# taz.de -- Geschichte der Schallplatte: Der Glanz von Schellack
       
       > Weltmusik, Schlager, Agitprop: Vor über 100 Jahren war Berlin noch der
       > führende Standort in der Schallplattenbranche.
       
 (IMG) Bild: Imposante Erscheinung: die Kreuzberger Plattenfabrik Carl Lindström Ende der 20er Jahre
       
       BERLIN taz | „Schallplatte“, was für ein herrliches Wort, und welch schöne
       Vorstellung: Musik, gepresst in Rillen. Man denkt an schwarzes Vinyl, das
       sich nach Jahren des Ausgemustertseins längst wieder großer Beliebtheit
       erfreut, vielleicht auch noch an Schellack. Aber die Welt der
       Schallplatten, vor allem die untergegangene, ist mindestens so bunt wie das
       Albumcover von „Sgt. Pepper’s“ der Beatles.
       
       Vor über einhundert Jahren gab es auch Schallplatten aus Metall, aus Ton,
       Schokolade und Pappe. So eine Pappeplatte mit Zelluloidtonträgerschicht
       hatte die Berliner Firma Auto-Record 1905 auf den Markt gebracht, versehen
       mit einer vollmundigen Ankündigung. In einer Anzeige in der
       Phonographischen Zeitschrift lobte sie ihr Produkt als unzerbrechlich,
       laut, tonrein, der „billigste Record der Gegenwart“ (75 Pfennig) und
       prophezeite: „Daher wird Auto Record eine Revolution in der Branche
       hervorrufen.“
       
       Diese Revolution blieb allerdings aus. Fast so schnell, wie die
       Pappeplatten verschlissen, erfolgte die Einstellung ihrer Produktion. Das
       änderte aber nichts an der Popularität des Tonträgers Schallplatte,
       erfunden 1887 von dem nach Amerika ausgewanderten Hannoveraner Emil
       Berliner. Aus der ursprünglichen Zink- hatte er die Schellackschallplatte
       entwickelt, die mit den zugehörigen Grammofongeräten alsbald zur Grundlage
       einer neuen Branche wurde: der Plattenindustrie.
       
       Schellackplatten waren der entscheidende Wegbereiter der musikalischen
       Massen-, ergo Popkultur. Der Aufschwung von Jazz und Schlager ist ohne
       dieses Medium undenkbar. Ein Blick in die Schellack-Ära, vor allem die
       frühe vor dem Siegeszug von Radio und Kino, fördert mehr zutage als
       musikhistorische Erkenntnisse: Er gewährt Einblick in das künstlerische
       Leben, aber auch in das wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche. Die
       Schallplatte als zeitgenössisches Kulturgut – nicht weniger beleuchtet das
       großartige und opulente fünfbändige, bei Bear Family erschienene
       „Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten“.
       
       Tatsächlich dokumentiert es nahezu vollständig die deutsche
       Schallplattenherstellung in der Schellack-Ära, die immerhin von 1880 bis
       etwa 1960 reichte. „Es ist alles dabei, was in der Zeit an Tonträgern
       hergestellt wurde, mit Ausnahme von Phonographenwalzen“, sagt Herausgeber
       Rainer E. Lotz. Das heißt, es werden zusätzlich zu den regulären
       kommerziellen Schellackplatten im engeren Sinne auch alle weiteren
       Plattentonträger erfasst, darunter Tonpostkarten, Bild-, Reklame- bis hin
       zu den Sprechpuppenplatten.
       
       Diese Sammlung ist umso beeindruckender, wenn man weiß, dass Deutschland
       vor und auch wieder einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als international
       führender Hersteller und Exporteur von Schallplatten galt. 1906 kamen zwei
       Drittel der weltweiten Umsätze von der deutschen Sprechmaschinen- und
       Schallplattenindustrie mit ihren Zentren Hannover, Leipzig und vor allem
       Berlin.
       
       Das lag nicht zuletzt daran, dass hier nicht nur heimische Musik
       veröffentlicht wurde, sondern Klänge aus fast der ganzen Welt. Die
       Musikproduzenten rüsteten regelmäßig Expeditionen in entlegenste Regionen
       der Erde aus, um dort Aufnahmen anzufertigen, die sie dann in Deutschland
       auf Schellack pressten, um sie unter anderem wieder nach China, Russland
       oder Hongkong zu exportieren.
       
       So war Heinrich Bumb, Mitbegründer der weltweit agierenden Berliner Firma
       Beka, 1905 höchstselbst mit einem Aufnahmeingenieur zu einer achtmonatigen
       Reise nach Asien aufgebrochen, um mehr als 1.500 Titel aufzunehmen. Dieses
       durchaus abenteuerbehaftete Geschäftsmodell war bis in die 1920er Jahre
       üblich. Der Berliner Musikunternehmer Michael Baida, ein Libanese, kam
       damit zu besonderem Erfolg. Weil er die besten arabischen Sänger und
       Instrumentalisten des ganzen Orients von deutschen Technikern aufnehmen
       ließ und auf Platten presste, beherrschte seine Berliner Firma Baidaphon
       damals den Markt in der kompletten arabischen Welt und Diaspora.
       
       Als Unterhaltungsmedium der Moderne war die Schallplatte eine Weile sogar
       unangefochten, da sich Rundfunk und Tonfilmkino erst in den 1920er Jahren
       zu Massenmedien entwickelten – unterstützt von der Schallplatte, die sich
       zum Festhalten von Tönen jeglicher Art anbot. Als Audioformat für Opern,
       Tanzmusik, Kinderlieder, Humor, Kleinkunst, Reklame, für Filmmusik,
       Politikeransprachen und Propaganda.
       
       Der Rote Frontkämpferbund, zuständig für die kommunistische
       Massenpropaganda, führte nach seinem Verbot 1929 sein Schallplattengeschäft
       als „Versandhaus Arbeiter-Kult“ fort. Bis Ende 1930 vertrieb die
       Proletarische Schallplattenzentrale in der Linienstraße, dank einer
       Schweizer Mäzenatin, Agitprop. Auch die Nazis hatten ihre Plattenfirma. Der
       Nationale Schallplatten-Dienst veröffentlichte von 1931 bis 1933 NS-Lieder
       und Ansprachen von Parteiführern auf Bild- und Tonplatten und beförderte
       den Aufstieg der Nazis, der vor allem für jüdische Firmen gravierende
       Folgen hatte.
       
       „Nach Hitlers Machtübernahme konnten nur die kleinen Firmen Semer und
       Lukraphon unter Aufsicht der Gestapo weiterexistieren“, sagt
       Lexikon-Herausgeber Lotz. „Bis zu den Olympischen Spielen 1936 waren sie
       noch relativ frei im Programm, dann wurde ihnen untersagt, Musik von
       arischen Komponisten aufzunehmen. Nach der sogenannten Reichskristallnacht
       1938 waren Produktion und Verkauf von Schallplatten endgültig verboten.“
       Semer-Chef Hirsch Lewin kam für fünf Monate ins KZ, ehe er nach Österreich
       abgeschoben wurde. Als Holocaustüberlebender hat er 1946 in Palästina neue
       Labels gegründet, auf denen er auch Aufnahmen veröffentlichte, die er
       ursprünglich für die Semer in Berlin gemacht hatte.
       
       Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Berlin seinen Status als Zentrum der
       deutschen Plattenindustrie. Firmen wie Tempo oder Telefunken wanderten nach
       Westdeutschland ab. Ostberlin wurde Sitz der volkseigenen
       DDR-Schallplattenindustrie mit den Hauptlabels Amiga (Unterhaltungsmusik)
       und Eterna (Klassik und Arbeiterlieder), die der Arbeitersänger Ernst Busch
       mit Genehmigung des sowjetischen Militärkommandanten 1947 gegründet hatte.
       
       Den Ruhm ganz besonderer Schallplattenveröffentlichungen teilen sich das
       einstige Ost- und Westberlin jedoch. Die letzte für den (ost)deutschen
       Markt hergestellte Schellackplatte lieferte 1961 Amiga: „Das Lied vom alten
       Plattenschrank“ von Monika und Ruth und dem Columbia-Quartett. Danach wurde
       die Platten in Vinyl gepresst. Womit die Geschichte für das Lexikon aber
       noch nicht ganz zu Ende ist, da in Ost- und Westdeutschland seit 1955 bis
       in die 1990er Jahre Sprechpuppen, Lachsäcke und Kindergrammofone
       hergestellt wurden, die winzige Kunststoffschallplatten von 5 bis 8
       Zentimetern Durchmessern verwendeten. Da schloss sich insofern ein Kreis,
       als es erste Versuche mit Sprechpuppen und Schellackplatten bereits Ende
       des 19. Jahrhunderts im thüringischen Waltershausen gegeben hatte.
       
       Technologisch war es also eine Reminiszenz an die Anfangszeit der
       Schallplattenindustrie, als die avantgardistische Berliner Band Die
       Tödliche Doris 1984 die Box „Chöre & Soli“ mit acht solcher
       Miniphon-Schallplatten samt batteriebetriebenem Abspielgerät herausgab.
       Eine Skurrilität made in Westberlin, als Format einzigartig und deshalb
       heute eine begehrte Rarität, die gleichfalls im „Bilderlexikon der
       deutschen Schellack-Schallplatten“ dokumentiert ist. Ein weiteres Zeugnis
       des Status der Schallplatte als sowohl künstlerisches wie technologisches
       Kulturgut.
       
       16 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gunnar Leue
       
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