# taz.de -- Die Wahrheit: Clown im Kessel
       
       > Stuttgart wählt sich einen Oberbürgermeister. Eine Provinzposse mit
       > passenden Protagonisten und Stichwahl Ende November.
       
 (IMG) Bild: Gebannt starren die Stuttgarter auf das Rathaus im Tal
       
       Ja, der Autor schreibt die Begriffe „Stuttgart“ und „Oberbürgermeisterwahl“
       schon in den ersten Satz und erwartet trotzdem, dass man weiterliest. Was
       für ein Naivling. Uninteressanter geht’s ja wohl nicht. Aber immerhin: Was
       sich hier im Süden abspielt, ist repräsentativ für die Misere der ganzen
       Nation, wenn nicht der ganzen Welt. Und, das dürfte Sie als Deutsche
       besonders interessieren: Es wurde sogar ein Auto beschädigt!
       
       Im ersten Wahlgang erreichten die Kandidatinnen und Kandidaten aus dem
       linksgrünen Spektrum zusammen 56 Prozent, der CDU-Kandidat lediglich 31,8.
       In der Folge zog die Kandidatin der Grünen ihre Kandidatur zurück, es
       blieben für die Stichwahl am 29. November zwei Herren: Ein seit 16 Jahren
       tätiger Stadtrat eines parteifreien linksökologischen Bündnisses. Und ein
       30-jähriger SPD-Dorfbürgermeister vom Bodensee, der aus seinem 4.600
       Einwohner umfassenden Flecken angereist war, um hier den nächsten
       Karriereschritt zu gehen. Eigentlich klar, wer da zu verzichten hat.
       Eigentlich.
       
       Doch es geht hier ja um die SPD, diese leere Parteihülle, die den
       Dorfbürgermeister vom Bodensee im ersten Wahlgang zugunsten ihres hiesigen
       Kandidaten nicht einmal selbst unterstützt und gar ein
       Parteiausschlussverfahren eingeleitet hatte, weshalb er ganz offiziell als
       parteilos ins Rennen gestartet war. Da der eigentliche SPD-Mann aber noch
       schlechter performte, kippte die Umkipppartei selbstverständlich um.
       
       So starten nun also beide und nehmen einander die Stimmen weg: die
       ernsthafte sozialökologische Alternative zu einem CDU-Mann, der bisher der
       Bürgermeister von Backnang ist, und der Spaßkandidat vom Bodensee, der
       damit den Konservativen ins Amt hievt. Keine Frage: Nach
       sozialdemokratischen Standards hat diese Type absolut das Zeug für die
       Bundesebene.
       
       ## Kandidatenauto demoliert
       
       Doch damit ist die Sache noch nicht durch: Ein paar Tage nach dem ersten
       Wahlgang wurde das Auto des Dorfbürgermeisters beschmiert, ein Außenspiegel
       demoliert und zudem der Scheibenwischer hochgeklappt, was in Stuttgart so
       ziemlich das Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann. Der
       Dorfbürgermeister gab daraufhin „wildesten Verschwörungstheorien“ die
       Schuld an diesen Ausschreitungen. Und meinte damit Folgendes:
       
       Zu seinem Wahlkampfbudget hatte der 30-Jährige etwa zwischen 70.000 und
       120.000 Euro aus eigener Tasche beigetragen und erklärt, er arbeite ja
       jetzt seit ein paar Jahren, weshalb er doch einiges hätte zur Seite legen
       können. Alle 30-Jährigen kennen das, sie wissen gar nicht wohin mit all der
       vielen Asche.
       
       In der Folge wurde aufs Tapet gebracht, dass das Wahlkampfteam des
       Dorfbürgermeisters unter anderem aus einem ehemaligen Vorstandsmitglied und
       der nach wie vor amtierenden Co-Präsidentin der Schweizer Organisation
       Operation Libero besteht – einer wirtschaftsliberalen Bewegung, gegründet
       von ehemaligen BWL- und Jurastudenten, die Politikern Wahlkampagnen
       finanziert, sofern diese sich vorab schriftlich zu den vorformulierten
       Positionen der Operation Libero bekennen. Zum Beispiel zur Erhöhung des
       Rentenalters.
       
       ## Sparstrumpf geplündert
       
       Doch ob nun finanziert von konzernfreundlichen Schweizer Franken oder
       schwäbischem Sparstrumpf: Unterm Strich beraubt ein Karriereclown die Stadt
       Stuttgart einer echten Wahl zwischen progressiv und konservativ. Vielleicht
       hat man es am idyllischen Bodensee nicht mitbekommen, aber Stuttgart ist
       neuerdings die deutsche Stadt mit den höchsten Mieten, hat nach wie vor ein
       Feinstaubproblem, weshalb man hier die Masken nicht nur wegen Corona trägt,
       und ist – auch wenn es mancher Schwabe manchmal abstreitet – nach wie vor
       ein Teil des Erdballs, der sich mitten in einer Klimakatastrophe befindet.
       Als eine der ganz wenigen Großstädte bekommt Stuttgart nun als Lösung
       solcher maßgeblich durch CDU-Politik entstandenen Probleme was? Einen
       CDU-Bürgermeister.
       
       Es ist peinlich, und man würde als Spötter gern schreiben, dass diese Stadt
       es nicht anders verdient hat, dass Stuttgart noch immer das Provinzloch
       ist, über das alle lachen, und das jetzt einen Provinzbürgermeister
       bekommt, weil ein noch größerer Provinzler sich für den schwäbischen
       Sebastian-Emmanuel Kurz-Macron hält. Allein: Stuttgart hat zu mindestens 56
       Prozent etwas dagegen. Eigentlich. Nur der SPD ist leider wie immer alles
       egal.
       
       Man braucht diese Partei nicht mehr, weder im Kleinen noch im Großen. Sie
       macht alles nur noch schlimmer. Sie besteht intern ohnehin nur noch aus
       Verrat und Meuterei, und so verrät sie natürlich auch ihre Ideale nach
       außen, falls da je welche waren. Dem 30-jährigen Sparfuchs wünsche man
       trotzdem nun wieder eine friedliche Zeit am Bodensee und viel Erfolg bei
       der nächsten Kandidatur – zum Beispiel in Backnang! Die CDU hilft da jetzt
       sicher gern.
       
       18 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cornelius Oettle
       
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