# taz.de -- Thema Flucht beim 36C3 in Leipzig: Digitaler Stacheldraht
       
       > Die Europäische Union vermauert ihre Außengrenzen inzwischen auch
       > digital. Das kritisieren flüchtlings- und netzpolitische Aktivisten.
       
 (IMG) Bild: Flüchtlingslager in Griechenland, 2016
       
       Die Digitalisierung transformiert nicht nur den Alltag. Sie verändert auch
       Momente tiefgreifend, in denen Menschenleben am seidenen Faden hängen,
       Biografien verändert oder zerstört werden. Momente wie die Flucht vor Tod
       und Verderben. Auf dem Chaos Communication Congress 36C3 in Leipzig wird
       deshalb die Frage gestellt, wie Menschen im digitalen Zeitalter flüchten
       und wie Staaten Migration digital kontrollieren.
       
       „Zunächst einmal ist digitale Technik ein wichtiges Werkzeug für Refugees“,
       so Anna Biselli, Informatikerin und [1][netzpolitik.org]-Journalistin in
       ihrem Vortrag am Freitag. Laut einer [2][Umfrage der FU Berlin aus dem Jahr
       2016] war für 78 Prozent der damals in Berlin lebenden syrischen
       Geflüchteten ein Smartphone wesentliches Hilfsmittel bei ihrer Flucht.
       
       Großen Nutzen haben die Geräte dabei vor allem in den Bereichen
       Übersetzung, Routenplanung und Vernetzung, beispielsweise über
       Facebook-Gruppen und Websites von Hilfsorganisationen. „Über die Handys
       tauschen die Flüchtenden sich über die aktuelle Gefahrenlage aus und
       informieren sich über Gesetze in den jeweiligen Ziel- und Transitländern“,
       erklärt Biselli.
       
       Auch verbänden ihre Geräte die Menschen mit ihren fernen Angehörigen: “Die
       Smartphones sind der Ort, an dem oft die letzten Erinnerungsstücke
       aufbewahrt werden, die die Geflüchteten noch haben, zum Beispiel
       Familienfotos.“
       
       ## An der Grenze
       
       Sobald die Refugees sich allerdings der EU nähern, gerät der digitale Wind
       of Change zu einem aggressiven Gegenwind. Denn zwar helfe die Technik den
       Flüchtenden vielfach. Diese Hilfe produziere jedoch jede Menge Daten, für
       die sich die Grenzbehörden der europäischen Staaten interessieren. “Wo ein
       Trog, da sammeln sich die Schweine“, fasst Biselli zusammen. So werten
       Behörden der EU bereits seit Jahren Metadaten von Flüchtlingshandys aus, um
       Fluchtrouten zu analysieren und zu prognostizieren. Außerdem betreibe die
       EU ein immenses digitales Wettrüsten an ihren Außengrenzen.
       
       Die Sea-Watch-Aktivisten Neeske Beckmann und Nic Zemke erzählten am
       vergangenen Samstag auf dem Kongress von den aktuellen Bestrebungen, mit
       neuen technischen Mitteln die Fluchtrouten über das Mittelmeer zu
       versperren. Die bisherige Satellitenüberwachung der Gewässer vor Europas
       südlichen Küsten reicht der EU demnach nicht mehr aus. “Die Satelliten
       können keine permanenten Echtzeit-Bilder der Gebiete liefern, weil sie
       immer nur für kurze Zeit über den Grenzregionen vorüberziehen“, erklärt
       Zemke.
       
       In Zukunft soll eine vernetzte Armada aus Drohnen in der Luft, an Land
       sowie in und unter Wasser ein lückenloses Live-Monitoring der gesamten
       Grenze ermöglichen. “Roborder“ hat man in Brüssel dieses Vorzeigeprojekt
       getauft. Für die Sea-Watch-Aktivisten sind diese Pläne Teil der “Fortress
       Europe“, der aggressiven Abschottung Europas gegen Flüchtende. “Wenn sie
       die Kapazitäten haben, die sie behaupten zu haben, dann können sie die
       Regionen bereits umfassend überwachen und vielen Leuten beim Sterben
       zusehen“, stellt Neeske Beckmann klar.
       
       Die beiden Sea-Watch-Aktivisten prangern an, dass es bereits 2019
       zahlreiche Fälle gegeben habe, in denen Frontex, die europäische
       Grenzschutzbehörde, Boote lokalisiert habe, ohne ihnen zu helfen. “Wir
       nehmen gerade viele Funkgespräche von Frontex-Operatoren auf, um nachweisen
       zu können, wenn sie tatenlos zusehen“, erzählt Alina. Als ein solcher Fall
       vor einigen Monaten in der maltesischen Meereszone auftrat, drohte
       Sea-Watch schließlich damit, Frontex und Maltas Küstenwache zu verklagen.
       Erst dann handelten die Behörden.
       
       ## Am Ziel?
       
       Wenn es ein Mensch, der aus seiner Heimat geflohen ist, trotz dieses
       zunehmend digitalisierten Grenzregimes bis nach Deutschland schafft, erlebt
       er weitere Schattenseiten des technischen Fortschritts. Europaweit können
       Behörden es kaum erwarten, mittels künstlicher Intelligenz die
       Asylverfahren zu automatisieren. Das Bundesamt für Migration und
       Flüchtlinge (BAMF) gilt Anna Biselli von netzpolitik.org dabei als
       Musterbeispiel für einen extremen Digitalisierungsenthusiasmus.
       
       Ungläubig schauen die hunderten Hacker im Publikum ihres Vortrags [3][ein
       bizzares Online-Video, in dem das Ministerium stolz sein hippes IT-Labor
       präsentiert]. Zwischen mit Auftragsgraffiti besprühten Wänden sollen hier
       Vorgänge digitalisiert werden, die drastische Auswirkungen auf das Leben
       tausender Asylbeantragender haben.
       
       Bereits fächendeckend angewendet wird etwa die Handydatenauswertung zur
       Identitätsüberprüfung. Eine Verschärfung des Paragrafen 15 im Asylgesetz
       [4][ermöglicht es den Sicherheitsbehörden seit 2017, Datenträger von
       Asylbewerbern auszulesen,] wenn diese keinen Pass besitzen. Eine eigens
       entwickelte Software durchforste dabei die Smartphones und erstelle ein
       Datenblatt zur Einschätzung der Herkunft des Asylbeantragenden. “Schon im
       Gesetzgebungsprozess wurde das als verfassungswidrig kritisiert, unter
       anderem vom deutschen Anwaltverein“, so Biselli. Eine gerichtliche
       Anfechtung sei jedoch langwierig und käme für die Betroffenen zu spät.
       
       Neben der massiven Verletzung von Grundrechten kritisiert die
       Informatikerin auch die Qualität der Auswertungen: “Die Hälfte der Analysen
       liefern unbrauchbare Resultate und nur bei 2 Prozent widersprechen die
       Ergebnisse der Datenauswertung der Aussage des Refugees“, berichtet
       Biselli. Die Auswertungspraxis missachte somit das juristische Gebot der
       Verhältnismäßigkeit.
       
       ## Einfach mal den “Konvoi der Hoffnung“ stoppen
       
       Auf Anfragen der Journalistin reagierte das BAMF ablehnend. Eine
       datenschutzrechtliche Evaluation der Handyauswertung könne man nicht publik
       machen, da sonst etwaige Sicherheitslücken identifiziert werden könnten.
       “Es ist unglaublich, dass das BAMF derart mauert, während weiterhin
       tausende Menschen von dieser fehlerhaften und umstrittenen Praxis betroffen
       sind“, so Biselli.
       
       Eine weitere digitale Praxis der Behörden ist die Social-Media-Analyse.
       Seit 2017 durchforstet laut Biselli das Europäische Unterstützungbüro für
       Asylfragen (EASO) Plattformen wie Facebook nach Stichworten und
       “schmuggelrelevanten Inhalten“. Als einzigen Erfolg dieser Maßnahme gab das
       EASO auf Bisellis Anfrage die frühe Entdeckung des “Konvois der Hoffnung“
       an – eines Flüchtlingszugs, der anschließend an der
       griechisch-mazedonischen Grenze gewaltsam von der Polizei zurückgedrängt
       wurde.
       
       “Allgemein wird beim BAMF gerade die Digitalisierung zum Zweck an sich“,
       urteilt Biselli. So etwa bei der Auswertung von Anhörungsprotokollen durch
       künstliche Intelligenz oder die Einführung von
       Blockchain-Speichertechnologien. Prozesse würden entmenschlicht,
       Grundrechte massiv beschnitten. “Wenn die Schufa mit intransparenten
       Algorithmen darüber entscheidet, wer einen Handy-Vertrag bekommt, regen wir
       uns auf. Aber bei den Refugees ist die Lage viel extremer“, bekräftigt die
       Informatikerin. Außerdem müsse eines klar sein: “Wenn die Technologien erst
       einmal da sind, werden sie ausgeweitet – auf andere Kontexte und auf andere
       Bevölkerungsgruppen.“
       
       30 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://netzpolitik.org/
 (DIR) [2] https://www.polsoz.fu-berlin.de/en/kommwiss/arbeitsstellen/internationale_kommunikation/Media/Flucht-2_0.pdf
 (DIR) [3] https://www.bamf.de/DE/Themen/Digitalisierung/ITLabor/itlabor-node.html
 (DIR) [4] /Ueberwachung-von-Fluechtlingen/!5409791
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Björn Brinkmann
       
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