# taz.de -- Jahrestag des Mords an Walter Lübcke: „Ohne Tabu“ gegen rechts?
       
       > Vor einem Jahr wurde Walter Lübcke ermordet. Nach zwei weiteren
       > rechtsextremen Anschlägen reagierte die Politik. Aber es bleiben
       > Problemstellen.
       
 (IMG) Bild: Kassel, Juni 2019: Trauergottesdienst für Walter Lübcke
       
       BERLIN taz | Als vor einem Jahr klar war, dass [1][der Kasseler
       Regierungspräsident Walter Lübcke aus einem rechtsextremen Motiv erschossen
       wurde], war das Entsetzen groß. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
       nannte die Tat „furchtbar und unerträglich“. Bundeskanzlerin Angela Merkel
       verkündete, man müsse den Rechtsextremismus „in den Anfängen bekämpfen,
       ohne jedes Tabu“.
       
       Doch dann folgten zwei weitere rechtsextreme Attentate: [2][der Angriff auf
       die Synagoge in Halle mit zwei Toten] und [3][die Ermordung von neun
       Menschen mit Migrationshintergrund in Hanau]. Und wieder reagierte die
       Politik mit Entsetzen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach nun
       von einer „Blutspur“, die der Rechtsextremismus durchs Land ziehe.
       
       Es ist nicht so, dass es seitdem bei Worten geblieben wäre. Nach dem
       Anschlag in Halle [4][schnürte die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket], vor
       allem Hass im Internet soll nun stärker bekämpft werden. Nach Hanau wurde
       ein [5][Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und
       Rassismus eingerichtet]. Seehofer [6][verbot „Combat 18“] und einen
       Reichsbürger-Verein. Die Sicherheitsbehörden verordneten sich Reformen
       ihrer Rechtsextremismus-Abteilungen. Und dennoch bleiben Problemstellen.
       
       ## Streit um ein Demokratiefördergesetz
       
       Die wohl größte: die Prävention gegen den Hass. Nur nach Protesten nahm die
       Regierung zuletzt [7][eine Kürzung des Programms „Demokratie Leben“ zurück,
       mit dem Projekte gegen Extremismus gefördert werden]. Nach Halle wollte die
       zuständige Familienministerin Franziska Giffey (SPD) noch einen Schritt
       weiter gehen und die alle fünf Jahre auslaufende Projektförderung dauerhaft
       absichern – mit einem Demokratiefördergesetz. Nach dem Anschlag in Hanau im
       Februar bekräftigte Giffey, ein Gesetzentwurf werde „in Kürze“ vorliegen.
       Jedoch: Diesen gibt es bis heute nicht.
       
       Ein Sprecher Giffeys teilte der taz mit, der Gesetzentwurf solle nun bis
       Ende Juni vorliegen. Ziel sei die „nachhaltige Absicherung der Maßnahmen
       zur Stärkung der demokratischer Kultur“.
       
       Bisher allerdings blockiert die Union. Ein Demokratiefördergesetz greife
       „beträchtlich“ ins Budgetrecht des Bundestags ein, heißt es dort. Es müsse
       möglich bleiben, einzelne Maßnahmen nicht weiter zu fördern.
       Unionsfraktionsvize Thorsten Frei bekräftigte zuletzt, es sei richtig,
       Prävention in den Mittelpunkt zu rücken. Aber: „Dafür brauchen wir kein
       Demokratiefördergesetz.“
       
       Inzwischen jedoch wächst der gesellschaftliche Druck. Schon der
       NSU-Untersuchungsausschuss schlug 2013 ein Demokratiefördergesetz vor.
       Initiativen wie die Amadeu Antonio Stiftung forderten dieses zuletzt mit
       Nachdruck ein: Ihre Arbeit brauche eine „Verbesserung der rechtlichen
       Rahmenbedingungen“, es gebe „immer stärkere Ermüdungserscheinungen“.
       
       ## DGB macht Druck
       
       Nun schaltet sich auch der DGB ein – und schließt sich der Forderung an.
       „Zivilgesellschaftliche Initiativen sind wichtige Verteidigungslinien gegen
       die extreme Rechte“, heißt es in einem noch unveröffentlichten
       Eckpunktepapier der Gewerkschaft, das der taz vorliegt. Ihre Arbeit sollte
       eine „Aufwertung“ erhalten, durch eine „langfristige und auskömmliche
       öffentliche Finanzierung“. „Aus unserer Sicht ist nicht nachzuvollziehen,
       warum als erfolgreich evaluierte Modellprojekte nicht als Dauerangebot mit
       einer Regelförderung fortgeführt werden können und den Projektträgern nur
       jeweils kurze Planungszeiträume zugestanden werden.“
       
       Inzwischen bewegt sich zumindest Innenminister Seehofer. Dieser stehe
       „einer verstetigenden Regelung zur Demokratieförderung grundsätzlich offen
       gegenüber“, erklärte seine Sprecherin der taz. Aber: „Die Gespräche über
       die konkrete Ausgestaltung und die darin zu regelnden Inhalte dauern an.“
       
       ## Kabinettsausschuss stellt nun Prävention in Mittelpunkt
       
       Auch als sich vor anderthalb Wochen das erste Mal der Kabinettsausschuss
       gegen Rechtsextremismus traf – neben Merkel mit immerhin sieben
       MinisterInnen –, erklärte Seehofer die Prävention zum Schwerpunkt. Die
       Sicherheitsbehörden müssten enger mit Opferhilfeverbänden und
       Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, dies habe „herausragende Bedeutung“.
       Auch würde geprüft, wie Betroffene von rechtem Hass besser geschützt werden
       könnten, die keine PolitikerInnen seien. Von einem Demokratiefördergesetz
       sprach Seehofer indes nicht.
       
       Das übernahm Giffey. „Es ist Zeit für ein Demokratiefördergesetz, das den
       Engagierten langfristige Planungssicherheit gibt“, erklärte die
       Familienministerin. Sie werde sich in dem Kabinettsausschuss dafür
       einsetzen. Man müsse dort „Sicherheit und Prävention konsequent
       zusammendenken“.
       
       Der DGB fordert dagegen endlich Konkretes: eine Vorlage und Verabschiedung
       des Gesetzes. Die zivilgesellschaftlichen Initiativen leisteten
       „unverzichtbare Arbeit für unsere Demokratie“, sagte Bundesvorständin Anja
       Piel der taz. Sie arbeiteten aber „wegen der befristeten Projektförderung
       seit Jahren unter prekären Bedingungen und mit unsicheren Aussichten“. „Mit
       dem Demokratiefördergesetz muss die Arbeit dieser Initiativen endlich
       stetig abgesichert und gefördert werden, denn die größte Bedrohung unserer
       Demokratie kommt von den extremen Rechten.“
       
       Der Kabinettsausschuss aber bleibt bisher vage – und gab sich nur einen
       Arbeitsplan. Bis Oktober will er einen neuen Maßnahmenkatalog zur
       Bekämpfung des Rechtsextremismus vorlegen. Angehört werden sollen dafür
       auch zivilgesellschaftliche, migrantische und wissenschaftliche
       VertreterInnen. Für August ist ein Bund-Länder-Treffen zum Thema geplant.
       
       Ein wichtiger Pflock wurde zuletzt indes anderweitig eingeschlagen: In
       ihrem Eckwertebeschluss zur Haushaltsplanung erhöhte die Regierung den Etat
       für das Präventionsprogramm „Demokratie leben“ von derzeit 115,5 auf 150
       Millionen Euro im Jahr 2021, bis 2024 gar auf 200 Millionen Euro. Giffey
       äußerte sich darüber erfreut: „Die Präventionsarbeit zur Stärkung der
       Demokratie und um Extremismus vorzubeugen, ist wichtiger und nötiger denn
       je.“
       
       ## Umsetzung der Maßnahmen zieht sich
       
       Aber auch das erste, im Oktober beschlossene Maßnahmenpaket der Regierung
       gegen Rechtsextremismus, neun Punkte umfassend, ist noch nicht
       abgearbeitet. So zieht sich die Umsetzung des zentralen Vorhabens hin: die
       Bekämpfung von Hass im Netz. Auch Walter Lübcke war vor seiner Ermordung
       massiven Drohungen im Internet ausgesetzt. [8][Künftig nun sollen
       Online-Netzwerke strafbare Postings einer Zentralstelle beim
       Bundeskriminalamt (BKA) melden, die diese dann verfolgt]. Bis es dazu
       kommt, kann es aber noch dauern. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt noch
       im Bundestag, das BKA-Konzept für die Meldestelle wird noch im
       Innenministerium geprüft. BKA-Chef Holger Münch rechnet mit einer ersten
       Pilotphase erst Anfang 2021.
       
       Und auch das Analysetool Radar-rechts, mit dem das BKA rechtsextreme
       Gefährder wie den aus dem Blick geratenen Lübcke-Mordverdächtigen Stephan
       Ernst aufspüren will, befindet sich noch in der Entwicklungsphase. Eine
       flächendeckende Anwendung wird hier laut BKA erst für das erste Halbjahr
       2022 angestrebt. Zudem ist auch ein angekündigtes Lagebild des
       Verfassungsschutz über rechtsextreme Umtriebe im öffentlichen Dienst weiter
       nicht in Sicht.
       
       Die Amadeu Antonio Stiftung fordert derweil eine gemeinsame
       Bundeskonzeption aller Ministerien gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
       Antisemitismus. Dazu gehöre auch die Benennung klarer Ziele, etwa eine
       Reduzierung der rechtsextremen Straftaten um 50 Prozent in den nächsten
       fünf Jahren. Erst am Mittwoch hatte Seehofer hier jedoch [9][einen Anstieg
       von 9 Prozent im vergangenen Jahr auf 22.342 Delikte konstatiert].
       
       Beratungsverbände von Opfern rechter Gewalt forderten zudem jüngst in einem
       offenen Brief an Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) eine Ausweitung
       der Entschädigungsleistungen für Angegriffene. Diese müssten auch
       Sachschäden und wirtschaftliche Verluste von attackierten Geschäften wie in
       Hanau umfassen. Lambrecht signalisierte hier Entgegenkommen.
       
       ## Auch weiter Druck auf die AfD gefordert
       
       Und der DGB appelliert, auch die politische Bildung „wieder nachhaltig zu
       stärken“. Hier gebe es finanziell eine „erhebliche Unterdeckung“. Zudem
       brauche es weiter ein konsequentes Vorgehen gegen die AfD. Der Partei wird
       ein Mitanheizen von rechtem Hass wie gegen Walter Lübcke vorgeworfen. „Auch
       nach der Selbstauflösung des Flügels darf der Druck auf kaum verbrämte
       Neonazis, die sich in der AfD engagieren, nicht nachlassen“, heißt es in
       dem DGB-Beschluss. Ein deutlicher Standpunkt – umso mehr, da es auch unter
       Gewerkschaftern AfD-AnhängerInnen gibt.
       
       Im Fall Lübcke wird die Politik den Dienstag, den Todestag des Kasseler
       Regierungspräsidenten, vorerst noch einmal der stillen Trauer widmen. Die
       hessische Staatskanzlei plant eine Kranzniederlegung – wegen der
       Corona-Pandemie unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Vor dem
       Regierungspräsidium will das „Bündnis gegen rechts Kassel“ Blumen ablegen.
       Schon zuvor wurde an dem Gebäude ein Großbanner aufgehängt: „Demokratische
       Werte sind unsterblich.“
       
       2 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Mordfall-Walter-Luebcke/!5603500
 (DIR) [2] /Schuesse-und-Tote-in-Halle/!5628784
 (DIR) [3] /Rechter-Anschlag-in-Hanau/!5663003
 (DIR) [4] /Reaktion-auf-Nazi-Terror/!5634954
 (DIR) [5] /Kampf-gegen-Rechtsextremismus/!5669084
 (DIR) [6] /Rechtsextreme-Vereinigung-Combat-18/!5675027
 (DIR) [7] /Bundesprogramm-Demokratie-leben/!5637044
 (DIR) [8] /Polizeikongress-in-Berlin/!5662074
 (DIR) [9] /Seehofer-praesentiert-Polizeistatistik/!5685225
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Terror
 (DIR) Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
 (DIR) Prävention
 (DIR) Franziska Giffey
 (DIR) Demokratie
 (DIR) DGB
 (DIR) Rechtsextremismus
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Rechtsextremismus
 (DIR) Geht's noch?
 (DIR) Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Terror
 (DIR) Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
 (DIR) Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
 (DIR) Rechtsextremismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Forderungen an Antifa-Kabinett: Schluss mit Sonntagsreden
       
       Der Antifa-Ausschuss der Regierung sorgt sich wegen der Coronaproteste und
       hört Verbände an. Die Forderung: endlich klares Handeln.
       
 (DIR) Maßnahmen gegen Rassismus: Teilhabe als Staatsziel
       
       Migrant:innenorganisationen stellen ihren „Anti-Rassismus-Plan 2025“ vor.
       Dieser soll ein Ansporn für die Arbeit der Bundesregierung zum Thema sein.
       
 (DIR) Rechter Podcast auf Spotify: „Ein Prozent“ bleibt abrufbar
       
       Der Streamingdienst Spotify behält die „Lagebesprechung“ des rechten
       Vereins auf der Plattform. Eine Petition hatte die Löschung gefordert.
       
 (DIR) Jahrestag des Mordes an Walter Lübcke: Nicht hinter dem Helden verstecken
       
       Der von Nazis ermordete Walter Lübcke bleibt ein Vorbild – vor allem, wenn
       man an die Beamten denkt, die im Kampf gegen rechts versagt haben.
       
 (DIR) Wohnungsdurchsuchung und Hasskommentare: Razzien wegen Hetze gegen Lübcke
       
       Sie verbreiteten Hasskommentare gegen Walter Lübcke, nun wurden bundesweit
       Wohnungen von 40 Personen durchsucht. Die Politik lobt den Vorstoß.
       
 (DIR) Nazi-Angriff auf Synagoge 2019: Halle-Attentäter wollte aus Haft fliehen
       
       Stephan B. versuchte in Halle die Synagoge anzugreifen. Nun überkletterte
       er in der JVA eine Mauer, wurde aber kurz darauf wieder gefasst.
       
 (DIR) Diskussion zum Mord an Walter Lübcke: Die Eiterbeule aufstechen
       
       In Kassel diskutierten PolitikerInnen und ExpertInnen über Erkenntnisse aus
       dem Mord an Walter Lübcke. Es herrschte seltene Einmütigkeit.
       
 (DIR) Anklage im Mordfall Walter Lübcke: „Ein Fanal gegen den Staat“
       
       Im Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke
       erschossen. Nun erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage.
       
 (DIR) Kampf gegen Rechtsextremismus: Antifa-Kabinett eingerichtet
       
       Der neue Kabinettsausschuss soll die Bekämpfung des Rechtsextremismus
       koordinieren. Das scheint jetzt Chefinnen-Sache zu sein.