# taz.de -- Die Wahrheit: Absagen ist das neue Zusagen
       
       > In diesen schweren Zeiten sozialer Distanzierung gibt es kaum ein Licht
       > der Hoffnung – gäbe es nicht ausgebildete Absagetechniker.
       
       Deutschland geht in den Lockdown – als eines der letzten Länder in Europa.
       Nachdem der frühere Gesundheitslobbyist Jens Spahn zusammen mit seinen
       Konzernkumpels das Gesundheitssystem an die Grenze der Belastbarkeit
       gespart hat, darf es jetzt selbstverständlich von niemandem mehr benutzt
       werden. Um weitere Infektionsfälle zu vermeiden und die OPs für lukrative
       Hüftimplantate frei zu halten, müssen nun großflächig Veranstaltungen
       abgesagt werden, müssen Häuser geschlossen und Menschenansammlungen
       gesprengt werden. Die Regel lautet: Lieber zweimal Händewaschen statt
       teures Beitragsgeld verbrauchen! So weit, so zwingend.
       
       Das Problem: Deutschland ist auf eine Absagewelle dieser Größe nicht
       vorbereitet! „Der deutsche Sozialcharakter ist auf Verbindlichkeit
       ausgelegt“, sagt der Soziologe Floris Monokamp. „Ein Termin, dem Sie vor
       einem halben Jahr zugesagt haben, gilt, auch ohne zwischenzeitliche
       Rücksprache. Man schleppt sich sterbenskrank in die Arbeit, geht mit
       vierzig Grad Fieber zum Fußball und pflegt die immungeschwächte Oma,
       nachdem man einen Gülletank gereinigt hat. Absagen gelten als Schande, als
       persönliches Versagen.“
       
       Viele Deutsche seien zum ersten Mal in ihrem Leben mit überraschenden
       Absagen konfrontiert, wüssten nicht mit ihnen umzugehen. „In anderen
       Ländern ist es völlig normal, aus nichtigstem Anlass oder wegen diffuser
       Unlustgefühle noch eine halbe Stunde vor einem Treffen abzusagen, das wird
       auch nicht weiter als Problem gesehen. Man kann sagen: Die Absageresistenz
       ist anderswo größer, dort wurde konsequent die Terminabwehr gestärkt.
       Deutschland steht in Sachen Absagekultur noch am Anfang.“
       
       Absagensängste sind die neuen Versagensängste. Viele Deutsche verlassen
       ihre Wohnungen nicht mehr, aus Angst, im öffentlichen Nahverkehr von einem
       Fremden urplötzlich eine Absage ins Gesicht gerotzt zu bekommen. Das
       Problem: Um erfolgreich zu Hause bleiben zu können, muss man selbst
       wiederum Dinge absagen. „Ein Teufelskreis“, sagt Monokamp, während er
       seinen Mantel anzieht. „Leider muss ich jetzt plötzlich aus diesem
       Interview raus, obwohl ich Ihnen im Vorgespräch zwei Stunden zugesagt
       hatte. Ich hoffe, Sie kommen damit zurecht. Oder krepieren Sie halt dran.
       Mir doch egal!“
       
       ## Händeringende Spezialistensuche
       
       Große Eventportale suchen derzeit händeringend nach ausgebildeten
       Absagetechnikerinnen und -technikern – ein Beruf, der im
       Verlässlichkeitsparadies Deutschland bisher kaum nachgefragt wurde. In den
       Statistiken der Berufsgenossenschaften rangiert die Ausbildung nur knapp
       oberhalb von Bienenfriseur/in, Kükenschredder/in und Soßenbinder/in.
       
       „Die letzten Großveranstaltungen, die im Bundesgebiet mit Breitenwirkung
       abgesagt wurden, waren die Loveparade und der Zukunftskongress der SED
       1992. Das wurde damals alles von ausländischen Hilfskräften abgewickelt,
       die aus Ländern mit entwickelten Absagesystemen kamen“, sagt Katinka
       Heutner, Sprecherin der Absageagentur „Kleine Nulpe“ in Hannover.
       
       „Wir raten betroffenen Unternehmen zu einer Absagesonderuntersuchung“, so
       Heutner. Was zunächst extrem albern klingt, ist es dann auch in der Praxis,
       so die Beraterin: „Ist Ihr Unternehmen darauf vorbereitet, dass Leute weder
       etwas kaufen noch zur Arbeit erscheinen? Können Sie sich in Zeiten der
       Quarantäne selbst beschäftigen? Gibt es in Ihrem Betrieb genug Däumchen,
       die notfalls gedreht werden können? Sind die Bänke lang genug, auf die Sie
       Ihre Probleme schieben können? Falls nicht, können Sie den Laden praktisch
       jetzt schon dicht machen.“
       
       Heutner und ihre Crew können sich derzeit vor Aufträgen nicht retten. „Wir
       haben hier ein komplettes Bundesministerium, dessen Namen wir aus Gründen
       geheim halten wollen. Die haben festgestellt, dass sie komplett überflüssig
       sind, seit sie einen gleißnerischen Wirrkopf aus Bayern an ihrer Spitze
       haben. Jetzt müssen sie über 40.000 Termine absagen und ein komplettes
       Mautsystem in den Balkan verhökern.“
       
       Wie sieht es im Bereich der Kultur aus, wie reagieren Oper, Schauspiel und
       Co. auf die neue Lust an der Absage? Heutner rät der Branche, sich die
       „Geisterspiele“, die im Fußball praktiziert werden, zum Vorbild zu nehmen.
       „Das heißt konkret: Lieber der ‚Fliegende Holländer‘ als der ‚Ring des
       Nibelungen‘, lieber ‚Das Gespenst von Canterville‘ als ‚Das Bildnis des
       Dorian Gray‘, lieber ‚Das Geisterhaus‘ als ‚Die Pest zu London‘. Mit etwas
       Glück braucht man die Zuschauer auch gar nicht mehr auszuladen!“
       
       Wie beauftragt man nun einen professionellen Absagetechniker? Heutner
       berichtet aus ihrer täglichen Praxis: „Am besten rufen Sie erst mal bei uns
       an und machen keinen Termin, denn den sagen wir Ihnen natürlich wieder ab.
       Haha, kleiner Scherz. Lustig, wie eine totale Katastrophe wie diese bei uns
       allen diesen Galgenhumor aktiviert, oder? Ich finde das toll.“
       
       ## Klagloses Schilderaufhängen
       
       Ausgebildete Absagetechniker können bis zu hundert Mal pro Minute „Ich habe
       leider eine schlechte Nachricht für Sie“ sagen, ohne dabei ins Schwitzen zu
       geraten. Klaglos hängen sie Schilder mit der Aufschrift „Trotz plötzlicher
       schwerer Krankheit für Sie geöffnet“ in Metzgereien und Backstuben. Sie
       springen furchtlos und mit Anlauf in Menschenansammlungen und prügeln
       besinnungslos auf sie ein, halt, Moment, nein, das waren Polizisten.
       
       „Sehen Sie sich Italien an“, sagt Heutner und zeigt auf eine Karte der
       Halbinsel. „Hier wurde in wenigen Wochen gleich ein ganzes Land abgesagt.
       Ist doch fabelhaft, oder nicht? Dolce far niente funktioniert eben, auch
       als Prinzip der Krisenprävention.“
       
       Einig sind sich die Experten in der Erkenntnis: Deutschland wird sich
       verändern. „Die Herzlichkeit, die spontanen Küsse und Umarmungen, die
       ausgelassene Stimmung auf Partys und Stehempfängen der Handwerkskammer
       Rhein-Neckar, all das, wofür wir Deutschen in der Welt bekannt sind und
       geschätzt werden, wird in den Hintergrund treten“, so Soziologe Floris
       Monokamp, der von seiner Absage in diesem Moment überraschend
       zurückgetreten ist.
       
       „Wir werden ein Land von Duckmäusern und Drückebergern werden, die sich in
       ihren Wohnungen verkriechen und den Kontakt zu ihren Mitmenschen auf ein
       Minimum beschränken. Ein jeder wird vor allem vor der eigenen Tür kehren,
       aber nur zu festgelegten Zeiten, wenn niemand anderes auf dem Flur ist. Wir
       werden aber auch eine Gesellschaft haben, in der Alte und Kranke die Chance
       haben, sich mit modernen Homeoffice-Arbeitsplätzen aktiv in den
       Wirtschaftskreislauf einzubringen. Es wird eine andere Gesellschaft, aber
       eine, in der immer noch viele Menschen gerade so leben können. Ich freue
       mich darauf!“
       
       13 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leo Fischer
       
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