# taz.de -- Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert: Verschüttete Erfahrungen
       
       > Die DDR-Innenwelt wird wieder zugänglich. Schuberts Buch „Vom Aufstehen“
       > ist ein Ereignis über die Literatur hinaus.
       
 (IMG) Bild: „Und es duftete nach Kuchen“. Subotnik einer Hausgemeinschaft in Ostberlin, 1968
       
       Die repräsentative Geschichte der DDR-Literatur aus dem Jahr 1976 – Band 12
       der sozusagen amtlichen marxistischen Gesamtdarstellung der deutschen
       Literatur, 907 Seiten – verzeichnet den Nachnamen Schubert dreimal. Gemeint
       sind drei heute vergessene Schriftsteller mit den Vornamen Dieter, Heinz
       und Holger.
       
       1976 war die erste Sammlung von Kurzgeschichten der Psychotherapeutin
       [1][Helga Schubert] unter dem Titel „Lauter Leben“ im Aufbau-Verlag schon
       erschienen. Auf ein Jahr später datiert Helga Schuberts Entscheidung, sich
       neben ihrer Arbeit als Psychologin als freischaffende Schriftstellerin zu
       verstehen und ihr Leben zwischen Berlin und einer mecklenburgischen
       Landgemeinde aufzuteilen. Auch ihre zeitweiligen Freundinnen und
       Mentorinnen Christa Wolf und Sarah Kirsch besaßen dort Häuser.
       
       1980 war ihr die Ausreise zur Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in
       Klagenfurt mit skurrilen Begründungen untersagt worden. 2020, als sie den
       Bachmann-Preis unter großer Teilnahme der Feuilletons [2][doch noch
       gewann,] lagen ein politischer Auftritt als Pressesprecherin des Zentralen
       Runden Tischs in Berlin 1989 und eine zurückgezogene Kandidatur zur
       Bundestagswahl von 1994 schon lange hinter ihr.
       
       Helga Schuberts Leben als Schriftstellerin ist ein instruktiver Kommentar
       zu der alten Weisheit, dass Bücher ihre Schicksale haben und dass
       Büchermachen überhaupt viel mit den schwer greifbaren Bewandtnissen zu tun
       hat, die man als Schicksal bezeichnet. Die Gründe für das Misstrauen der
       offiziellen Literaturpolitik gegenüber Helga Schubert sind nicht darin zu
       suchen, dass sie sich 1976 den dortzulande kanonisierten formalen
       Schreibweisen verweigert hätte.
       
       ## Gruppe 47
       
       Ihr Debüt „Lauter Leben“ enthält well made short stories einer Machart, die
       nach dem Krieg im „Creative Writing Program“ der University of Iowa
       entwickelt worden war. Dieses Schreibprogramm wurde auch von der Gruppe 47
       hochgeschätzt, und seine Regeln wurden auch im Leipziger Literaturinstitut
       Johannes R. Becher gelehrt.
       
       Kurze (manchmal nur ein Wort umfassende) Sätze, Ellipsen, die Befolgung der
       Maxime „Show, don’t tell“, die bedeutsame Aussparung des Eigentlichen –
       eine Art Rokoko des Lakonismus war bis in die siebziger Jahre hinein
       gängiger Weltstil, dem auch in der DDR erfolgreiche Schriftsteller folgten.
       „Sommerhaus, später“ – um die Jahrhundertwende tauchte diese Formenwelt im
       Werk Judith Hermanns wieder auf – sicher eine Voraussetzung der
       Wiederentdeckung Helga Schuberts.
       
       Die DDR-Kritiker und -politiker störte 1976 nicht etwas Formales, sondern
       etwas Inhaltliches an den Geschichten Helga Schuberts. Nämlich deren
       Orientierung an authentischer Erfahrung. Vergleicht man die Stücke aus
       „Lauter Leben“ mit den formal sehr ähnlichen des damals hochberühmten und
       heute vergessenen National- und Lessing-Preisträgers Benito Wogatzki, wird
       der Unterschied sinnfällig.
       
       ## Entscheidungen, Gefühle und Erkenntnisse Einzelner
       
       Schuberts erzählerische Versuchsanordnungen sind so angelegt, dass sie
       Entscheidungen, Gefühle und Erkenntnisse einzelner (und noch heutigen
       Leserinnen plausibler) Personen sinnfällig machen; Wogatzki dagegen
       konstruierte seine „unerhörten Begebenheiten“ so, dass Gefühle und Motive
       politischer Akteure aus seinen kunstvoll gestalteten Auslassungen
       hervortraten. Deren Intentionen und Dilemmata jedoch sind heute so
       gleichgültig oder unverständlich geworden wie die längst vergessenen
       Tagespolitiken der SED.
       
       Authentische Erfahrung realer Personen war aufgrund der ihr unverlierbar
       eingeschriebenen Unberechenbarkeit irrelevant und sogar gefährlich für
       einen Literaturbetrieb, der Schriftsteller auch nach der offiziellen
       Entstalinisierung im Grunde immer noch als „Ingenieure der Seele“
       verstand (wie die bekannte Formel des sowjetischen Diktators gelautet
       hatte).
       
       31 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem rasenden Verschwinden der
       DDR sind die Innenansichten und das Selbstverständnis der im
       sozialistischen deutschen Staat eingesperrten Bürgerinnen und Bürger so gut
       wie verschwunden aus dem deutschen Wissen. Oder anders und genauer: Sie
       sind noch da, aber sie haben keinen erkennbaren Ausdruck mehr.
       
       ## Gefühle von damals schwer nachzuvollziehen
       
       Politische Kommentatoren glauben sie in der Seltsamkeit von AfD-Wählern,
       Querdenkern und Altleninisten wiederzuerkennen. Aber wie sich real
       existierende Personen dort und damals wirklich gefühlt haben, ist aus genau
       den Gründen heute schwer nachzuvollziehen, die seinerzeit dazu geführt
       haben, dass die literarische Bedeutung der DDR-Schriftstellerin Helga
       Schubert in ihrem Land nicht wahrgenommen werden konnte.
       
       Erfahrung ohne Ausdruck erzeugt ein Vakuum. Das erklärt die geradezu
       explosive Wirkung der Geschichte „Vom Aufstehen“, die Helga Schubert im
       letzten Jahr von ihrem mecklenburgischen Garten aus der Onlineversion des
       Klagenfurter Wettbewerbs präsentierte. Sie wirkte als eine Art Erlösung.
       
       Jury und literarische Öffentlichkeit spürten, dass sich jenes Vakuum
       füllte. Verschüttete Erfahrung wurde zugänglich. Über den Abgrund dreier
       Jahrzehnte und einer Revolution hinweg übertrug sich die authentische
       Erfahrung einer realen Person aus einem Land, das es nicht mehr gab.
       
       ## Sehnsuchtsort
       
       „Ich lag im Schatten, und es war ganz still“, heißt es in Helga Schuberts
       neuem Buch. „Und es duftete nach dem warmen Kuchen. Dann machte ich die
       Augen auf. Es war mein Sehnsuchtsort.“ Der lag bei Greifswald, und
       plötzlich scheinen wir zu verstehen, was die DDR wirklichen Menschen auch
       bedeutet hat.
       
       Helga Schuberts neues Buch heißt wie die Klagenfurter Kurzgeschichte und
       hat den Untertitel „Ein Leben in Geschichten“. Thematisch kann man es
       beschreiben als feinmalerische Auserzählung der in der Short-Story des
       Wettbewerbs skizzierten Motive. Der Brotberuf der Autorin ist der
       literarischen Artistin sehr hilfreich gewesen. Psychotherapeutinnen wissen
       nicht nur, wie es in anderen Menschen wirklich aussieht, sie wissen das
       auch deshalb, weil sie gelernt haben, sich selbst zu beobachten.
       
       Zugutegekommen ist den neuen Geschichten aber auch die Lockerung der
       Regularien des „Show, don’t tell“, die Schubert in den siebziger Jahren
       noch sehr ehrgeizig und streng verfolgte. Die Lakonie ist noch da in ihrem
       neuen Buch, aber sie ist gemildert durch eine souveräne Nonchalance.
       Entstanden ist ein kunstvolles Parlando, das auch politisches, historisches
       und poetologisches Beiseitesprechen nicht scheut.
       
       ## Wut, Enttäuschung, aber auch Liebe
       
       Wirklich klarzumachen, wie es damals war und wie man sich damals gefühlt
       hat, ist Helga Schubert heute wichtiger als die reine poetische Lehre. Wut,
       Enttäuschung, Angst, Liebe, Ehe, Eltern- und Tochterschaft, Geborgenheit,
       Träume, Sehnsüchte, Genervtheit und Verliebtheit von Menschen unter lange
       nicht mehr vorstellbaren Lebensverhältnissen werden sinnfällig.
       
       Die Innenansicht eines untergegangenen Staats entsteht. Und seine
       Nachwirkungen in der Gegenwart: „Es ist mein Diktaturschaden. Mein
       bleibender Diktaturschaden: Schon dieses Verharren in einem Wort, die
       leichte Erhöhung der Stimmlage, das leuchtende Gesicht. Ich ertrage es
       schwer.“
       
       Oft kann man das Gefühl haben, das Schicksal von Büchern und literarischen
       Werken, ihr Untergehen, Wiederauftauchen und Neuentdecktwerden beruhe auf
       reinem Zufall. Das Schriftstellerinnenleben Helga Schuberts belehrt einen
       (wie vielleicht auf andere Art dasjenige Hermann Lenz') über die Rolle
       wirklicher, von Ideologien, Moden und kulturellen Politiken unbeirrter
       Erfahrung bei diesen schwer durchschaubaren Prozessen.
       
       Wir wollen heute etwas Verlässliches (etwas uns Berührendes) hören und
       lesen über die Innenwelt des versunkenen Kontinents namens
       „Realexistierender Sozialismus“. Und es wird uns zugänglich nicht in den
       Büchern, die damals dort berühmt waren, sondern im Werk einer
       Schriftstellerin, deren Namen auch die ausführlichsten Literaturgeschichten
       ihrer Zeit nicht verzeichnet haben. Manchmal ist Übersehenwerden die beste
       Strategie im Kampf um Aufmerksamkeit.
       
       20 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wiederentdeckung-von-Helga-Schubert/!5692736
 (DIR) [2] /Bachmann-Preis-fuer-Helga-Schubert/!5690960
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephan Wackwitz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) deutsche Literatur
 (DIR) DDR
 (DIR) Ingeborg-Bachmann-Preis
 (DIR) Schriftstellerin
 (DIR) Roman
 (DIR) China
 (DIR) DDR
 (DIR) deutsche Literatur
 (DIR) Literatur
 (DIR) Ingeborg-Bachmann-Preis
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wiederentdeckter DDR-Roman: Die Kräuselschrift der Böen
       
       Der Roman „Die Alleinseglerin“ aus der DDR ist wiederentdeckt worden. Darin
       zeichnet Christine Wolter eine Beschwörung widerspenstiger Schönheit.
       
 (DIR) Reisebericht über Hongkong und China: Fußangeln für die Durchmarschierer
       
       Marko Martin verbringt einen Jahreswechsel in Hongkong. Angesichts der
       chinesischen Repression denkt er über Unterdrückung und Befreiung nach.
       
 (DIR) Erzählband „Langsame Entfernung“: Ungerührte Erinnerungen
       
       In ihrem Erzählband denkt die Schriftstellerin Gisela Steineckert an die
       DDR zurück. Ihre Bereitschaft zur Verklärung ist erschreckend.
       
 (DIR) Büchnerpreis für Elke Erb: Da öffnet sich was
       
       Elke Erb, die stets auf dem Eigensinn der Lyrik beharrte, bekommt den
       Büchnerpreis. Damit wird die Vielfalt der deutschsprachigen Literatur
       gewürdigt.
       
 (DIR) Wiederentdeckung von Helga Schubert: Preisträgerin mit Vorgeschichte
       
       Helga Schubert war fast vergessen. Durch den Bachmannpreis wird die ganz
       Große der kleinen Geschichten zu Recht wiederentdeckt.
       
 (DIR) Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises: Späte Ehre für Helga Schubert
       
       Schuberts prämierter Text über eine schwierige Mutter-Kind-Beziehung: Ein
       berührender Stoff, der Empathie und Wärme transportiert und raffiniert
       gewebt ist.