# taz.de -- Ausstellung José Leonilson in Berlin: Ein stickender Popstar
       
       > Der brasilianische Künstler José Leonilson starb mit 36 Jahren an Aids.
       > Eine große Retrospektive macht mit seinem berührenden Werk vertraut.
       
 (IMG) Bild: Porträt Leonilson, 1983, Courtesy Projeto Leonilson
       
       Nach der langen Schließungspause von Museen und Galerien, öffnet auch die
       schon seit Ende November fertig aufgebaute Ausstellung „Leonilson. Drawn
       1975–1993“ für das Publikum. Der 1957 in Fortaleza geborene José Leonilson
       ist heute außerhalb Brasiliens nur wenigen bekannt. Erstmalig in Europa
       zeigt das Berliner KW nun eine Retrospektive mit etwa 250 Exponaten des
       früh verstorbenen Künstlers.
       
       Über drei Stockwerke erstreckt sich der chronologisch biografisch angelegte
       Parcours, der Zeichnungen, Malerei, Installationen, Stickereien und
       Textilarbeiten präsentiert. Der Rundgang beginnt mit humorvollen
       Filzstiftzeichnungen von Sexarbeiterinnen. Mit Kugelschreiber sind deren
       Personalien und Vorlieben zusätzlich vermerkt. Ebenfalls in dieser Technik
       entsteht 1976 ein Mode-Fanzine, das sich „Vogue Ideal“ nennt. Auch die von
       Leonilson gestalteten Plakate zu ersten Ausstellungen tragen deutliche
       Anleihen an die musik- und modebegeisterte Jugendkultur der 1980er Jahre.
       
       Im begleitenden Katalog erinnert sich der norwegische Galerist Jan Fjeld im
       Interview an jene Jahre in São Paulo, an ihre Freundschaft, ihren Umgang
       mit Homosexualität und die gemeinsame Leidenschaft für internationale
       Musik, Mode und Literatur: „Für Brasilianer war hier alles brasilianisch –
       alle Produkte waren brasilianisch. Zum Beispiel an neue Veröffentlichungen
       einer Band zu kommen, war unmöglich. Es kostete ein Vermögen. Das Magazin
       The Face konnte ich nicht einfach kaufen …“
       
       In den frühen 1980er Jahren hatten sich Fjeld und sein damaliger
       Lebenspartner, der heutige Galerist Eduardo Brandão, mit dem jungen
       Leonilson angefreundet. In São Paulo teilten sie ab 1987 ein Apartment,
       zogen gemeinsam um und wohnten bis kurz vor Leonilsons Tod zusammen.
       
       ## Neue Generation
       
       1978 hatte Leonilson begonnen, in São Paulo Kunstpädagogik zu studieren.
       Dort lebte seine streng katholische Familie schon seit 1961. In Brasilien
       herrschte von 1964 bis 1985 eine repressive Militärdiktatur. Im Übergang
       zur Demokratie nahm Leonilson an mehreren viel beachteten Ausstellungen
       teil. Bald wurde der junge Künstler zu einem bekannten Vertreter der
       sogenannten „Geração 80“, jener neuen Generation, die in Brasilien nicht
       mehr konstruktiv, sondern subjektiv malte.
       
       Seine sparsam komponierten, oftmals mit Text oder Ziffern versehenen,
       ungerahmten Leinwände scheinen trotzdem der Zeichnung näher als der
       Malerei.
       
       Ende der 1980er Jahre entdeckt Leonilson, dessen Vater Textilhändler war,
       Stoffe und Stickereien für sich als ausdrucksstarkes Medium. Knopfbilder,
       Verbindungen aus Filz und Kristall, Segeltuch und Halbedelsteinen
       entstehen. Feine Spitze wird mit grobem Leinen, Samt und ungelenken
       Textstickereien kombiniert. So sind an den äußersten Rändern einer weißen
       Leinwand die gestickten Zeilen zu lesen: „Leo nao pose mudar o mundo …“ Leo
       kann die Welt nicht verändern, die Götter lassen keine Konkurrenz mit ihnen
       zu – die Wüste, der Ozean, die Jungen, die Poesie.
       
       Leonilsons fragil anmutenden Arbeiten berühren. Mit der Aufrichtigkeit
       eines Tagebuchs verhandeln sie Liebe, Fremdheit und die Herausforderungen
       eines Lebens als Außenseiter.
       
       ## Internationale Verbindungen
       
       Ab 1981 unternimmt der Künstler aus Lateinamerika längere Reisen durch
       Europa und in die USA. Unterwegs zu sein, Ausstellungsaufenthalte und
       -besuche in Mailand, Paris, München, Amsterdam oder New York inspirieren
       ihn. Besonders nachhaltig beeindruckt ihn das Werk der
       Arte-Povera-Künstlerin Eva Hesse.
       
       Einen Hinweis auf seine Auseinandersetzung mit Protagonisten innerhalb und
       außerhalb der Kunstwelt entdeckt man auf der 1988 entstandenen Arbeit „São
       Tantas As Verdades“ (Es gibt so viele Wahrheiten). Hunderte von Namen – Eva
       Hesse, Agnes Martín, Twombly, Stella, Beuys, Warhol genauso wie Chanel,
       Balenciaga oder Yamamoto reihen sich auf der unbehandelten Leinwand
       aneinander.
       
       Eine bemerkenswerte Zeitreise in dieser vom Direktor des KW, Krist
       Gruijthuijsen, kuratierten Überblicksschau bietet eine private Sammlung
       ausgefallener Postkarten und illustrierter Briefe. Über viele Jahre hatte
       Leonilson seinem Freund Albert Hien in München geschrieben und ihm in der
       Ferne Vorhaben und Emotionen anvertraut. Die beiden Künstler hatten sich
       1985 auf der Biennale in São Paulo kennengelernt, waren zusammen durch
       Brasilien gereist, hatten sich besucht und auch gemeinsam ausgestellt.
       
       Als José Leonilson 1991 die Diagnose HIV+ erhält, wird die Krankheit,
       Verletzbarkeit, Stigmatisierung und der Tod zum bestimmenden Thema in
       seinem Œuvre. In diesem Jahr entsteht „The Game is over“. Auf die weite
       Fläche der rotbraunen Leinwand malt er die Figur eines umstürzenden
       Wasserkrugs in Flammen. Im folgenden Jahr zeichnet er mit feinen Linien die
       Serie „O perigoso“ (Der Gefährliche), die mit einem Tropfen seines eigenen
       Blutes beginnt.
       
       ## Pointierte Vignetten
       
       Einen Kontrast zu den melancholischen und autobiografischen Arbeiten bildet
       eine umfangreiche Serie von Illustrationen, die Leonilson ab 1991 für die
       wöchentliche Kolumne einer Bekannten in der Tageszeitung Folha de São Paulo
       veröffentlichte. Diese akkurat gezeichneten, pointierten Vignetten geben
       einen Eindruck von den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen in
       Brasilien der 1990er Jahre. Einmal mehr präsentiert sich Leonilson darin
       als genauso scharfsinniger wie humorvoller Beobachter der Verhältnisse.
       
       In der letzten Schaffensphase arbeitet der Künstler, schon sehr geschwächt,
       mit leichten, farbigen Stoffen, die er von Hand zusammennäht und mit
       eindringlichen Begriffen wie „Les Moments“, „Ninguém“ (Niemand) oder „O
       imperfeito“ (Der Unvollkommene) bestickt. Fast zwangsläufig ist in solch
       einer Überblicksschau die Idealisierung eines Künstlers angelegt. Dem
       steuert der Kurator nicht zuletzt in dem vielstimmig konzipierten Katalog
       zur Ausstellung entgegen.
       
       In der Publikation kommen Weggefährten und Kunstkritiker*Innen
       gleichermaßen zu Wort. Gemeinsam lassen sie ein lebendiges Bild Leonilsons
       und seiner Zeit entstehen. In einem für die Berliner Ausstellung
       aufgezeichneten Gespräch zwischen [1][Lisette Lagnado] und Krist
       Gruijthuijsen macht die brasilianische Kuratorin deutlich, dass dieser
       Künstler schon zu Lebzeiten gefeiert wurde und es sich bei ihm keineswegs
       um eine posthume Neuentdeckung handelt.
       
       Lagnado, zuletzt Kuratorin der Berlin Biennale 2020, organisierte schon
       1995 in São Paulo die erste Retrospektive zu Leonilsons Werk und insistiert
       darauf: „Er war ein Popstar, ein Teil des Kunstmarktes.“ 28 Jahre nach
       seinem Tod gibt die Ausstellung „Leonilson. Drawn 1975–1993“ nun auch hier
       die Gelegenheit, ihn kennenzulernen.
       
       19 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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