# taz.de -- Essay zu Integration und Zuwanderung: Dieses Deutschland gehört mir
       
       > Die Deutschiranerin Yasaman Soltani hörte oft, sie solle dahin
       > zurückgehen, wo sie herkomme. Sie ging wirklich, kehrte zurück – und hat
       > viel gelernt.
       
 (IMG) Bild: „Auf den Straßen sprachen plötzlich viele Menschen meine Sprache“: Soltani in Frankfurt/Main
       
       Frau Soltani, wenn es Ihnen hier nicht gefällt, dann gehen Sie doch wieder
       dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind.“
       
       Als ich vor [1][acht Jahren einen Leserartikel für Zeit Online] schrieb und
       darin ausführte, dass die Integration von Ausländern nicht nur durch diese
       zu erreichen sei, sondern auch eine Beteiligung der deutschen Bevölkerung
       erfordere, las ich zahllose Kommentare, die mir ein verbales Rückflugticket
       ausstellten. Damals, 2012, war das Wort [2][„Hasskommentar“] noch neu, und
       ich kannte den Umgang damit nicht.
       
       Ich las einen nach dem anderen und wurde trauriger und trauriger, bis ich
       endlich verstand, dass es sich nicht um konstruktive Kritik an meinem
       Artikel handelte. Meine Sätze hatten etwas angerührt. 50.000 Aufrufe. 522
       Kommentare. Über Tage meistgelesener Artikel. Ich versuchte, die Kontrolle
       über die Reaktionen zu gewinnen, erstellte eine Liste, in die ich alle
       positiven und negativen Kommentare eintrug. Doch ihre Worte schwirrten mir
       im Kopf umher und taten weh. Die Negativen hatten einfach mehr Gewicht.
       
       Kommentar Nummer 66 lautete: „Wer die angebotene Wurst nicht will, verlässt
       bitte den Laden und lässt sich woanders bedienen.“ Aber in welchen anderen
       Laden sollte ich denn gehen? War dieses Land nicht mein Laden? „Warum
       hassen sie uns?“, hatten Asylbewerber in Hoyerswerda damals auf ein Laken
       geschrieben.
       
       Heute frage ich mich das nicht mehr. Das „Warum“ interessiert mich schlicht
       nicht mehr. Früher, als Jugendliche, habe ich diskutiert, mich gewehrt. An
       Wahlständen der CDU stemmten wir uns gegen Gegner der doppelten
       Staatsbürgerschaft. Wir wollten unsere Herkunft nicht aufgeben, und wir
       wollten Deutsche sein.
       
       Bei meinem Schülerpraktikum in einer Werbeagentur regte man sich beim
       Mittagessen gern über die „Ausländer“ auf, und ich, in meiner frischen
       Bereitschaft, mich aufzulehnen, hielt dagegen. „Auch ich bin Ausländerin“,
       verkündete ich. „Nein, du bist anders. Du bist total gut integriert.“ Total
       gut integriert? Wer waren sie, dass sie mir in meinem vermeintlich eigenen
       Land, diese Auszeichnung gaben? Durfte ich es andersherum genauso? Durfte
       ich zu ihnen auch „Du sprichst aber gut Deutsch“ sagen?
       
       Kommentar Nummer 22: „Liebe Zuwanderer, nutzt das Angebot, anstatt zu
       meckern. Auf dem silbernen Tablett werdet ihr die Integration nämlich kaum
       hinterhergetragen bekommen. Mein Nachbar aus Jugoslavien (sic) ist bestens
       integriert. Und jugoslavisch (sic) spricht er nicht mehr – er hat sein
       Geburtsland hinter sich gelassen. Er hat keine doppelte
       Staatsangehörigkeit! Er hat sich eben ganz und gar integriert und ist von
       einem Einheimischen nicht mehr zu unterscheiden.“
       
       Einmal abgesehen davon, dass es 2012 das Land Jugoslawien gar nicht mehr
       gab und es die Sprache Jugoslawisch nie gegeben hat, fragte ich mich, ob
       der Leser recht hatte. War das das Rezept, um hier akzeptiert zu werden?
       Seine Muttersprache nicht mehr sprechen? Sein Vaterland hinter sich lassen?
       
       Mein Vaterland ist der Iran. Dort bin ich 1983 geboren. Wir verließen meine
       Heimat, als ich sechs Jahre alt war. Meine Eltern waren damals Anfang
       dreißig, mein Bruder war gerade mal drei. Es war keine gute Zeit, um im
       Iran zu leben. Der Iran-Irak-Krieg war seit einem Jahr zu Ende, das Land
       war farblos und karg. Aber 1989 war auch keine gute Zeit, um in Deutschland
       anzukommen.
       
       Hoyerswerda, 1991.
       
       Rostock-Lichtenhagen, 1992.
       
       Solingen, 1993.
       
       Als ich erwachsen war, erzählte mir mein Vater, dass er nach unserer
       Ankunft aus Deutschland fliehen wollte. Dabei waren wir doch gerade erst
       geflohen. Wir waren Flüchtlinge. Und er erzählte mir auch, dass er sich
       damals einen Vollbart wachsen ließ. Ein Gemisch aus Wut und Trotz.
       Vielleicht auch Stolz. Er wollte sich als Ausländer nicht verstecken.
       
       Wir lebten in Frankfurt am Main. Ich erinnere mich an wenig aus dieser
       Zeit. Ich aß hier meine erste Banane, das weiß ich noch. Und ich erinnere
       mich an einen Schultag, an dem meine Mutter mich zu spät abholte. Ich saß
       weinend im Büro der Schulleiterin, die mir Fragen auf Deutsch stellte, die
       ich zwar verstand, doch nicht auf Deutsch beantworten konnte. Vielleicht
       war es auch mein Schluchzen, das mich vom Antworten abhielt. Ich weiß es
       nicht mehr.
       
       Ich weiß nur, dass ich nickte und den Kopf schüttelte, um ihre Fragen zu
       beantworten. Nur sieht das persische Nicken und Kopfschütteln anders aus
       als das Deutsche. Im Iran hebt man sein Kinn, um zu sagen: „Nein.“ Die
       umgekehrte Bewegung, also, das Kinn zu senken, bedeutet „Ja.“ Und so hielt
       die Schulleiterin sowohl mein Ja als auch mein Nein für ein amputiertes Ja.
       
       Ich erinnere mich auch daran, dass wir für unseren Asylantrag Stuhlproben
       abgeben mussten. Auch wir Kinder mussten uns im Bad auf den Boden hocken
       und auf ein Stück Papier kacken, damit wir es eintüten und verschicken
       konnten.
       
       Ich erinnere mich, dass ich nicht konnte und wie meine Mutter, die die
       Angst vor den deutschen Behörden noch nicht verinnerlicht hatte, kurzerhand
       das Produkt meines Bruders halbierte und eine der Hälften in meinem Namen
       abschickte. Mit sechs Jahren wusste ich nicht, was Erniedrigung bedeutet,
       doch diese Szene ist mir in meinem erwachsenen Gehirn als erniedrigend in
       Erinnerung geblieben.
       
       „Die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte werden abgelehnt“, hieß es
       einige Monate später in einem Schreiben vom Bundesamt für die Anerkennung
       ausländischer Flüchtlinge – wie die Behörde damals noch hieß –, das an mich
       und meinen Bruder gerichtet war. Er war drei und ich sechs Jahre alt.
       Hatten wir umsonst gekackt?
       
       Unser Anwalt ging in Berufung, und unser Leben in Deutschland nahm seinen
       Anfang. Wir lernten Deutsch, mein Bruder und ich sprachen nach einem Jahr
       kein Persisch mehr zu Hause, unsere Mutter nannten wir „Mutti“. Meine
       Eltern fingen an zu arbeiten, und ich erinnere mich an manche Geschichten,
       die sie von der Arbeit erzählten, davon, wie ihre Kollegen ihnen
       begegneten.
       
       Dass viele freundlich waren, ist meiner Meinung nach nicht erwähnenswert,
       das sollte selbstverständlich sein, meine Eltern waren es ja auch. Neben
       der Freundlichkeit war da noch etwas anderes. Ein Gefühl, das ihnen als
       Ausländer vermittelte, dass sie im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen
       immer ein bisschen dümmer waren, weil ihr Deutsch nicht muttersprachlich
       war.
       
       Ich erinnere mich an eine wütende Hilflosigkeit und daran, wie ich mir
       vorstellte, meine Mutter auf der Arbeit zu besuchen und ihre Kollegen in
       einwandfreiem Deutsch zurechtzuweisen. Ich tat es nie. Die Wut blieb.
       
       ## Wütend auf Merkel und Mustafa
       
       Mein Bruder und ich gingen zur Schule, aufs Gymnasium, es folgten Studium,
       Promotion, Approbation, Postdoc. Zusammen legten wir einen beispiellosen
       Lebenslauf hin, in den sich Erfahrungen streuten, die uns immer wieder
       daran erinnerten, dass wir nicht „wirklich“ von hier kamen. Die Polizei
       hielt Jugendliche, die nicht deutsch aussahen, unzählige Male auf der
       Straße an.
       
       Ältere deutsche Frauen setzten sich in der U-Bahn weg, wenn neben ihnen
       jemand mit dunklerer Haut, dunkleren Haaren oder dunklem Bart Platz nahm.
       Eltern schämten sich, dass die Tochter einen ausländischen Freund mit nach
       Hause brachte, Professoren vergaben fünf Promotionsstellen an fünf
       deutsche, also hier geborene Studenten.
       
       An den Migranten gerichtet, hieß es: „Sie können doch so gut Englisch, da
       ist England genau das Richtige.“ Als ich mich für ein Promotionsstipendium
       bewerben wollte, sagte mein Professor: „Stipendium? Dafür reichen deine
       Noten doch nicht.“ Ich hatte einen Einserschnitt im Diplom. Und als ich es
       trotzdem tat und es erhielt, sagte eine Freundin: „Ja, die Stiftung braucht
       endlich mal ein Paar Migranten. Sieht sonst echt nicht gut aus.“
       
       Dann wurde ich Psychotherapeutin. Die teure Ausbildung, die unbezahlte
       Arbeit in der Psychiatrie finanzierte ich selbst. Es gab sonst kaum
       Migranten, die sich diesen teuren Job leisten konnten. Für uns hatten die
       Großeltern nicht gespart, die waren gar nicht hier.
       
       Zu dieser Zeit, 2015, „brach“ die „Flüchtlingswelle“ über Deutschland
       herein. Und ich behandelte als Erste in unserer Klinik einen geflüchteten
       Patienten. „Beantragen Sie da erst mal weniger Stunden. Wir wissen ja
       nicht, ob der die Therapie nur für seinen Asylantrag will“, schlug ein
       Kollege damals vor. Ich hörte nicht auf ihn und beantragte so viele
       Stunden, wie er brauchte, damit es ihm wieder gut ging.
       
       Langsam veränderte sich das Stadtbild. In Frankfurt sprachen plötzlich
       viele Menschen meine Sprache auf den Straßen. Mir gefiel das. Doch viele
       Bürger waren wütend. Wütend auf Merkel, auf Mohammed, auf Mustafa. Waren
       sie auch wütend auf mich?
       
       „Du bist ja nicht wie die anderen Ausländer. Die Iraner sind so fleißig und
       an Bildung interessiert“, sagte die Mutter einer Freundin. Wir waren die
       „guten Migranten“. Ich war also nicht wie die anderen Ausländer. Aber auch
       nicht wie die Deutschen. Wer war ich dann? Deutsche, Frau mit
       Migrationshintergrund, Migrantin, Ausländerin, Flüchtling, Kanakin.
       
       Ein ordentliches Kastensystem. „Migrationshintergrund“ klingt für mich
       wie „Behindertenausweis“ mit unklarer Prozentzahl. Bis 1949 wird per
       Definition zurückverfolgt, ob die eigenen Eltern zugewandert sind oder
       nicht. Das will man hier nämlich genau wissen.
       
       „Aber Yasa, wir brauchen doch auch Putzfrauen in dieser Gesellschaft“,
       antwortete ein Kollege mir, als ich mich für die Schulbildung einer jungen
       syrischen Klientin einsetzte, und ich verstand, dass die Kanakenkaste
       notwendig war. Ich hatte dem syrischen Mädchen gesagt, was mir meine Eltern
       damals gesagt hatten: „Du musst dich so lange bilden, bis du ganz oben in
       der Gesellschaft einsteigst. Von unten aufsteigen wird dir als Ausländerin
       schwer gelingen.“
       
       Und ich hatte mich gebildet. Immer fleißig gelernt, für mich, für meine
       Eltern, immer mit einer 1 vorneweg. Mehr Bildung ging kaum. Ich hatte auf
       meine Eltern gehört und war oben eingestiegen.
       
       Und dann saß ich eines Morgens als Leiterin meiner Abteilung in einer
       Sitzung, und eine Kollegin fragte in die Runde: „Wer kann das Manuskript
       Korrektur lesen? Am besten macht das ein ‚native speaker‘.“ In unserer
       Runde gab es zwei Deutsche, die sich meldeten. Auch ich hob meine Hand.
       „Frau Soltani, aber Sie sind doch keine ‚native speakerin‘ “, sagte sie,
       und ich senkte langsam die Hand.
       
       Weiter in der Kommentarspalte. Nun hieß es höflich: „Vielleicht sollten
       Sie, werte Frau Soltani, auch einen Augenblick darüber nachdenken, wie es
       Ihnen heute ergehen würde, wären Ihre Eltern im Iran geblieben, anstatt mit
       Ihnen nach Deutschland zu gehen“, hatte ein anderer Leser geschrieben.
       
       Ja, ich habe tatsächlich oft darüber nachgedacht, wie es uns heute ergehen
       würde, hätten wir den Iran nie verlassen. Was habe ich jetzt, was ich nicht
       gehabt hätte? Was habe ich für immer verloren, was ich dort gehabt hätte?
       Niemand kann mir eine Antwort auf diese Fragen geben. Und dann hatte
       derselbe Leser noch hinzugefügt: „Neben Ihren Eltern sollten Sie
       Deutschland dankbar sein, anstatt zu beckmessern.“
       
       Meinen Eltern war ich dankbar. Doch musste ich Deutschland dankbar sein?
       Ich konnte keinem Land dankbar sein. Vielleicht meinte der Leser, ich solle
       Frau Merkel oder Herrn Kohl, der damals Bundeskanzler war, dankbar sein.
       Doch ich spüre keine Dankbarkeit Deutschland gegenüber. Meine Familie
       leistet ihren Beitrag, arbeitet, zahlt Steuern. Ich zahle Steuern und
       behandle die kranken Menschen dieser Gesellschaft. Darunter einen
       Patienten, der früher in der rechten Szene unterwegs war.
       
       „Ist interessant, dass Sie jetzt eine ausländische Therapeutin haben“,
       sagte ich, als er mir davon erzählte. „Ja, ist interessant“, sagte er, und
       es wurde eine gute Therapie. Ich finde, Deutschland kann mir und allen hart
       arbeitenden Kanaken verdammt noch mal dankbar sein. Es müsste einen
       Kanaken-Dankbarkeits-Tag geben! Ohne uns würde diese Gesellschaft nicht
       funktionieren.
       
       Kommentar Nummer 87: „Die junge Dame konnte hier kostenfrei zur Schule
       gehen und anschließend studieren, und sie wird aufgrund des Studiums eine
       bessere Chance auf ein gutes Leben haben als all diejenigen, die ihr dies
       mit ihren Steuergeldern ermöglichten.“ Waren wir nicht dazu bestimmt,
       aufzuholen oder gar zu überholen?
       
       Ich wollte in einem Land leben, in dem meine Anwesenheit nicht nur
       toleriert wurde, nicht nur selbstverständlich war, sondern auch
       wertgeschätzt wurde. Aber „beckmessern“ durfte ich ja nicht, und wenn man
       es doch tat, hieß es: „Gehen Sie doch dorthin, wo Sie hergekommen sind,
       wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“
       
       Vielleicht hatten sie ja recht. Vielleicht sollte ich genau das tun. Es war
       ein gleichzeitiges Abgeschoben- und Angezogenwerden. Das ständig
       vermittelte Gefühl, nicht „ursprünglich“ von hier zu sein, und die
       Sehnsucht, wirklich dazuzugehören, waren die Motoren, die eine Entscheidung
       vorantrieben: Deutschland verlassen und in den Iran zurückkehren.
       
       „Was ist bloß in dich gefahren? Du willst Deutschland verlassen und in den
       Iran ziehen?“, sagten meine Freunde. Sie hatten recht. Ich hatte doch
       alles, was man in Deutschland zum Leben brauchte. Ich war
       Psychotherapeutin. Ich verdiente genug Geld, ging zum Yoga, hatte meine
       Freunde und meine Freuden. Ich genoss meine Pseudofreiheit im Zeitalter des
       Konsums, schaute Netflix, kaufte bei Amazon, ging auf
       Junggesellenabschiede, schmiss Babyshowers für meine Freundinnen, machte
       Urlaub, war gestresst, klagte ständig über zu viel Arbeit, dachte über
       Versicherungen für dies und jenes nach und wiederholte diesen Loop Jahr für
       Jahr. Es war ein gehetzt betäubtes Leben in Frieden und Sicherheit.
       
       ## Analphabetin im eigenen Land
       
       Und so lief auch der Arbeitsalltag hier einfach vor sich hin. „Ich habe
       eine kleine, süße Inderin mit depressiven Symptomen gesehen“, sagte eine
       Kollegin, als sie eine neue Patientin vorstellte. „Ich finde es nicht
       besonders respektvoll, so über Patienten zu reden. Ich stelle meine
       deutschen Patienten auch nicht als ‚kleine, süße Deutsche‘ vor“, sagte ich.
       Und die anderen? Schwiegen. Und ich? Fühlte mich leer, hatte mich ins Aus
       gespielt. Aus der Ausgrenzung in die Ausgrenzung.
       
       „Gibt es eigentlich schwarze Wundpflaster für Schwarze? Müsste es doch“,
       fragte ich eines Mittags in die Runde meiner Kollegen. Wir googelten und
       fanden heraus, dass das bereits in den 60er Jahren in den USA thematisiert
       worden war. „Man kann sich aber auch über jede Kleinigkeit aufregen“,
       murmelte eine Kollegin. „Wenn dein Volk über zweihundert Jahre versklavt
       wurde, und du noch heute täglich Rassismus erfährst, dann ist es keine
       Kleinigkeit, wenn dein Hautton nicht als Hautton anerkannt wird“,
       antwortete ich. Und wieder hatte ich mich aus dem Kreis begeben, hatte
       etwas angesprochen, das zu Mittag schwer verdaulich war. Und die anderen?
       Schwiegen.
       
       Wir Kanaken spürten Rassismus, er war da, passierte uns, unseren Eltern,
       Geschwistern und Freunden, und doch sprach man uns diese Erfahrung ab. „In
       Deutschland haben alle die gleichen Chancen!“, sagte eine deutsche
       Freundin, als ich erklärte, dass mein Name bei Bewerbungen wohl weniger
       Chancen hätte als ihrer. Ihr schien es schwerzufallen, sich einzugestehen,
       dass wir unter ungleichen Bedingungen gleich weit gekommen waren.
       
       „Wahrgenommene Diskriminierung? Was soll das denn sein? Da kann ja jeder
       kommen und sagen, er fühlt sich diskriminiert“, sagte ein Kollege, als ich
       vorschlug, für meine Doktorarbeit zu erfragen, in welchem Ausmaß Migranten
       Diskriminierung wahrnahmen. Ich arbeitete vor einigen Jahren an einem
       renommierten Forschungsinstitut, das zahlreiche Migrantenforschungsprojekte
       durchführte. Dafür gab es nämlich viele Forschungsgelder.
       
       Die Direktorin sagte: „Ich war in Afrika, und wir waren auf dem Anwesen
       eines Kollegen. Es war so süß, dort hingen die kleinen schwarzen Kinder wie
       Äffchen in den Bäumen.“ Aber da konnte ja jeder kommen und sich
       diskriminiert fühlen.
       
       Ich zumindest hatte mich ja assimiliert, wie man es von mir verlangt hatte.
       Sie nannten es zwar „integriert“, doch was sie meinten, war „assimiliert“.
       Ich als Kanakin musste ihnen den Unterschied erklären.
       
       In diesem Prozess der Assimilierung war ich mir selbst fremd geworden. Ich
       fühlte mich fremd in mir und mit mir. Ich hatte die Ausgrenzung
       verinnerlicht, mich dabei verloren und mochte mich nicht. Ich suchte nach
       diesem Gefühl der Zugehörigkeit. Wahrhaftiger, körperlicher Zugehörigkeit,
       die durch den Magen ging. Ich wollte mich durch die Erde, die mich geboren
       hatte, ernähren lassen. Ich dachte, ich würde mich im Iran wiederfinden.
       
       Auf früheren Reisen in den Iran lief ich durch die Straßen Teherans und
       schaute in Gesichter, die mir bekannt, evolutionär vertraut waren. Die
       Stadt war voller Onkel und Tanten, die ich nicht kannte. Die Bärte der
       Männer sahen aus wie der Bart meines Vaters auf den Fotos von früher. Die
       Ringe an ihren Fingern waren die Ringe, die meine Großeltern trugen. Auch
       ich wollte einen solchen Ring haben. Ich wollte ihn an meinem Ringfinger
       tragen. Ich wollte den Iran heiraten und mich, bis dass der Tod uns schied,
       an ihn binden.
       
       Kommentar Nummer 70: „Übrigens ist meine ganz persönliche Erfahrung mit
       Menschen aus dem Iran leider genau die, die hier in dem Artikel präsentiert
       wird. Vermeidet man 1001 Möglichkeiten, sie zu beleidigen, finden sie die
       1002. Möglichkeit. Mir kommt es manchmal fast so vor, als würden sie nur
       darauf warten, beleidigt zu werden. Ursache ist meiner Meinung nach ein
       völlig überkommenes Ehrgefühl.“
       
       Diese unerhörten Sätze ein Leben lang ungehört lassen und weitergehen? Es
       lebten doch so viele meiner Kanakenfreunde in Deutschland und genossen
       ihren Wohlstand. Ich konnte es nicht. „Ich bin Postmigration“, sagte ich zu
       meinen Freunden und meinte damit, dass ich es leid war, expliziten und
       impliziten Rassismus abzuklären. Mich zu erklären. Andere aufzuklären.
       Sollten sie doch ihr Land für sich haben.
       
       Und so kündigte ich meinen Job, ließ mein Leben in Deutschland hinter mir,
       schwamm gegen den „Flüchtlingsstrom“ flussaufwärts und kam dort an, wo
       keiner hinwollte, von wo so viele wegwollten und wo manche mich
       hinwünschten. Freunde schenkten mir zum Abschied nicht ein, sondern gleich
       drei Kopftücher, und ich machte mich auf den Weg.
       
       Ich hörte die Stimme meiner Mutter: „Jetzt? Nach deiner Approbation? Jetzt
       willst du alles stehen und liegen lassen, um in den Iran zu gehen? Sei doch
       vernünftig.“ In den Iran zu gehen, war alles andere als vernünftig. Das war
       keine rationale Entscheidung, ergab keinen Sinn. „Aber du musst doch ein
       Kopftuch tragen“, sagten meine Freunde. „Es ist gefährlich dort, wir machen
       uns doch nur Sorgen um dich“, sagten sie auch. Und: „Das hältst du nie im
       Leben aus. Dir ist deine Freiheit viel zu wichtig.“
       
       Sie fragten: „Du willst nach Irak? Ist da nicht Krieg?“ Es half nichts.
       Vernunft, gute gemeinte Ratschläge und Warnungen ließen mich nicht
       zweifeln. Dorthin, wo ich hergekommen war, dachte ich nur. Im Sommer 2019
       kam ich in Teheran an und stand mit beiden Beinen auf dem Boden, die Fäuste
       in die Seiten gestemmt in dieser Stadt. Ich schlug mein Zelt auf und spürte
       nach. Ich suchte und wusste nicht, wonach.
       
       Im Iran konnte ich kaum lesen und schreiben, ich hatte hier nie die Schule
       besucht. Analphabetin im eigenen Land, dachte ich und bahnte mir Buchstabe
       um Buchstabe den Weg zu einem Wort, das ich dann oftmals nicht kannte.
       „Bitte füllen Sie dieses Formular aus“, sagte ein Bankangestellter, als ich
       dort ein Konto eröffnen wollte.
       
       Ich nahm das Formular entgegen, starrte auf die Wörter und griff nach dem
       Stift, der neben mir lag. „Name“, las ich mir langsam selbst vor. Zumindest
       meinen Namen musste ich doch schreiben können. Verloren starrte ich auf die
       restlichen leeren Felder, die ich nicht zu füllen vermochte. Mir war heiß,
       die Klimaanlage half wenig. Noch weniger half der wartende Blick des
       Bankangestellten.
       
       ## Wie eine Erstklässlerin in Teheran
       
       Ein lange vergessenes Gefühl holte mich ein. Eine Sprachlosigkeit, die ich
       in Deutschland zum ersten Mal erfahren hatte. Ich saß am ersten Schultag
       einer Mitschülerin gegenüber, bemerkte, dass wir die gleichen Hefte hatten,
       wollte sie darauf hinweisen und eine Verbindung herstellen, suchte nach
       ihrem Blick, lächelte, schaute auf mein Heft, dann auf ihres und wollte
       etwas sagen. Und konnte nicht.
       
       Die Worte blieben mir im Hals stecken, denn es waren die falschen. Der
       Augenblick überraschte mich selbst. Sprachlosigkeit hatte ich in meinem
       kurzen Leben bis dahin noch nicht bewusst erlebt. Und heute in der Bank?
       Ich gab mich geschlagen. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sei ich von
       hier. „Entschuldigen Sie bitte, es ist für mich etwas schwierig, dieses
       Formular auszufüllen. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?“
       
       Und so begleitete er mich durch das Dickicht des Formulars. Stolz wie eine
       Erstklässlerin kam ich am anderen Ende heraus, machte ein Foto und schickte
       es meinem Vater. „Mein erstes ausgefülltes Formular“, schrieb ich darunter.
       Das Leben in Teheran war gar nicht so anders als in Frankfurt und
       gleichzeitig völlig anders. Ich hatte eine Wohnung im Norden der Stadt, die
       ich mir nach und nach einrichtete und in der ich tagsüber schrieb.
       
       Ich ging auch hier zum Yoga, meldete mich mit einem Freund bei einem
       Essay-Workshop an und besuchte einen Philosophiekurs, in dem wir Texte von
       Goethe lasen. Freitags ging ich mit Freunden zu Galerie-Eröffnungen, sah
       mir Theaterstücke an und lud zu Filmabenden bei mir zu Hause ein. „Du
       siehst selbst total deutsch aus. Das muss wohl daran liegen, dass du dort
       so lange gelebt hast“, sagte eine Freundin. Ich nickte höflich.
       
       Hier war ich etwas Besonderes, die Freundin aus Europa, obwohl ich mit
       aller Kraft versuchte, mich anzupassen und meinen deutschen Akzent
       loszuwerden. Nicht als anders auffallen und doch anders sein. Das Fremdsein
       haftete weiter an mir. Und trotzdem fühlte ich mich zu Hause bei den
       Menschen hier. Ihr Lautsein, ihre Emotionen, das viele Essen, hier fühlte
       ich mich lebendig.
       
       In Deutschland war es, als würde man mit angezogener Handbremse durchs
       Leben fahren. Dort drehte ich meine Lautstärke herunter. Zimmerlautstärke
       eben. Gesetzliche Mittagsruhe. „Psst! Das ist Ruhestörung!“ Ich sehnte mich
       danach, diese Ruhe zu stören. Ich wollte laut sein, ungestüm, unordentlich,
       ungeplant. Teheran war all das. Und mehr. Eben ganz anders als Deutschland.
       
       ## Halle und Hanau
       
       Kurze Zeit nach meiner Ankunft stand wieder ein Krieg kurz bevor, doch
       Donald Trump brach den Angriff zehn Minuten vorher ab. Hier lebte man mit
       diesem und anderen Damoklesschwertern. Wie? Ich weiß es nicht. Die Armut
       war direkt vor der Haustür, die Menschen waren hilflos und wütend. Und ich
       – ich war hierhergekommen, um mich selbst zu finden? Ich schämte mich.
       
       Der Blick vieler Menschen schien zu sagen: „Die hat keine Ahnung. Diese
       verwöhnten Europäer, die dort im Überfluss leben, wissen nicht, was
       wirkliche Probleme sind.“ Und sie hatten recht. Das dicke Fell, das sich
       die Menschen hier hatten zulegen müssen, fehlte mir. Nach einem halben Jahr
       machte mir alles zu schaffen. Die Luftverschmutzung, die mir in meiner
       Wohnung den Atem nahm, das Chlor im Wasser, das unter der Dusche in meinen
       Augen brannte, das blöde Kopftuch, das meine Haare platt drückte.
       
       Ich gehörte nicht mehr zu diesem Land, schon lange nicht mehr. Doch ich
       wollte bleiben, mir beweisen, dass es ging. Wie konnte ich nach sechs
       Monaten aufgeben und einfach an das Leben in Deutschland anknüpfen? Es war
       kein Entweder-oder, es war zu einem Weder-noch geworden.
       
       Ein weiteres Jahr wollte ich in Teheran leben, kam nach Deutschland, wollte
       vier Wochen bleiben, kurz durchatmen und wieder zurückfliegen. Doch dann
       überschlugen sich die Ereignisse, der Iran stand erneut kurz vor einem
       Krieg, sie schossen das Passagierflugzeug über Teheran ab, es folgten
       Proteste. Und Deutschland?
       
       In meiner Abwesenheit: der Anschlag in Halle, der Mord an Lübcke. Nach
       meiner Rückkehr: die Wahl in Thüringen, der rassistische Anschlag in Hanau.
       Gehen, bleiben, gehen, bleiben, bis Corona mir den Rückweg versperrte, mir
       die Entscheidung abnahm und mir viel Zeit zum Nachdenken gab. Ich verstand,
       dass ich nicht mit leeren Händen aus dem Iran zurückgekehrt war. Ich hatte
       etwas mitgebracht. Es war eine Heimat, die ich mir erschlossen hatte und
       die ich nun in mir trug.
       
       Und die deutsche Heimat? Der Mord an George Floyd hatte etwas bewegt, auf
       der ganzen Welt und auch hier. Im behäbigen Deutschland wurden Wellen
       spürbar. Mit zehntausend anderen Kanaken und Deutschen stand ich auf dem
       Römerberg in Frankfurt und rief: „Black Lives Matter!“
       
       Dieses Deutschland gehört mir! Ich war dort, wo ich hergekommen bin.
       
       21 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Yasaman Soltani
       
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