# taz.de -- Südliche Friedrichstadt und Mehringplatz: Das vergessene Quartier
       
       > Der Mehringplatz ist das ärmste Viertel in Berlins Mitte. Autorin Manja
       > Präkels schaut dort seit Jahren dem städtischen Gefüge beim Zerbrechen
       > zu.
       
 (IMG) Bild: Welt mit Widerhall: Die Nachbarfschaft bildet die kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte ab
       
       BERLIN taz | Wir leben in einer Schlucht. Das Heulen des Windes, wenn er
       zwischen den Hochhäusern hindurchfegt, wird begleitet von Verwirbelungen.
       Ich habe einen Luftballon im Zickzackkurs bis hoch in die 17. Etage fliegen
       sehen. Oder war es eine Plastiktüte? Der Mond ist heller dort oben. Wenn
       unten, vorm Edeka, ein Hund bellt, klingt es, als säße er uns zu Füßen.
       
       Am erwachenden Morgen rauschen die Straßen ringsum wie das Meer.
       Kehrfahrzeuge schieben Laub und Müll vor sich her. Es ist besser, die
       Fenster zu schließen. Sonst kann es vorkommen, dass ein Stück von letzter
       Nacht hereinfliegt. Eine Kippe vielleicht. Oder ein Kondom.
       
       Vor vielen Jahren, ich war gerade erst in der Stadt angekommen, fuhr ich
       täglich von Pankow nach Dahlem und zurück. Dass die U1 ab Warschauer Straße
       als Hochbahn durch Kreuzberg führt, verkürzte den langen Weg erheblich.
       Ich, die an leere Landschaften gewöhnte Exilbrandenburgerin, schaute und
       staunte.
       
       Am Halleschen Tor blieb mein Blick stets am Rondell kleben, dem
       Mehringplatz-Ensemble mit seinen geschwungenen Balkonen, unter denen die
       Leute durchliefen. Dahinter Hochhäuser, wie sie auch am Springpfuhl in den
       Himmel ragen, Wohnkomplexe, in die ganze Kleinstädte passen. Irgendwo stand
       immer einer und pisste in die Büsche. Ich fragte mich, wie es wohl wäre,
       dort zu wohnen. In der ruppigen Mitte der Stadt.
       
       ## Fliegende Joints und stabile Markisen
       
       Dann zog ich tatsächlich hierher. Mein zweites Hochhaus nach missglücktem
       Frühversuch in Marzahn. Kein Kohlenschleppen mehr wie in Pankow, vorbei die
       Zeit des improvisierten Duschens in der Küche, stattdessen: ein Balkon.
       
       Manchmal wirft einer von ganz oben einen Joint achtlos runter, manchmal
       schmeißen die Kinder Spielsachen über die Brüstung. Unter uns, auf dem
       Vorbau, liegen dann Lichtschwerter oder Bälle. Selbst Spielkonsolen wurden
       schon gesichtet, Kochtöpfe und zerschlagenes Geschirr.
       
       Die Markise schützt vor herabfallenden Bierflaschen. Ich habe mich daran
       gewöhnt. Der Stoff kann was ab. So wie die Leute, die hier wohnen. Beim
       Flanieren im Rondell: verächtliche Blicke, misstrauische. Auch stolze: Wir
       sind nicht wie ihr. Im Fahrstuhl das Westberliner Rentnerpaar: „Endlich
       sieht man mal eine Deutsche.“ Mir fällt vor Schreck keine Entgegnung ein.
       
       ## Jungs machen vor dem Edeka auf Macker
       
       Als ein Freund aus Krakau zu Besuch kommt, ist er sich nicht sicher, ob er
       die Kippa besser abnehmen sollte. Am Vorabend war er beim Spaziergang durch
       Neukölln übel bedroht worden. Ich erzähle ihm von den Jungs, die vor dem
       Supermarkt auf Macker machen und die Häuserschlucht allabendlich als Bühne
       nutzen. Ein paar von denen grüßen mich, aber nur, wenn sie allein sind.
       
       Auch unser schwuler Nachbar hatte anfangs Angst. „Aber alles in allem liebe
       ich es, hier zu wohnen.“ In einer Nachbarschaft, deren Mischung die
       weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten
       Jahrzehnte abbildet. Jüdische Rentner aus der ehemaligen Sowjetunion Tür an
       Tür mit Palästinensern, Roma, vor dem Krieg in Jugoslawien geflohenen
       Serben und Bosniern.
       
       „Wir Türken waren zuerst hier“, erklärt mir ein Hundebesitzer, während sich
       unsere Tiere über den Platz jagen. Ein anderer, geboren in Moskau, schimpft
       auf „die Araber“, die im Sommer alle Parks verstopfen würden. Eine Shisha
       rauchende Omi lächelt uns dabei von ihrer Parkbank zu. Das Kopftuch betont
       ihre hellen Augen.
       
       Mein allererstes Gespräch mit einer Nachbarin führte ich am Hauseingang, wo
       damals noch ein Bild der zerbombten Südlichen Friedrichstadt hing. Wir
       versuchten, uns zwischen den Trümmern zu orientieren: „Das muss der
       Mehringplatz sein!“ Sie lachte und sagte: „Wie Bagdad.“
       
       Und heute? Der Mehringplatz eine ewige Baustelle. Verwüstet. Verelendet.
       Das infernalische Gebrüll der Trinker und haltlosen Jugendlichen begleitet
       unser aller Nächte wie Eiszapfen in den Ohren.
       
       ## Investoren, Pläne, Abriss
       
       Dagegen die neu entstandenen Lebenswelten gleich nebenan. Wo vor den
       Neubauten junge Eichen und hübsche Beete gepflanzt werden. „Kein Hundeklo“
       steht auf einem Schild. Für Hunde unlesbar. Die neu eröffneten Cafés und
       Geschäfte gegenüber dem Jüdischen Museum sind für meine Nachbarn so
       unsichtbar wie sie für deren Kunden.
       
       Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der
       U6 unter den Füßen. Seit aus dem kleinen Kaiser’s Edeka geworden ist, gibt
       es am Fleischstand kein doppelt gewolftes Rindfleisch für Lahmacun mehr,
       dafür Schweinefüße.
       
       Abends spendet der Markt Trost und Licht für alle, die nicht nach Hause
       wollen. Oder können. Im nächsten Jahr ist Schluss damit. Investoren, Pläne,
       Abriss. Das bestürzt, doch wundert sich längst niemand mehr. Seit wir
       eingezogen sind, macht Laden für Laden dicht. Erst der mit den günstigen
       Kleidern, dann die Raucherkneipe, das einzige Restaurant. Die Zerstörung
       solcher kleiner Welten geht schnell. Ihr Aufbau dauert Jahre. Aber Anfänge
       gibt es immer.
       
       Ein Nachbarjunge ruft den Namen meines Hundes in die Schlucht hinein. Beide
       rennen aufeinander zu. Wir lachen. Mit Echo.
       
       Einen Schwerpunkt darüber, was alles schief läuft im Kiez um den
       Mehringplatz, lesen Sie im Berlin-Teil der taz am Wochenende, erhältlich im
       Zeitschriftenhandel und im [1][eKiosk] – es geht um die andauernde
       achtjährige Sanierung der örtlichen Grundschule, fehlende Freiräumen für
       Jugendliche, ebenso zeigen neue Nachbarfschaftsprojekte im
       Gemeinschaftsgarten Perspektiven auf.
       
       9 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Unser-eKiosk/!114771/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manja Präkels
       
       ## TAGS
       
 (DIR) soziale Ungleichheit
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
 (DIR) Friedrichshain-Kreuzberg
 (DIR) Schwerpunkt Ostdeutschland
 (DIR) Berlin-Kreuzberg
 (DIR) Berlin-Kreuzberg
 (DIR) Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
 (DIR) Kreuzberg
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Urban Gardening
 (DIR) Schwerpunkt Utopie nach Corona
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Urbane Gestaltung in Kreuzberg: Stein her, Stein hin
       
       Am Mehringplatz wurde vor Kurzem in einer Guerilla-Aktion eine Granitstufe
       verlegt, um die dysfunktionale Planung zu flicken. Nun ist sie wieder weg.
       
 (DIR) Autorin Manja Präkels: „Den Schmerz spüre ich bis heute“
       
       Die ostdeutschen „Baseballschlägerjahre“ in der Provinz hat die
       Schriftstellerin selbst erlebt. Ein Gespräch über die Scham von Tätern und
       Opfern.
       
 (DIR) Zusammenleben in Berlin: Treffpunkt mit Theater
       
       Mit einem Festival will das Theater HAU nachbarschaftliche Beziehungen am
       Mehringplatz stärken. Dort stehen noch immer Bauzäune.
       
 (DIR) Eröffnung Literaturbühne am Mehringplatz: Von unruhigen Seelen
       
       Mit Gedichten, die von Ausgrenzung und Einsamkeit erzählen, hat die
       Literaturbühne „Das literarische Rondell“ am Mehringplatz eröffnet.
       
 (DIR) Mehringplatz und „Pfad der Visionäre“: Andere Probleme als schicke Platten
       
       In einem der ärmsten Kieze Berlins wird der Abschluss jahrelanger
       Bauarbeiten gefeiert. Den Leuten hier nütze das wenig, sagen die Menschen
       vor Ort.
       
 (DIR) taz-Serie „Was macht eigentlich..?“ (2): Ein Haufen Probleme
       
       Eigentlich sollte der Mehringplatz bereits Ende 2020 grundsaniert sein. Ein
       Jahr später wird noch immer gebaut. Auch der Jugendclub ist gefährdet.
       
 (DIR) Berlins verarmte Kieze: Die Zukunft ist eine Baustelle
       
       Der Mehringplatz ist einer der ärmsten Kieze Berlins, besonders die Jugend
       hat hier wenig Perspektive. Viele fühlen sich von der Politik vergessen.
       
 (DIR) Gemeinschaftsgärtner über Mehringplatz: „Wir sind wichtig für Zusammenhalt“
       
       In der Südlichen Friedrichstadt ist eine Freifläche für Projekte und Urban
       Gardening entstanden. Zwei Gärtner über Zukunft und Gegenwart des Viertels.
       
 (DIR) Corona am Mehringplatz in Berlin: Schlumpfeiszeit ade
       
       Trotz Corona und prekärer Verhältnisse leben am Mehringplatz Nachbarinnen
       und Nachbarn respektvoll Tür an Tür. Doch Wut keimt auf.