# taz.de -- Gesichtserkennung im Netz: Der neue Grusel
       
       > Ein US-Start-up hat neue Software zur Gesichtserkennung entwickelt.
       > Grundlage: 3 Milliarden Fotos. Behörden und Unternehmen freuen sich.
       
 (IMG) Bild: Aktion gegen Gesichtserkennung im Bahnhof Südkreuz in Berlin, 2017
       
       BERLIN taz | Dystopie 2040: Smartphones sind längst zu den
       Wählscheibentelefonen ins Museum gewandert, dafür gehören nun smarte
       Kontaktlinsen zur Pflichtausstattung der Early Adopters. Diese kleinen
       Sichtgeräte setzen auf Wunsch die Feeds diverser Online-Netzwerke (fürs
       Mitredenkönnen) ins Sehfeld, dazu noch ein paar Bäume (fürs Wohlfühlen) und
       Infos zu der Person, die einem gerade gegenübersteht. Name, Alter, Job,
       Freunde, Vorlieben, Name des Haustiers – was das Internet halt so
       ausspuckt.
       
       Ein ziemlicher Albtraum? Auf alle Fälle. Aber die [1][Technik], um genau
       das möglich zu machen, rückt immer näher. Aktuellster Fall: Clearview AI,
       ein US-Unternehmen, das drei Milliarden im Internet zugängliche Bilder
       eingesammelt und daraus eine Bilderkennungsdatenbank gemacht hat, wie
       [2][eine Recherche der New York Times aufdeckt]. Genutzt wird die Datenbank
       von US-Behörden, die zum Beispiel Verdächtige finden wollen, und auch von
       Unternehmen – wozu genau, das ist unbekannt.
       
       Das Geschäftsmodell liegt in einem juristischen Graubereich, in dem
       technisch deutlich mehr geht, als bislang gemacht wird. Symptomatisch dafür
       ist [3][die Aussage des damaligen Google-Chefs Eric Schmidt] vor
       mittlerweile neun Jahren, dass man eine Bilderkennungsdatenbank nicht
       aufbauen wolle, selbst wenn das technisch machbar sei. Und im Nachsatz die
       Prophezeiung: Es werde aber ein anderes Unternehmen geben, das „diese Linie
       überschreiten wird“. Ja, das hätte sich dann spätestens jetzt bewahrheitet.
       Zumindest wenn man längst zur Verfügung stehende Technik nicht mitzählt,
       wie etwa die Rückwärtssuche von Fotos oder das namentliche Taggen in
       Online-Netzwerken.
       
       Ein Geschäftsmodell wie das von Clearview führt dazu, dass Nutzer:innen
       die Kontrolle über ihre Bilder noch mehr verlieren: Eine
       Bild-Identitäts-Verknüpfung, einmal im Netz, ist die Grundlage für
       lebenslange Überwachung. Auch das Altern des Gesichts hilft da nicht viel,
       schließlich gibt es längst Software, die Fotos entsprechend verändert.
       
       ## Überwachung, teils selbst gemacht
       
       Dass Google sich in der Sache zurückhaltend gibt, hat wahrscheinlich
       weniger mit ethischen als mit strategischen Gründen zu tun: Wenn ein
       Konzern zu früh mit einer gruseligen Technologie an den Start geht,
       reagiert die Politik mit strenger Regulierung, die man natürlich vermeiden
       will. Also besser warten, bis die Zeit und vor allem die Menschen reif
       dafür sind.
       
       Längst wird jeder Mensch fotografiert, und zwar ständig und überall – und
       wenn es keine Selfies sind, dann eben das Touristenfoto, auf dem auch
       unbeteiligte Passant:innen zu sehen sind. Ein guter Teil dieser Bilder
       landet im Netz, wo auf Plattformen wie Facebook Gesichter mit Namen
       versehen werden können und wo die Software immer besser lernt, wer wer ist.
       Und das ganz in Ruhe und mit deutlich mehr Material als bei Versuchen im
       öffentlichen Raum, wo die Erkennungsraten – etwa [4][bei einem Pilotprojekt
       der Bundespolizei am Berliner Umsteigebahnhof Südkreuz] – peinlich schlecht
       waren.
       
       Auf diesen Misserfolgsquoten kann man sich also leider nicht ausruhen. Der
       nächste Schritt könnte etwas sein, das Clearview laut der
       New-York-Times-Autorin schon entwickelt hat, aber nicht auf den Markt
       bringen will: eine Brille mit entsprechender Vernetzung. Diskreter wären
       natürlich Kontaktlinsen, [5][Googles Versuch, vor einigen Jahren so etwas
       wie eine Datenbrille auf den Markt zu bringen], ist schließlich nicht
       umsonst gefloppt.
       
       ## Verbot für automatisierte Gesichtserkennung?
       
       Wer Interesse daran haben könnte? Zum Beispiel Sicherheitsbehörden.
       [6][Bodycams machen jetzt schon Polizeidienststellen glücklich], auch in
       Deutschland. Wie laut wäre der Jubel, würden die Identitäten der Gefilmten
       gleich noch dazugeliefert? Klar, das ginge nach aktueller hiesiger
       Rechtslage nicht. Aber Innenminister sind bekanntlich offen für
       Gesetzesänderungen, wenn es um Überwachung – Verzeihung, um mehr Sicherheit
       – geht.
       
       Nun hat die EU-Kommission laut darüber nachgedacht, so etwas zu verhindern.
       Vor wenigen Tagen wurde ein [7][Arbeitspapier geleakt], in dem ein Verbot
       automatisierter Gesichtserkennung im öffentlichen Raum für einen
       beschränkten Zeitraum erwogen wird. Noch ist nichts entschieden. Aber
       selbst wenn ein Verbot käme, wäre das nicht das Aus für solche
       Technologien. Es hieße bloß, dass die Zeit noch nicht reif dafür war.
       
       20 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Augmented-Reality/!t5323198
 (DIR) [2] https://www.nytimes.com/2020/01/18/technology/clearview-privacy-facial-recognition.html
 (DIR) [3] https://www.telegraph.co.uk/technology/google/8522574/Google-warns-against-facial-recognition-database.html
 (DIR) [4] /Video-Ueberwachung-am-Suedkreuz/!5607914
 (DIR) [5] /Kolumne-Nullen-und-Einsen/!5275908
 (DIR) [6] /Streit-um-Bodycams-bei-der-Polizei/!5578113
 (DIR) [7] https://netzpolitik.org/2020/eu-erwaegt-verbot-von-gesichtserkennung/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Svenja Bergt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Google
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) EU-Kommission
 (DIR) Soziale Netzwerke
 (DIR) Google Glass
 (DIR) Gesichtserkennung
 (DIR) Cybersicherheit
 (DIR) Datenschutz
 (DIR) Datenschutz
 (DIR) Bundespolizei
 (DIR) Black Lives Matter
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Datenschutz
 (DIR) Innere Sicherheit
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Datenschutzbeauftragte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Cyberkriminalität in den USA: 150.000 Sicherheitskameras gehackt
       
       Ein Hacker-Angriff auf Überwachungskameras hat offenbar Einblicke in
       Gefängnisse und Schulen ermöglicht. Auch Tesla soll betroffen sein.
       
 (DIR) Datenschutzbehörden ohne Macht: Kaum etwas erreicht
       
       Das Vorgehen des Hamburger Datenschutzbeauftragten gegen Clearview wirkt
       auf den ersten Blick ermutigend. Tatsächlich aber fehlt es an Macht.
       
 (DIR) Hamburger gegen US-Überwachungsfirma: Big Deal mit Daten
       
       Eine US-Firma ermöglicht Behörden eine automatisierte Gesichtserkennung mit
       Hilfe einer Mega-Datenbank. Der Hamburger Matthias Marx geht dagegen vor.
       
 (DIR) Union und SPD finden Kompromiss: Einigung bei Bundespolizeigesetz
       
       Die Große Koalition will der Bundespolizei mehr Befugnisse geben.
       Onlinedurchsuchungen und Gesichtserkennung sind aber nicht vorgesehen.
       
 (DIR) Amazon beendet Kooperation: Polizei vorläufig ohne Amazon
       
       Amazon erlaubt der US-Polizei nicht mehr, eine Software zur
       Gesichtserkennung zu verwenden. Lukrativ aber war der Geschäftszweig eh
       nicht.
       
 (DIR) Handy-App zum Feiern in der Isolation: Party allein zu House
       
       Die App Houseparty ist wieder da – und prompt auf Platz 3 der
       Download-Charts gelandet. Wie gut klappt das virtuelle Feiern? Ein
       Selbstversuch.
       
 (DIR) Videoüberwachung im Alltag: Die Macht über die Realität
       
       Im öffentlichen und halböffentlichen Raum filmen immer mehr Geräte mit. Der
       Staat erlangt so zunehmend die Deutungshoheit darüber, was wahr ist.
       
 (DIR) Software zur Gesichtserkennung: Seehofer verzichtet drauf
       
       Erst sorgen Berichte über das Gesichtserkennungssystem Clearview für
       Aufregung. Nun streicht Seehofer Pläne für den automatisierten
       Bild-Abgleich.
       
 (DIR) Adversarial Fashion: Überwachung und Mode
       
       In der Kunst entsteht eine neue Avantgarde, die versucht,
       Überwachungssysteme mit subversivem Camouflage-Look auszutricksen.
       
 (DIR) Daten in Musik übersetzt: Der Sound der Überwachung
       
       Jasmine Guffond bringt Datenströme zum Klingen. Die australische
       Soundkünstlerin tritt in Berlin mit Arbeiten zum Thema Urheberrecht auf.
       
 (DIR) Datenschützer unterliegt vor Gericht: G20-Fahnder dürfen weiter scannen
       
       Das Verwaltungsgericht wischt die Anordnung des Hamburger
       Datenschutzbeauftragten, die G20-Fahndungsdatei zu löschen, vom Tisch.