# taz.de -- Neuer Roman von Cemile Sahin: Bomben im Boden
       
       > „Alle Hunde sterben“ von Cemile Sahin ist drastisch und sprachlich stark.
       > Der Roman verhandelt die Grausamkeit der türkischen Sicherheitskräfte.
       
 (IMG) Bild: Gewalt gibts umsonst in diesem Land: Cemile Sahin ist in ihrem zweiten Roman sehr politisch
       
       Einen „Hund“ schimpft man in „diesem Land“ jemanden, der ganz unten ist,
       ungefähr auf einer Stufe mit Abfall. In „diesem Land“, von dem die Autorin
       Cemile Sahin immer nur schreibt, ohne es zu benennen, geht es im Gefängnis
       grausam zu: „Wir hängen euch auf wie Hunde“, sagen die Wärter zu der Figur
       Metin, als er inhaftiert ist.
       
       Und „Hunde“, das weiß er, „sind nichts wert in diesem Land, jetzt sind wir
       ihre Kettenhunde. Im Gefängnis vergessen die Wärter, dass sie Menschen
       sind, und sie vergessen, dass die Gefangenen Menschen sind.“
       
       „Dieses Land“ also behandelt seine Feinde wie Hunde. Insofern ist es
       folgerichtig, dass Cemile Sahins neuer Roman den Titel „Alle Hunde sterben“
       trägt. Auch wenn die Türkei nur einmal im Vorspann genannt wird, wo ein
       Hochhaus im Westen der autoritären Republik als Handlungsort eingeführt
       wird, ist klar, dass die Geschehnisse sich auf den kurdisch-türkischen
       Konflikt beziehen, dass Sahin von der Gewalt gegenüber Kurden und
       kurdischen Kämpfern erzählt. Auf 239 Seiten schildert sie sie präzise,
       teils minutiös.
       
       Erzählt wird die Handlung in neun Episoden, aus neun verschiedenen
       Perspektiven. Die Figuren Necla, Murat, Nurten, Birgül, Sara, Umut, Haydar,
       Metin und Devrim berichten gegenüber einem Erzähler (der lediglich als
       Erzählinstanz existiert) vom Sadismus des Militärs, der Polizei und der
       Gefängniswärter, von Ereignissen aus den Kriegs- und Konfliktjahren. Alle
       bis auf Devrim leben in jenem Hochhaus, das ihr Exil ist.
       
       Die Figuren sind zum Teil verwandt miteinander oder leben gemeinsam in
       einer Wohnung. Die Szenen sind drastisch: Necla wird in eine Hundehütte
       gequetscht und gezwungen, in eine tote Ratte zu beißen. Murat gräbt die
       Leiche seiner Mutter aus und bewahrt sie in einer Plastiktüte im Schrank
       auf. Umut zündet vor seiner Flucht sein eigenes Haus an („Lieber bringe ich
       es mit eigenen Händen zu Ende. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass
       Soldaten mein Haus zerstören und danach anzünden“).
       
       ## Auch im Exil noch voller Angst
       
       Interessant ist, was Sahin bewusst auslässt: Nicht nur die Türkei als Land
       wird (fast) gänzlich ausgespart, es werden ohnehin Kontexte weggelassen.
       Alles fokussiert sich auf die konkreten Erinnerungen der Figuren, die vom
       türkischen Apparat unterschiedslos als „Terroristen“ gejagt werden.
       
       Menschen werden bespitzelt, abgehört, verraten. Menschen werden erniedrigt,
       drangsaliert, terrorisiert. Menschen werden geschlagen, getreten,
       gefoltert. Menschen verschwinden. Menschen fliehen, um nicht zu Hunden
       degradiert zu werden. Und sind auch im Exil noch voller Angst, dass es an
       der Tür klopfen könnte.
       
       Cemile Sahin hat 2019 mit ihrem [1][Debütroman „Taxi“] (Korbinian Verlag)
       bereits für Aufsehen gesorgt, „Alle Hunde sterben“ ist ihre erste
       Veröffentlichung bei einem großen Verlag (Aufbau). Die Autorin, Jahrgang
       1990, stammt aus einer kurdischen Familie. Sie ist in Wiesbaden geboren,
       verbrachte aber die frühe Kindheit in Dersim (so der kurdische Name des
       Gebiets) im Osten der Türkei. Im Alter von vier Jahren ging sie mit ihrer
       Familie von dort wieder nach Wiesbaden. Nach der Schule hat Sahin in London
       und Berlin studiert, wo sie heute als Autorin und bildende Künstlerin lebt.
       taz-Leser*innen können sie [2][als Kolumnistin kennen], mit Ronya Othmann
       (von der auch gerade ein Roman erschienen ist, [3][„Die Sommer“)] hat sie
       die Kolumne „Orient Express“ geschrieben.
       
       ## Schnelle, rasante, klinische Sprache
       
       Schon in „Taxi“ hat sich Sahin formal an der Struktur von Serien
       orientiert, auch nun lehnt sie sich an diese Technik an. Während „Taxi“
       aber eine Groteske war, arbeitet Sahin diesmal nicht mit Komik. Die
       schnelle, rasante, manchmal gewollt klinische Sprache dient hier voll und
       ganz der deskriptiven Darstellung – wobei die starken Stellen auch gerade
       jene sind, in denen die Figuren es nicht mehr schaffen (wollen), Worte für
       die Ereignisse zu finden.
       
       Als Haydar etwa seinen im Sterben liegenden Sohn, der auf der Straße von
       einem Polizisten beschossen wurde, im Krankenhaus besucht, sagt er: „Mein
       Sohn war aufgegangen wie ein Ballon. Der Bauch, das Gesicht, die Arme. […]
       Ich möchte das nicht beschreiben. Das kann ich nicht. Bitte zwingen Sie
       mich nicht.“
       
       Wie die Figuren alle miteinander verwoben sind, das ist, wie auch der
       starke Plot, gut gemacht. Auch die zusätzlichen Ebenen und Sprechweisen tun
       dem Roman gut: In der zweiten Episode („Murat“) verhandelt Sahin auf einer
       Metaebene, wie Wirklichkeit in Bild und Wort konstruiert wird.
       
       ## Gewalt ist Nationalsport für alle
       
       In der fünften Episode („Sara“) flicht sie eine extrem von den anderen
       abweichende Stimme ein. Sara, bei der man irgendwie das Bild einer
       YPG-/YPJ-Kämpferin vor Augen hat, spricht in Versen. Typografisch verstärkt
       wird dies durch Versalien: „GEWALT IST NATIONALSPORT IST FÜR ALLE/ DAS
       GIBTS UMSONST IN DIESEM LAND“.
       
       Dass eines der Leitmotive, der Hundevergleich, in Teilen plakativ
       eingesetzt wird, ist schon das Einzige, was einen stören kann. Denn „Alle
       Hunde sterben“ ist raffiniert gebaut, klug konzipiert, sprachlich
       größtenteils stark. Sahin gelingt es Traumata darzustellen, indem sie mit
       Wiederholungen arbeitet, indem sie ausschließlich bei dem bleibt, was den
       Figuren tatsächlich und vor Ort widerfahren ist.
       
       Gegen Ende heißt es: „Und die Bomben, die sie legen, fliegen aus der Luft
       in unsere Häuser. Eine Bombe, die nicht in die Luft geht, kann entschärft
       werden. Aber auch eine entschärfte Bombe war einmal eine Bombe.“ Wie viel
       Unaufgearbeitetes noch auf türkischem Boden lagert, das erfährt man in
       diesem Roman.
       
       5 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
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