# taz.de -- Die Wahrheit: O, du kühner Stachel
       
       > Lob des Abfalls: Ehrenrettung einer oft verkannten Materie, die keinen
       > Vergleich scheuen sollte, ist sie doch ein Produkt unserer Gesellschaft.
       
       Es ist in letzter Zeit leider vermehrt zu beobachten, dass Müll und Abfall
       im Ruf der Durchschnittsbevölkerung sehr gelitten haben. Vielerorts wird
       „Abfall“ als Schimpfwort genutzt und vor allem verstanden; wer mit Abfall
       gleichgesetzt wird, fühlt sich aufs Tödlichste beleidigt und verletzt.
       Warum ist das eigentlich so? Ist Abfall wirklich so schlecht wie sein Ruf?
       Sollten wir nicht neu darüber nachdenken, was es eigentlich heißt, Abfall
       zu sein? Und uns um seine Ehrenrettung bemühen?
       
       Abfall! Welch wundersamer Reichtum allein schon in dem Wort verborgen ist!
       Der Abfall vom Glauben, der Abfall semiautonomer Teilrepubliken, die
       abfälligen Bemerkungen, welche modische Wagnisse in der Büroküche
       zwangsläufig nach sich ziehen – Wagnis, Kühnheit, historischer Aufbruch,
       aber auch bizarre Hofintrigen und spannende Telenovelas, das und noch viel
       mehr strahlt aus der Vokabel.
       
       Abfall hat eine Würde, einen Stolz; wer abfällt, ist kühner Stachel im
       Fleisch widriger Verhältnisse oder ein saftiger Apfel, der alsbald
       servierfertig vom Baum sprinten mag. Wo der grobe „Müll“ amorph vor sich
       hin rottet, wo der „Schrott“ spitzzackig in die Prosodie hineingrätscht,
       ist der Abfall das nobelste Entsorgungsprodukt, das der Welt bekannt ist;
       ein entehrter Landadliger, den es an ferne Gestade verschlagen hat, lebende
       Erinnerung an den Glanz früherer Zeiten – und stille Hoffnung auf ihre
       Wiederkehr.
       
       ## Die Poesie des Rohstoffs
       
       Abfall ist ein Rohstoff, verkündet lapidar der Verband der
       Abfallwirtschaft. Das wird der Poesie des Abfalls jedoch keineswegs
       gerecht! Abfall ist nicht Erdöl, ist nicht Mangan, muss nicht erst der
       Natur entrissen und mühevoll raffiniert werden, sondern ist bereits durch
       liebende Hände gewandert, wurde von Menschenwitz gestaltet, geformt und
       kalfatert, ist Produkt unseres Geistes, wie es auch Literatur, Kunst und
       der Quintenzirkel sind.
       
       Im Abfall erkennt sich die Menschheit selbst wieder, in ihrer Größe, in
       ihrer Schwäche – und führt sich selbst neuen Zwecken zu. Aus dem Abfall
       atmet uns die Zukunft selbst an – unsere je eigene wie auch die der
       Gattung! Abfall bist du, und Abfall sollst du werden; aus Abfall werden wir
       wiedergeboren, unsterblich und immergrün. Eine Rewe-Einkaufstasche mag aus
       nur zwei alten Plastikflaschen gezwieselt sein, doch wird sie selbst dann
       noch Joghurt und Gute-Laune-Beuteltee transportieren, wenn wir alle schon
       auf der großen grünen Abfallhalde im Stadtzentrum der karmischen
       Rezyklierung entgegenharren.
       
       Dass diejenigen, die mit Abfall tatsächlich täglich zu tun haben, so übel
       beleumdet sind, spricht nur vom schlechten Gewissen der Gesellschaft, nicht
       gegen jene. Was ist das überhaupt für eine Welt, in der diejenigen, die all
       die benannten Wunder am Abfall vollziehen, als verfemt und unmöglich
       gelten? Warum wird verächtlich vom „Müllmann“ geredet, als sei er mit
       seinem Substrat identisch? Warum gilt es als das Schlimmste, mit Abfall zu
       tun zu haben?
       
       ## Die Magie des Mülls
       
       Kinder wissen noch von der Magie, die der Abfallwirtschaft innewohnt,
       blicken staunend auf die riesigen orangefarbenen Transportfahrzeuge,
       identifizieren sich pathisch mit PS-Zahlen und Maximaltraglasten, blicken
       mit schamloser Lust auf das Spektakel, das sich darbietet, wann immer ihre
       gewaltigen Müllpressen alles zermalmen; dem T-Rex gleich, der sich am
       Mammut sättigt. Ohne Zögern würden sie, ließe man sie denn gewähren, mit
       Karacho auf die großen Abfallhalden kraxeln, aus dem Gewesenen Schlösser
       und Burgen bauen, ohne Ekel, ohne Sagrotan.
       
       Ja, es ist so: Wir alle werden als leidenschaftlich Abfallwirte geboren,
       jederzeit bereit, uns dreckig zu machen! Nur das pathologische
       Reinlichkeitsbedürfnis der Moderne macht aus spannenden Müllhalden und
       abenteuerlichen Schrottplätzen tabuisierte, angstbesetzte Angelegenheiten,
       setzt sie mit Leprakolonien gleich, macht sie zu Un- und Antiorten. Dabei
       sollten wir allen dort Beschäftigten jeden Tag auf Knien danken und zu
       hohen Festtagen selbstverständlich dicke Trinkgelder und einen
       Manteltarifvertrag geben, der sich gewaschen hat. Jawohl.
       
       Und ist es denn wahr, dass der Abfallvergleich das Schlimmste ist, was man
       Menschen antun kann? Es gibt weitaus Schlimmeres, was man sein kann. Man
       kann Gewaltverbrecher sein oder Armin Laschet. Abfall hingegen ist harmlos,
       Abfall ist das Gegenteil von Gefahr. Abfall hat seinen Ort, seine Zeit;
       Abfall kann wieder zu Neuem werden und in alter Stärke erstehen. Es bringt
       nicht viel, die eigenen Gegner als Abfall zu bezeichnen, will man sie als
       gefährlich zeichnen. Abfall ist ein notwendiges Produkt der Gesellschaft,
       so wie Strom oder Tagescreme – es mag einem manchmal peinlich sein, doch
       ohne Abfall geht es nicht.
       
       Nein: Wer Abfall ist, ist allerhöchstens in einem Stadium ontologischer
       Rehabilitation, wird zu etwas Neuem, hat sich in einen Kokon aus Müll
       zurückgezogen, um als wunderschöner Schmetterling demnächst wieder am
       gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhang teilzunehmen. Wer eine
       andere Person „Abfall“ nennt, wünscht ihr letztlich nur Besserung, ähnlich
       wie man dem Niesenden“ Gesundheit!“ sagt. In diesem Sinne sollten wir alle,
       auch in realistischer Selbsterkenntnis, einmal täglich zu uns sagen:
       Jawohl, ich bin Abfall! Es wäre zumindest ein Anfang.
       
       20 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leo Fischer
       
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