# taz.de -- Die Wahrheit: Weihnachtswürfeln
       
       > Am zweiten Feiertag in einer Bahnhofsspelunke zu versacken, ist nicht
       > außergewöhnlich. Aber das Reglement des Gesellschaftsspiels dort schon.
       
 (IMG) Bild: Schöner Wohnen in Berlin
       
       Einmal musste mich ein Freund am frühen Morgen des zweiten
       Weihnachtsfeiertags aus einer rustikal-urigen Bahnhofsspelunke im Nirgendwo
       abholen. Dort war ich einige Stunden festgesessen, weil mein Regionalzug
       aufgegeben hatte, doch immerhin war es möglich gewesen, mir die Zeit mit
       ein paar Männern zu vertreiben, die die Sechspersonenversion von „Mensch
       ärgere dich nicht“ spielten. Man hatte hier allerdings ganz eigene Regeln.
       
       Jeder Spieler musste zunächst einen 5-Euro-Schein in die Mitte legen.
       Immer, wenn ein Spieler eine Figur ins Trockene gebracht hatte, durfte er
       sich alle Scheine nehmen. Die anderen mussten dann jeweils einen weiteren
       Schein nachlegen.
       
       Das Kuriose aber war die Würfelverteilung: Es gab zwei Spieler am Tisch,
       die jeweils mit einem handelsüblichen Würfel agierten, der also die Zahlen
       eins bis sechs möglich machte. Drei weitere Spieler, darunter auch ich,
       bekamen lediglich Würfel, die zwar auch sechs Seiten hatten, aber nur mit
       den Zahlen eins bis vier versehen waren. Und eine ganz arme Sau erhielt
       einen, der lediglich Einsen und Zweien auf seinen Flächen hatte. Die
       übliche Regel, der zufolge die Figuren erst starten durften, sobald der
       Spieler eine Sechs würfelt, befolgte man indes auch hier.
       
       Zu Beginn dachte ich, etwas nicht verstanden zu haben, und spielte erst
       einmal mit, galt es doch, sich hier in der Fremde nicht gleich unbeliebt zu
       machen. Nachdem aber einer der beiden Herren mit den Sechserwürfeln, wie
       erwartet, seine erste Figur nach Hause gebracht und die Scheine an sich
       genommen hatte, schlug ich vor, dass doch alle mit einem der normalen
       Würfel würfeln könnten.
       
       „Wir spielen hier schon immer so“, sagte zu meiner Überraschung ein
       Gegenspieler, der wie ich bestenfalls eine Vier werfen konnte. Als ich
       anbot, die Würfel mit einem Filzstift so zu verändern, dass jeder die
       gleichen Chancen hatte, verwies man mich darauf, dass das Zinken von
       Würfeln laut Regelwerk ausdrücklich verboten sei.
       
       Unterdessen wurde der andere Kollege mit dem Viererwürfel zusehends
       wütender: Mit jedem weiteren Versuch war er immer stärker davon überzeugt,
       die Schuld an seinem Versagen habe der Nachbar mit dem Zweierwürfel. Der
       Beschuldigte selbst sagte nichts, vielleicht verstand er uns auch nicht –
       er schien froh, überhaupt mit am Tisch sitzen zu dürfen.
       
       Als ich meine Mitspieler nach langer Diskussion zu einer Abstimmung über
       eine Regeländerung bewegen konnte, schoben die beiden Sechserwürfler den
       beiden Viererwürflern unterm Tisch 20 Euro zu, die sie in den
       anschließenden Runden natürlich wieder verlieren würden. Die Abstimmung
       endete dennoch vier zu eins gegen mich. Der Mann mit dem Zweierwürfel hatte
       sich enthalten.
       
       „Das hast du im Suff geträumt! So blöd ist doch kein Mensch!“, gluckste
       mein Freund im Auto, nachdem ich davon berichtet hatte, und klatschte vor
       Amüsement in die Hände. „Wieso“, fragte ich, „wählst du nicht mehr CDU?“
       
       29 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cornelius Oettle
       
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