# taz.de -- Rechtsextremismus in Ostdeutschland: Die Jungen radikalisieren sich
       
       > Der Rechtsextremismus im Osten wächst, vor allem ist es die jüngere
       > Generation, die sich laut einer Studie radikalisiert. Das hat viele
       > Gründe.
       
 (IMG) Bild: Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016 kam die AfD bei Wählern unter 30 auf 29 Prozent
       
       Es gibt Dinge, die man lieber nicht hören möchte. Wahrheiten, von denen man
       sich wünschte, sie wären nur Klischees. Die Ergebnisse [1][der jüngst
       veröffentlichten Autoritarismus-Studie] sind so eine Wahrheit, die ein
       mittlerweile verpöntes Klischee zu bestätigen scheinen. Der Osten ist
       rechter als der Westen.
       
       Wobei es nun vor allem die Jungen sind, die sich zunehmend radikalisieren,
       die 14- bis 30-Jährigen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden.
       Diejenigen, auf denen die Hoffnung lag, dass sie nicht mehr von den
       autoritären Strukturen der Diktatur und den Härten der Transformation
       geprägt wären.
       
       Sie, so hatte man lange geglaubt, würden im vereinten Deutschland
       aufwachsen, in einem Europa mit offenen Grenzen und all das wäre ihnen
       selbstverständlich. So selbstverständlich, dass sie sich auch in ihrer
       Weltanschauung kaum von ihren Altersgenossen im Westen unterscheiden
       würden. Diese Annahme stellt sich nun als gefährlicher Irrtum heraus. Die
       Zahlen der Untersuchung markieren die politischen Unterschiede im Land, um
       die es kein Herumreden mehr geben kann.
       
       Als die Sozialpsychologen Oliver Decker und Elmar Brähler Mitte November
       die Ergebnisse der zehnten Leipziger Autoritarismus-Studie vorstellen,
       herrscht zunächst Erleichterung. Die rechtsextremen Einstellungen im Land
       sind insgesamt rückläufig, die Zustimmung zur Demokratie ist groß. Das
       belegen die Befragungen der Langzeitstudie, die seit 2002 (bis 2016
       Mitte-Studien genannt) alle zwei Jahre durchgeführt werden.
       
       So nimmt der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen
       Weltbild unter den gut 2.500 Befragten kontinuierlich ab. Während 2002 noch
       fast jeder Zehnte ein solches Weltbild vertrat, hat sich der Anteil 2020
       auf 4,3 Prozent mehr als halbiert. Auch die Ausländerfeindlichkeit ist
       stark zurückgegangen. 2002 hatte mehr als jeder Vierte der Befragten eine
       manifeste ausländerfeindliche Einstellung. Dieses Jahr sind es noch 16,5
       Prozent, ein Rückgang von 10 Prozentpunkten.
       
       Ein genauer Blick in die Zahlen zeigt jedoch, dass die Ergebnisse der
       Forscher von der Universität Leipzig keinesfalls beruhigen können. Die
       Werte von Ost- und Westdeutschland liegen oft so weit auseinander, dass
       sich die Frage stellt, ob es überhaupt Sinn ergibt, diese in einem Graphen
       zusammenzufassen. Während in Westen mit 1,8 Prozent der Befragten nur eine
       verschwindend geringe Minderheit eine rechtsautoritäre Diktatur
       befürwortet, sind es im Osten 8,8 Prozent (gesamt: 3,2 Prozent). Und es ist
       nicht so, dass sich dieser Unterschied in den anderen Teilen der Befragung
       relativieren würde.
       
       ## Alarmsignal für Ost und West
       
       Tatsächlich sind die Antworten der Studienteilnehmer in Ostdeutschland
       durchgängig rechter und demokratiefeindlicher als im Westen. So stimmen in
       Ostdeutschland 43,9 Prozent der Teilnehmer der Aussage „Die Ausländer
       kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ vollständig zu,
       während es im Westen 24,5 Prozent sind. Und 29 Prozent der Befragten im
       Osten glauben, Deutschland „brauche eine einzige starke Partei, die die
       Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Im Westen ist die Zustimmung hier
       mit 14 Prozent zwar auch erschreckend hoch, erreicht aber nicht einmal die
       Hälfte des Werts aus dem Osten.
       
       Ergänzt man die Zahl im Osten um diejenigen, die der Aussage latent
       zustimmen, kommt man auf einen Zustimmungswert von 51,6 Prozent der
       Befragten (West: 34,9 Prozent). Gut jeder Zweite im Osten also wäre
       grundsätzlich bereit, eine solche autoritäre Einheitspartei zu wählen.
       Diese Zahlen müssen ein Alarmsignal in Ost wie West sein. Zeigen sie doch
       in beiden Teilen das Potenzial, auf das sich die aktuelle und gut
       organisierte rechte Bewegung stützt.
       
       Die Annahme der letzten Jahre, dass sich das rechte Problem irgendwann auf
       natürlichem Weg auswachsen würde, gilt insbesondere für den Osten nicht.
       15,6 Prozent der Befragten zwischen 14 und 30 Jahren, also mehr als jeder
       sechste junge Ostdeutsche, sehnt sich nach einer rechtsautoritären Diktatur
       (West: 2,2 Prozent). Diese Menschen bilden das Fundament für die Zukunft
       der AfD.
       
       Das zeigt auch ein Blick in die Wahlanalysen der letzten Jahre. So wurde
       die AfD 2016 bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt nur deshalb
       Zweite, weil die jüngeren Wähler im „Land der Frühaufsteher“ aufgrund von
       demografischem Wandel und Abwanderung deutlich in der Minderheit sind. Bei
       den Wählern unter 30 kam die AfD auf satte 29 Prozent, weit vor der CDU mit
       18 Prozent. Ähnlich sah es bei den Landtagswahlen im letzten Jahr in
       Thüringen, Sachsen und Brandenburg aus.
       
       ## „Generation Mauer“ wählt AfD
       
       Auch die Eltern der Erst- und Zweitwähler, [2][die Vertreter der
       sogenannten „Generation Mauer“], wählen mehrheitlich AfD. Angesichts der
       Möglichkeiten, die diesen Generationen durch den Fall der Mauer
       offenstanden, ein erschreckender Befund. Die Verfasser der Studie
       bescheinigen dem Osten folglich „dringenden Handlungsbedarf in der
       politischen Bildungsarbeit im Jungend- und Erwachsenenalter“.
       
       Die These der Wissenschaftler, dass dies bei den Jüngeren auf Grund der
       Geburt nach dem Ende der DDR kein Erbe der SED-Diktatur mehr sein könne,
       ist jedoch fraglich. Die Transformationsgeschichte mit all ihren sozialen
       und ökonomischen Härten hat die politische Landschaft des Ostens geprägt,
       in der die Nachwendegenerationen aufgewachsen sind. Doch speist sich die
       Skepsis gegenüber der bundesrepublikanischen Demokratie auch aus den
       Diktaturerfahrungen der Elterngenerationen.
       
       Die Nachwendekinder wurden größtenteils von Erwachsenen erzogen, die sich
       vor 1989 mit dem System arrangiert und dieses gestützt hatten. War es bis
       1989 noch Aufgabe der Lehrer, die Kinder zu sozialistischen
       Persönlichkeiten zu erziehen, sollten sie nach der Wiedervereinigung die
       Werte des vormaligen Klassenfeinds unterrichten. In dieser Schizophrenie
       eine glaubwürdige Stabilität zu vermitteln, war ein Akt der Unmöglichkeit.
       
       Dazu kommt das große Schweigen, [3][das Johannes Nichelmann in seinem Buch
       „Nachwendekinder“ beschrieben hat] – über die Verbrechen der Diktatur, das
       bloß anekdotenhafte Erzählen scheinbar unpolitischer Alltagsgeschichten bis
       hin zur Ostalgie, in welcher der Unrechtsstaat nachträglich zum Hort
       sozialer Wärme und Sicherheit wird. Laut Nichelmann fühlen sich auch die
       Nachwendekinder deshalb der DDR solidarisch zugehörig.
       
       ## Wagenburgmentalität im Osten
       
       Gerade wenn es darum geht, die offensichtlichen Probleme mit
       Rechtsradikalismus und antidemokratischen Tendenzen des Ostens zu benennen,
       flüchten sie sich nicht selten in eine Wagenburgmentalität, welche die
       Erzählungen der Eltern nicht kritisch hinterfragt, sondern sie bestätigt
       und reproduziert. Infrage gestellt werden viel mehr die Demokratie und ihre
       Institutionen, in denen immer irgendetwas nicht zu funktionieren scheint.
       Diese Mentalität konnte nicht, wie erhofft, durch ökonomischen Erfolg und
       die zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse gebrochen werden.
       
       Was bedeutet dies für das Superwahljahr 2021? Auch wenn die AfD in Umfragen
       im Vergleich zu den letzten Wahlergebnissen im Moment verliert, wurde auf
       ihrem Bundesparteitag in Kalkar der Machtanspruch des
       „sozial-nationalistischen“ Flügels einmal mehr sichtbar. Bestärkt wird das
       durch einen Trend, der sich schon bei den letzten Europawahlen abzeichnete.
       
       Höckes extremistischer Flügel hat die wirtschaftsliberalen AfD-Wähler der
       Lucke-Ära auf Abstand gehen lassen, sodass die Partei in den westdeutschen
       Länderparlamenten voraussichtlich um den Sprung über die Fünfprozenthürde
       kämpfen muss. Im Osten hingegen hat gerade die nationalistische
       Ausrichtung der AfD für kontinuierlichen Wählerzuwachs gesorgt. Hier wird
       die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremen Spitzenleute
       gewählt.
       
       [4][Die Politik hat dieses Problem offenbar endlich erkannt] und
       beschlossen, in den nächsten Jahren mehr Geld in den Kampf gegen
       Extremismus und Rassismus zu stecken. Die Frage bleibt, ob das ausreichend
       sein wird, wenn rechtsextreme Einstellungen von Generation zu Generation
       weitergegeben werden und so auch besonders bei den jungen Wählern im Osten
       fest verankert sind. Wenn also das Bild einer diktatorischen, rechten
       Gesellschaft kein Schrecken, sondern viel mehr ein Sehnsuchtsraum ist.
       
       9 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/studie-rechtsextremismus-auslaenderfeindlichkeit-leipzig-autoritarismus-bevoelkerung
 (DIR) [2] /Umkaempfte-Zone-von-Ines-Geipel/!5583141
 (DIR) [3] /DDR-Aufarbeitung-in-Familien/!5635412
 (DIR) [4] /Stiftung-zu-Massnahmen-gegen-rechts/!5727524
       
       ## AUTOREN
       
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