# taz.de -- „Jägerin und Sammlerin“ von Lana Lux: Was die Körper erzählen
       
       > Eine Geschichte vom Aufwachsen in der Fremde, Bulimie und einer
       > schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung. All das vereint Lux in ihrem
       > zweiten Roman.
       
 (IMG) Bild: Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, kam mit zehn Jahren nach Deutschland
       
       Wenn Alisa in den Spiegel schaut, sieht sie einen Körper, der zu zerfließen
       droht. Weich und schwammig ist der Leib, mit dem sie ringt und kämpft. Sie
       muss dünner werden, um jeden Preis. Dafür hungert Alisa. Und wenn sie es
       nicht mehr aushält, dann isst sie.
       
       Schokolade mit Cola und Chips, das ist ihr Bulimiker-Cocktail. Kaum
       verschlungen, wird sie alles wieder hervorwürgen, nur um erneut Nahrung in
       sich zu stopfen, die sie doch wieder auswürgen muss. Muss? Ja, denn Alisas
       Leben wird von Dämonen kontrolliert, sie heißen Ana und Mia. „Ana“ für
       Anorexie, „Mia“ für Bulimie.
       
       Alisas Leben ist ein ständiger Kampf gegen ihren Körper. Sie ist zu groß,
       um jemals zart und elfenhaft wie ihre Freundin Mascha sein zu können. Und
       dann ist da noch die Haut! Wirklich schlechte Haut. Alisa quetscht und
       kratzt an ihrer Haut herum, bis sich entstellende Krusten bilden, die sie
       unter viel Make-up zu verbergen sucht.
       
       Alisa, das ist die Protagonistin in „Jägerin und Sammlerin“, dem zweiten
       Roman der deutsch-ukrainischen Autorin Lana Lux. Wie in [1][ihrem
       Romandebüt „Kukolka“] wendet sich Lux einer jungen Frau zu, die in tiefe
       Abgründe stürzt. Und wie in „Kukolka“ ist es der lockere, unbefangene
       Tonfall, der die Lesenden in die Geschichte einführt, die immer düsterer
       wird.
       
       ## Nicht schön, dünn oder begabt genug
       
       Rasch kristallisiert sich heraus, dass Alisas Probleme in einer überaus
       problematischen Familienaufstellung wurzeln. Die ewig fordernde Mutter ist
       nie zufrieden. Nie ist Alisa schön genug, dünn genug, begabt genug,
       obgleich sie in der Schule sehr gute Noten bekommt und sich gut in die neue
       Heimat, Deutschland, integriert. Alisa, Tanya und Vater Gleb stammen aus
       der Ukraine, wanderten kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach
       Deutschland ein – wie die Autorin selbst.
       
       Tanya jedenfalls überträgt all ihre enttäuschten Erwartungen auf ihre
       Tochter. Sie, die mit zwanzig Mutter wurde, versuchte sich in Deutschland
       an einem Neustart. Wollte Medizin studieren, musste sich aber als
       Altenpflegerin durchschlagen, wird schließlich Kosmetikerin. Je lauter die
       eigenen Lebensträume zerplatzen, desto wichtiger wird der Erfolg der
       Tochter.
       
       Der Erwartungsdruck erhöht sich sogar noch, als man sich mit einer
       russischen Familie anfreundet, deren Tochter, Mascha, eine grazile
       Ballerina ist. Mascha ist die Tochter, die Tanya gerne hätte. Die Mädchen
       wachsen gemeinsam auf. Mascha wird Alisas Mitbewohnerin, sie befeuern sich
       gegenseitig in ihrem Magerwahn. Mascha „verdient“ sich schließlich ihre
       Magensonde.
       
       Lux findet sprechende Bilder für die Unfähigkeit Alisas, zwischen sich und
       der Welt Grenzen zu ziehen. Ihr Körper droht zu zerfließen, wenn er nicht
       ausgehungert und malträtiert wird. „Ihr Körper war wieder konturlos
       geworden. Er war angeschwollen, wurde dann zur zähflüssigen Masse, die nur
       schwer zu kontrollieren war.
       
       ## Grenzüberschreitende Mutter-Tochter-Beziehungen
       
       Sie schwappte und floss und stockte zu einer absurden Form.“ Der konturlose
       Körper ist der Ort eines konturlosen Ichs. „Sie war fett, sie war in einem
       Hamsterrad, alles, was sie wollte, war abnehmen und gefallen und ihrer
       Mutter eine Freude machen.“
       
       Doch dann wendet sich das Blatt, Alisa erhält therapeutische Hilfe. Tanya
       muss die Schmach ertragen, eine therapiebedürftige Tochter erzogen zu
       haben. In der zweiten Hälfte des Romans kommt Tanya zu Wort.
       
       Und plötzlich wird deutlich, dass auch Tanyas Geschichte mit einer
       schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung beginnt. Tanya, die den Männern
       nachjagt, weil sie sich von ihnen Bewunderung erhofft, wird zur Sammlerin,
       klaubt die Teile ihrer Geschichte wie längst vergessene Nüsschen zusammen.
       Wie das kleine Eichhörnchen, das Alisa immer wieder beobachtet.
       
       Interessant ist, dass die von der Mutter gefüllten Leerstellen eine große
       Leerstelle überlagern: die Väter, die jeder Generation von Müttern, bis hin
       zu Alisas Urgroßmutter, abhandengekommen sind. Erst ihr Fehlen eröffnet den
       Raum für grenzüberschreitende Mutter-Tochter-Beziehungen.
       
       Dieser Roman von Lana Lux tastet die Leerstellen nicht an. Sein Fokus
       bleibt die Geschichte einer gescheiterten Frau, deren Tochter endlich
       lernt, Grenzen zu ziehen.
       
       6 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Marlen Hobrack
       
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