# taz.de -- Kolonialverbrechen Frankreichs: Die Mörder sind unter uns
       
       > Frankreich beginnt endlich mit der Aufarbeitung seiner Verbrechen in
       > Algerien. Darin stecken auch Lehren für Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Macron und Stora bei Übergabe des Untersuchungsbericht über Kolonialisierung und den Algerienkrieg
       
       Ali Boumendjel starb am 23. März 1957, als ein französischer Soldat ihn aus
       dem Fenster warf. Der Rechtsexperte der algerischen Befreiungsbewegung FLN
       (Nationale Befreiungsfront) war 43 Tage vorher festgenommen worden, einer
       von vielen Verschwundenen der berüchtigten „Schlacht von Algier“, mit der
       Frankreichs Kolonialarmee damals den Unabhängigkeitskampf Algeriens brechen
       wollte. Unter dem Kommando des französischen Militärgeheimdienstoffiziers
       Paul Aussaresses wurde Boumendjel verhört und gefoltert, bis man ihn nicht
       mehr brauchte und Aussaresses ihn aus dem sechsten Stock warf. Offiziell
       hieß es, Boumendjel habe Selbstmord begangen.
       
       Erst am 3. März 2021 hat Frankreich offiziell die Wahrheit darüber gesagt.
       Präsident Emmanuel Macron empfing vier Enkel Boumendjels im Élysée-Palast
       und gestand, die französische Armee habe ihren Großvater „gefoltert und
       ermordet“.
       
       Eine Heldentat war dieses Geständnis nicht. Aussaresses persönlich hatte
       zwanzig Jahre vorher, als er seine Memoiren veröffentlichte, den Mord an
       Boumendjel und anderen im Detail beschrieben. Das offizielle Frankreich war
       entsetzt, doch nichts geschah. Boumendjels Witwe starb 2020 ohne
       Anerkennung dieses Verbrechens durch den französischen Staat.
       
       Aussarresses’ Memoiren sind die Erinnerungen eines Massenmörders. Jede
       Nacht zogen seine Leute in Algier los und sammelten Verdächtige ein, um sie
       zu verhören. Folter durch Schläge, Stromstöße und Ertränken war „toleriert,
       wenn nicht empfohlen“, bis hinauf zum zuständigen Minister François
       Mitterrand. Hinterher konnte man die Befragten weder gehen lassen noch sie
       der Justiz übergeben – „es waren zu viele“. Daher „gehörten summarische
       Hinrichtungen zum Ordnungshüten […]. Die FLN musste offensichtlich
       liquidiert werden und nur die Armee hatte die Mittel dafür. Das war so
       klar, dass es nicht nötig war, entsprechende Befehle zu erteilen. Niemand
       hat mich je offen gebeten, jemanden hinzurichten. Es verstand sich von
       selbst.“
       
       ## Kontinuität zwischen NS- und Kolonialverbrechen
       
       Diese französische Methode der Aufstandsbekämpfung, bei der man ganze
       Bevölkerungsgruppen als Verdächtige behandelt, machte später weltweit
       Schule, von Lateinamerika bis Ruanda vor dem Völkermord. Die Kontinuität
       zwischen NS- und Kolonialverbrechen ist in Frankreich offenkundig, nicht
       zuletzt durch Personen wie den braven Beamten Maurice Papon, der während
       der deutschen Besatzung die Massendeportation französischer Juden
       organisierte, danach Präfekt in Algerien wurde und 1961 als Polizeipräfekt
       von Paris algerische Demonstranten massakrieren ließ. „Nach Vichy,
       Algerien“ betitelte die französische Zeitung Le Monde ihr Editorial zur
       Aussaresses-Beichte 2001.
       
       Zwanzig Jahre später bleibt der algerische Unabhängigkeitskrieg von 1954
       bis 1961 mit seinen Hunderttausenden Toten unbewältigt. 1,5 Millionen junge
       Franzosen waren in diesen sieben Jahren als Soldaten im Algerienkrieg im
       Einsatz. Keiner ist je angeklagt oder verurteilt worden.
       
       Ein [1][neuer Untersuchungsbericht des französischen Historikers Benjamin
       Stora] listet Kollektivverbrechen auf: „die Zerstörung Hunderter Dörfer und
       die Einrichtung ‚verbotener Zonen‘, in denen sich kein Algerier bewegen
       durfte, ohne erschossen zu werden; die Zehntausenden Verschwundenen, deren
       Familien noch immer nach den Ruhestätten der Leichen fragen; der Einsatz
       von Napalm; das Legen von Millionen Minen; die Verseuchung der Bewohner der
       Sahara durch im Jahr 1960 begonnenen Nukleartests; die Einrichtung von
       Internierungslagern, in denen Tausende oft ohne Urteil festgehalten
       wurden“.
       
       Der Algerienkrieg überschattet Frankreichs Politik bis heute. Die Vierte
       Republik zerfiel, Weltkriegsheld General de Gaulle ergriff die Macht und
       handelte mit der FLN Algeriens Unabhängigkeit aus. Wütende Kolonialgeneräle
       versuchten 1961 zu putschen. Aus ihren Reihen, gestärkt von fliehenden
       weißen Siedlern nach Algeriens Unabhängigkeit, ging die antigaullistische
       rechtsextreme Front National des Kolonialsoldaten Jean-Marie Le Pen hervor,
       die heute als Rassemblement National unter Führung seiner Tochter in
       Meinungsumfragen bei 48 Prozent der Stimmen im Falle einer Stichwahl gegen
       Emmanuel Macron liegt.
       
       ## „Positive Rolle der französischen Überseepräsenz“
       
       Justizminister Mitterrand, der Folter in Algerien billigte, wurde 1981
       Frankreichs erster „linker“ Präsident. Als eine seiner ersten Taten
       rehabilitierte er die Putschgeneräle von 1961. Auf ihn folgte der Gaullist
       Jacques Chirac, der 1999 den Algerienkrieg erstmals als „Krieg“ anerkannte
       – um den gefallenen Franzosen ein Denkmal zu setzen. Sein Nachfolger
       Nicolas Sarkozy verpflichtete 2005 Frankreichs Schulen per Gesetz, die
       „positive Rolle der französischen Überseepräsenz, insbesondere in
       Nordafrika“, zu lehren – dieser Passus wurde nach massiver Empörung
       gestrichen. Erst der Sozialist François Hollande zelebrierte 2016 einen
       Gedenktag für „alle“ [2][Opfer des Algerienkrieges], aber das ging im
       islamistischen Terror unter.
       
       Und Macron? Seine Reaktion auf den von ihm in Auftrag gegebenen
       Stora-Untersuchungsbericht – „Anerkennung ja, Entschuldigung nein“ – ist
       zwar in Algier übel aufgestoßen. Doch Anerkennung wäre besser als
       Nichtanerkennung, und Storas zentrale Empfehlung – ein „Vertrag über
       Gedächtnis und Wahrheit“ zwischen Frankreich und Algerien – wäre Vorbild
       für ein Deutschland, das Kolonialverbrechen immer noch tendenziell
       unwichtig findet.
       
       Ein deutscher Wahrheitsvertrag mit Namibia? Gemeinsame Forschung mit
       Historikern aus Tansania oder Kamerun? Es gäbe viel zu tun, damit koloniale
       Aufarbeitung in Deutschland kein Feuilletonstreit über Museen bleibt,
       sondern sich den Tätern und ihren Nachfolgern und Nachahmern zuwendet, und
       damit die Sichtweise der ehemaligen Objekte kolonialer Vernichtung besser
       wahrgenommen und respektiert wird.
       
       15 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.vie-publique.fr/sites/default/files/rapport/pdf/278186.pdf
 (DIR) [2] /Opfer-des-Algerienkriegs-in-Frankreich/!5487415
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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