße oder in ihren Wohnungen erschossen werden. Es hieß, dass die Juden
       alle Kommunisten seien und Litauen an die Russen verkauft hätten. Niemand
       wurde bestraft, wenn er einen Juden tötete. Natürlich hat da auch die SS
       eine Rolle gespielt. Aber direkt geschossen haben leider so manche
       Litauer.“
       
       Hans Cramer unterstand die Zivilverwaltung des am 24. Juni 1941 besetzten
       Kaunas, dessen Altstadt sich einem Schiff gleich am Zusammenfluss von Memel
       und Neris erhebt. Das große Getto lag im armen Stadtteil Slobodka auf der
       anderen Seite der Neris.
       
       „Wir lebten in einem Holzhaus. Es war sehr eng. Ganze Familien mussten in
       einem einzigen Zimmer leben. Wir hatten am Haus einen Brunnen, aber kein
       fließendes Wasser. Die Toilette lag auf dem Hof. Ich erinnere mich, dass
       ich immer hungrig war, als wir im Getto lebten. Ich habe schwer auf dem
       Flugplatz gearbeitet und bin dann auch krank geworden und lag sechs Wochen
       im Bett. Aber wir dachten alle, wenn wir arbeiten würden, dann blieben wir
       vielleicht am Leben. Später habe ich in den Werkstätten in der
       Spielzeugabteilung gearbeitet. Das Material dazu kam von den
       westeuropäischen Juden.“
       
       Im Herbst 1941 verschleppte die SS Tausende deutsche Juden nach Kaunas.
       Einen Tag nach ihrer Ankunft wurden sie im IX. Fort ermordet. Karl Jäger
       vom SS-Einsatzkommando 3 brüstete sich damit, bis zum 1. Dezember desselben
       Jahres 137.346 Juden in Litauen getötet zu haben. Für den 25. November
       notierte er: „Fort IX 1159 Juden 1600 Jüdinnen, 175 Juden-Kinder = 2934
       (Umsiedler aus Berlin, München u. Frankfurt a. M.).“
       
       Bis zum Jahresende 1941 waren 180.000 der 220.000 jüdischen Litauerinnen
       und Litauer ermordet worden. Irena Veisaitė lebte, aber ihre Mutter war von
       einem litauischen Nazihelfer verhaftet worden. Sie kehrte nicht zurück.
       
       Versaitė erinnert sich an ihre frühe Kindheit, damals, als Litauen ein
       unabhängiger Staat war: „Meine tolerante Einstellung stammt ganz gewiss von
       meinen Eltern. Meine Mutter lehrte mich, die Menschen verschiedener
       Nationalitäten und Religionen zu achten. Denn alle Menschen sind die
       gleiche Wertschätzung wert.“
       
       Das Kind wuchs in einer säkularen Umgebung auf. Die kleine Irena lernte
       Litauisch, Jiddisch, Russisch und Deutsch. Sie sagt: „Wir waren Europäer.
       Nur meine Großeltern feierten alle jüdischen Feiertage, gingen zur
       Synagoge. Die jüdischen Gebräuche kenne ich nur von ihnen. Ich besuchte
       eine jüdische Schule. Ich wusste, dass ich Jüdin bin. Aber ich fühlte mich
       auch als Litauerin. Meine Schule war jiddistisch gesinnt. Sie unterschied
       sich von der zionistischen Schule in Kaunas darin, dass wir links gestimmt
       waren und nicht wie die Zionisten nach Palästina strebten, sondern unser
       Leben in dem Land aufbauen wollten, in dem wir geboren waren. Und deshalb
       waren wir Patrioten.“
       
       Litauen, bis dahin Teil des russischen Zarenreichs, erlangte nach dem
       Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit. Weil aber das eigentliche Zentrum
       Vilnius zu dieser Zeit zu Polen gehörte, avancierte das kleinere Kaunas zur
       provisorischen Hautstadt des neuen Staates. Daran erinnern bis heute viele
       im Bauhausstil errichtete Gebäude.
       
       ## Die erste sowjetische Besatzung
       
       Die Unabhängigkeit zerrann schon im Jahr 1940, als die Sowjetunion das
       kleine Land okkupierte. Die baltischen Staaten waren in den Verhandlungen
       zwischen Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion dem Einflussgebiet
       Moskau zugefallen – vorläufig, wie wir heute wissen. Irena Veisaitės
       Scholem-Alejchem-Gymnasium musste sich mit der zionistisch orientierten
       Švabè-Schule zwangsvereinen. Sie wurde Jungpionierin. Bald begannen die
       Deportationen. 18.000 Litauer wurden damals nach Sibirien verschleppt.
       
       Irena Veisaitė sagt: „Auch meine Familie hat sich auf eine mögliche
       Deportation vorbereitet. Wir wussten nicht, ob man vielleicht auch uns
       holen würde. Nachts haben wir die Lastwagen gehört, wir wussten, was da
       passierte. Unschuldige Menschen wurden aus ihren Betten geholt. In einer
       oder anderthalb Stunden mussten sie ihre Sachen packen, und sie wurden in
       Viehwagen nach Sibirien gebracht. Darunter waren auch Freunde und Verwandte
       von uns. Es gab keinen Abschied, nichts, nur die pure Gewalt.“
       
       Es war Veisaitės erste furchtbare Erfahrung mit Gewalt und Diktatur. Doch
       die 91-Jährige tendiert nicht dazu, Schuld zuzuweisen und Menschen zu
       verdammen. Als Intellektuelle versucht sie Erklärungen für das zu finden,
       was geschehen ist. Warum unterstützten litauische Intellektuelle die Rote
       Armee?
       
       „Heute beschuldigt man die Menschen, die damals für den Anschluss Litauens
       an die Sowjetunion waren. Aber die linken Litauer dachten damals, wenn die
       Deutschen den Krieg gewinnen sollten und wir zu Deutschland gehören
       müssten, würden wir unsere Identität verlieren, wie es in Ostpreußen
       geschah. Die Sowjets, so sagten sie, seien vielleicht auch nicht die beste
       Wahl, aber unter ihrer Oberherrschaft würden wir doch Litauer bleiben, zwar
       in einer Sowjetunion, aber doch in einer litauischen Sowjetrepublik.“
       
       Die Sowjetherrschaft währte nur ein Jahr, dann begann im Juni 1941 das
       „Unternehmen Barbarossa“, der Feldzug Nazideutschlands gegen die UdSSR.
       Litauen wurde von der Wehrmacht überrollt. Die Einsatzgruppen, auf den
       Massenmord an Juden spezialisiert, folgten.
       
       ## Die Flucht, die Verstecke, die Rettung
       
       Im Getto lebte Irena Veisaitė bei Verwandten. Die Mutter war tot, der Vater
       befand sich im Ausland. Alte Freunde der Familie bemühten sich darum, das
       inzwischen 15-jährige Mädchen zu retten. Am Abend des 7. November 1943
       passierte Irena in einer Kolonne von Arbeitern das Gettotor. In einem
       unbeobachteten Moment stahl sich Irena in eine Seitengasse, traf danach
       ihre Helfer. Schon am nächsten Morgen ging es fort nach Vilnius. Dort
       warteten andere Unterstützer.
       
       So verwandelte sich Irena Veisaitė von einer verfemten Jüdin in eine junge
       christliche Litauerin. Sie kam zunächst bei einer Frau unter, doch diese
       fürchtete sich so sehr vor Entdeckung, dass Veisaitė das Quartier wechseln
       musste. So fand sie, ausgestattet mit gefälschten Papieren und unter der
       Legende, sie sei eine Verwandte aus der Provinz, Unterschlupf bei einem
       theaterbegeisterten Chirurgen. Sie fand Arbeit in einer Kinderkrippe.
       
       Eines Tages teilte ihr eine der Schwestern in der Krippe mit, das Haus sei
       von der Gestapo umstellt. Veisaitė ließ sich ihre Furcht nicht anmerken,
       als sie die Soldatenstiefel hörte. Sie blieb unentdeckt. Am Tisch in ihrem
       Arbeitszimmer sitzend, sagt Irena Veisaitė: „Mich hat meine litauische
       Sprache gerettet. Die meisten Juden haben Litauisch mit einem jiddischen
       Akzent gesprochen. Ich sprach sehr gut Litauisch. Manchmal hatte man einen
       Verdacht, dass ich Jüdin bin, aber es ist nie dazu gekommen, dass ich
       verhaftet wurde.“
       
       Schließlich kam Irena Veisaitė bei der christlichen Familie von Stefanija
       Ladigienè und ihren sechs Kindern unter. Sie blieb dort bis zur Befreiung
       unentdeckt. Heute bezeichnet Veisaitė ihre Retterin als ihre zweite Mutter:
       
       „Ich bin Mitglied dieser Familie meiner zweiten Mutter geworden. Sie hat
       mich geliebt wie ihre eigenen Kinder. Sie war ein ganz wunderbarer Mensch,
       eine sehr gläubige Christin. Ich bin ganz sicher, dass, wenn sie sich mit
       meiner Mutter in der anderen Welt trifft, sich die beiden gut verstehen,
       denn beide waren große Humanisten. Nur war meine zweite Mutter sehr gläubig
       und meine biologische Mutter nicht.“
       
       Irena Veisaitė sagt, sie sei seitdem auch eine Christin, wenn sie diese
       Religion auch nicht praktiziere.
       
       ## „Es gab Hitler, aber es gab auch Thomas Mann“
       
       Verurteilt sie die Litauer dafür, dass viele von ihnen mit den Nazis
       kollaboriert haben, dass sie dabei halfen, ihre Freunde und Verwandten zu
       quälen und umzubringen? Hasst sie die Deutschen? Bei diesen Fragen wird
       Irena Veisaitė in ihrem Arbeitszimmer zwischen den Bücherregalen lebhaft,
       und ihre Stimme gewinnt an Lautstärke: „Wie kann man ein Volk beschuldigen?
       Das ist lächerlich! In Litauen wie auch in ganz Europa gab es Leute, die
       Juden erschossen haben, und es gab Menschen, die Juden gerettet haben. Wie
       kann man sagen: ‚Die Deutschen‘ oder ‚die Russen‘ sind schlecht? Es gab
       verschiedene Deutsche. Es gab Hitler, Göring, Eichmann, aber es gab auch
       Thomas Mann und Bertolt Brecht. Dasselbe gilt auch für Russland. Es gab
       Stalin und es gab Sacharow. Das Regime war schlecht, verbrecherisch, aber
       nicht das Volk.“
       
       Und Veisaitė erinnert sich an die illegale Schule im Getto von Kaunas
       während der Nazibesetzung: „In der Gettoschule habe ich Schiller-Balladen
       gelernt. Das hat mich auch gerettet, meinen Geist gerettet. Es hat mir
       gezeigt, dass nicht alle Deutschen so sind wie Hitler.“
       
       Die Befreiung Litauens vor der Nazibesetzung 1944 brachte dem Land keine
       Freiheit. Besonders tragisch war für die überlebenden Juden, dass die
       Stalinisten es ablehnten, den Holocaust als eigenständiges Verbrechen
       anzuerkennen, den Opfern zuzuhören und ihre Geschichte zu verbreiten. Keine
       Bevölkerungsgruppe sollte in dem Riesenreich besonders hervortreten dürfen,
       schon gar nicht die Juden, die schon bald einen perfiden Antisemitismus
       erfuhren, der ihnen „Kosmopolitismus“ vorwarf und in dem Vorwurf gipfelte,
       jüdische Ärzte hätten versucht, Stalin unzubringen.
       
       Irena Veisaitė sagt: „Ich wollte den Krieg überleben, besonders das Getto,
       weil ich der Welt sagen wollte, was geschehen ist. Ich glaubte, das jetzt
       alles wieder gut wird, dass sich niemals, niemals so etwas wiederholen
       kann. Und plötzlich sehe ich, dass es wieder Lager gibt und dass die Rache
       im Blut des Menschen steckt. Diese Kämpfe zwischen Clans, Stämmen und
       Nationen liegen wahrscheinlich in der Natur des Menschen.“
       
       Viele Litauer verließen nach dem Krieg ihre Heimat. Irena Veisaitė blieb:
       „Man konnte nur weglaufen. Wir waren eingeschlossen. Wir lebten in einem
       großen Käfig“, sagt sie. Und weiter: „Aber wahrscheinlich hätte ich Litauen
       auch dann nicht verlassen, wenn es diesen großen Käfig nicht gegeben hätte.
       Ich bin in Litauen geboren, hier aufgewachsen, hier ist meine Heimat. Ich
       hatte das Gefühl, dass ich am besten den Menschen in Litauen dienen
       konnte.“
       
       ## In den Fängen des NKWD
       
       Nach dem Abitur begann sie ein Studium an der Universität von Vilnius. Ihr
       Vater, der den Krieg in Belgien überlebt hatte, wohnte da bereits in den
       USA – den Feinden der Sowjets im aufziehenden Kalten Krieg. Und so wurde
       auch er zum Feind erklärt, und Veisaitė geriet in die Fänge des
       Geheimdienstes NKWD:
       
       „Man hat mir gesagt, dass man mich von der Universität relegieren würde,
       weil ich einen Vater hätte, der im westlichen Ausland lebte. Ich würde in
       einer Familie leben, die zu den sogenannten Feinden des litauischen Volkes
       gehört. Die Männer vom NKWD haben gesagt, die Sowjets hätten mich gerettet,
       deshalb müsse ich ihnen jetzt Dankbarkeit zeigen, ihnen helfen, gegen die
       Faschisten zu kämpfen, und ihnen als Spitzel dienen. Das war für mich nicht
       akzeptabel. So etwas habe ich für mich immer völlig ausgeschlossen, völlig.
       Ich war bereit, nach Sibirien zu gehen, aber nie, ein Spitzel zu werden.“
       
       118.000 Litauer wurden bis 1953 nach Sibirien deportiert. Veisaitė wich
       nach Moskau aus: „Da ich Verwandte in Moskau hatte, hat man mir geraten,
       aus Vilnius zu verschwinden. In Moskau hat mich der NKWD zeitweilig
       vergessen. Dort wurde ich an der Universität akzeptiert und habe
       Germanistik studiert.“
       
       1953 starb Stalin. Irena Veisaitė heiratete, bekam eine Tochter. Nach einem
       Aufenthalt als Literaturdozentin in Vilnius wechselte sie nach Leningrad.
       Das Thema ihrer Dissertation lautet „Die späte Lyrik von Heinrich Heine“.
       
       Nach der Promotion kehrte sie nach Vilnius zurück. Sie unterrichtete an der
       Universität, wurde in einem Theaterzirkel aktiv – und eckte an. Veisaitė
       hat nie die Konfrontation mit der Sowjetmacht gesucht, nein, ihre Kontakte
       zur Dissidentenszene entwickelten sich so natürlich wie die Blätter, die
       ein Baum im Frühling wieder zu tragen beginnt. Heute bekennt sie: „Ja, ich
       hatte Angst. Ich habe die Bücher gelesen. Man hat mir manchmal Bücher
       gebracht, die ich verbreitet habe. Es war eine schreckliche Zeit.“
       
       ## Unausrottbarer Antisemitismus
       
       Und Veisaitė erlebte, dass der Antisemitismus keineswegs ausgerottet war.
       „Ich habe niemals verheimlicht, dass ich Jüdin bin. Ich bin immer
       diejenige, die ich bin“, sagt sie. Und dann erzählt die alte Dame eine
       Geschichte von großer Dummheit und grenzenloser Toleranz.
       
       „Zu mir kam einmal, noch in der Sowjetzeit, eine junge Litauerin. Ihre
       Cousine hatte mich gebeten, sie bei mir aufzunehmen. Nach sechs Monaten kam
       sie zu mir und sagte, sie müsse sich bei mir entschuldigen. Ich fragte sie,
       warum. Da sagte sie, alle hätten zu ihr gesagt, sie solle nicht zu einer
       Jüdin gehen, denn die Juden hätten christliches Blut an ihrem Körper. Sie
       sagte mir, sie hätte mich die ganze Zeit beobachtet. Sie habe durch das
       Schlüsselloch geschaut, als ich im Badezimmer gewesen sei. Und da hätte sie
       sich davon überzeugt, dass kein Blut an meinem Körper klebt. Die Studentin
       begann zu weinen. Ich habe sie umarmt und gesagt, sie solle sich nicht
       schuldig fühlen, denn sie habe diesen Unsinn wahrscheinlich von ihren
       Eltern oder den Großeltern oder von Freunden gehört, und warum hätte sie
       ihnen nicht glauben sollen. Jetzt wüsste sie, dass das nicht wahr ist.“
       
       1990 zerbrach die Sowjetunion. Litauen wurde unabhängig. Da war Irena
       Veisaitė 62 Jahre alt. Fünfzig Jahre davon hat sie unter wechselnden
       Diktaturen und Besetzungen verbracht. Sie ist unter den Nazis knapp mit dem
       Leben davongekommen und wäre unter den Sowjets beinahe nach Sibirien
       deportiert worden. Sie durfte 50 Jahre lang gar nicht oder nur in
       Andeutungen sagen, was sie dachte. Sie konnte sich 50 Jahre lang nicht
       jedes Buch kaufen, das sie gern gelesen hätte. Nicht jedes Theaterstück,
       das sie gern gesehen hätte, konnte aufgeführt werden. Nicht jedes Gespräch
       durfte in die Öffentlichkeit gelangen. Sie durfte nur sehr eingeschränkt
       reisen.
       
       Irena Veisaitė weigert sich trotz all dieser Erfahrungen, zu hassen. Sie
       sagt: „Ich habe nie ein Hassgefühl empfunden und nie an Rache gedacht. Nie!
       Ich erinnere mich an kein einziges Gesicht von deutschen SS-Männern oder
       von KGB-Männern. Ich sehe nur ihre Stiefel. Aber ich erinnere mich an jedes
       gute Wort, an alle guten Menschen, die ich getroffen habe.“
       
       Sie sagt auch: „Ich will keine Rache nehmen. Rache bringt nur unendliches
       Blutvergießen und nie Versöhnung oder Frieden.“ Auf die Restitution ihres
       Elternhauses in Kaunas hat sie verzichtet. Sie hält überhaupt nichts vom
       neuen Nationalismus und sie warnt vor der Gier im Kapitalismus: „Gier
       bringt die Existenz der ganzen Welt in Gefahr. Man spricht nur von Geld.
       Man vergisst den Geist.“
       
       Veisaitė erinnert sich an das glückliche Jahr 1990: „Das war ein
       wunderbares Gefühl. Das war ein Wunder. Wir haben nie geglaubt, dass das
       System einmal fallen würde. Dieses Ende der Sowjetmacht, das war so ein
       Glück, das erlebt man nur einmal im Leben, mit so viel Hoffnung und so viel
       wunderbaren Menschen, die plötzlich auftauchten.“
       
       2 Jan 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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