# taz.de -- Zwischenbilanz bei Wirecard-Aufklärung: „Kollektives Organversagen“
       
       > Wirecard machte den Wirtschaftsprüfern jahrelang etwas vor. Ein Ausschuss
       > im Bundestag untersucht den Fall – und zieht eine ernüchternde
       > Zwischenbilanz.
       
 (IMG) Bild: Wirecard-Untersuchungsausschuss: (v.l.n.r.) Danyal Bayaz, Fabio De Masi und Florian Toncar ziehen Zwischenbilanz
       
       BERLIN dpa | Scharfe Fragen bis spät in die Nacht, Dutzende Zeugen bis hin
       zur Kanzlerin und Hunderte Gigabyte Daten: Im Bundestag versucht ein
       [1][Untersuchungsausschuss] den wohl größten Betrugsfall der
       Nachkriegsgeschichte aufzuklären. Es geht um ein Milliarden- Bilanzloch,
       massive Schäden für Anleger und den beispiellosen Absturz eines
       Börsenstars. Die Zwischenbilanz mehrerer Fraktionen fällt am Mittwoch
       vernichtend aus: [2][Der Skandal um Wirecard] gehe nicht allein auf hohe
       kriminelle Energie Einzelner zurück, sondern auch auf gravierende Fehler
       von Aufsichtsbehörden und Bundesregierung.
       
       Alle sechs Fraktionen sind der Meinung, dass der Ausschuss wichtige
       Zusammenhänge aufgedeckt habe. „In der Summe sieht man eines widerlegt:
       Dass das eine Naturkatastrophe war, dass hier kein Mensch Fehler gemacht
       hat“, sagt der Finanzpolitiker der FDP, Florian Toncar. Sein Kollege von
       den Grünen, Danyal Bayaz, beschreibt drei für den mutmaßlichen Betrug
       entscheidende Faktoren: „eine Bande mit hoher krimineller Fantasie und
       Energie“, ein „Kollektivversagen“ bei Behörden und Aufsichtsorganen sowie
       ein ganzes Heer an Lobbyisten, „die Klinkenputzen waren um das Bild dieses
       Technologiestars an den Mann, an die Frau, an die Politik zu bringen“.
       
       Der Fall Wirecard: Das Unternehmen Wirecard war ein Dienstleister für
       bargeldlose Zahlungen an der Schnittstelle zwischen Händlern und
       Kreditkartenfirmen. Das Fintech spielte in der obersten Börsenliga und
       machte den Wirtschaftsprüfern offenkundig jahrelang etwas vor. Im Sommer
       räumte Wirecard ein Bilanzloch von 1,9 Milliarden Euro ein – Geld aus
       Auslandsgeschäften, das zwar in den Bilanzen auftauchte, in Wahrheit aber
       wohl nie existierte. Das Unternehmen meldete Insolvenz an, Tausende Anleger
       verloren Geld. Vorstandschef [3][Markus Braun] wurde festgenommen, Manager
       Jan Marsalek ist auf der Flucht.
       
       ## Kritische Hinweise wurden ignoriert
       
       Monate bevor der Skandal aufflog hatte es bereits Hinweise und Berichte
       über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard gegeben. Der Untersuchungsausschuss
       will nun herausfinden, warum der Fall über Jahre nicht aufflog und [4][ob
       Wirecard als aufstrebendes Fintech von den Behörden mit Samthandschuhen
       angefasst wurde.]
       
       Die Frage der Verantwortung: Der Ausschuss habe „durch die Bank weg
       Probleme bei der Wahrnehmung von Verantwortung“ gezeigt, beschreiben Linke,
       Grüne und FDP. Behörden hätten mehr auf Zuständigkeiten geschaut als in
       Zusammenhängen zu denken. „Wir konnten nichts anderes feststellen, als dass
       wir in Deutschland eine Kultur der Nicht-Verantwortung haben“, sagt Toncar.
       Die Befragungen zeigten: E-Mails zur Zuständigkeit bei der
       Geldwäscheaufsicht blieben wochenlang unbeantwortet, ein Anruf bei der
       Whistleblower-Hotline wurde abgewürgt, kritische Hinweise wurden ignoriert.
       Der Fraktionsvize der Linken, Fabio De Masi, betont, staatliche
       Institutionen hätten eine hohe Bereitschaft gezeigt, „dieser kriminellen
       Bande auf den Leim zu gehen, weil sie eben Wirecard repräsentiert hat“.
       
       Der Finanzpolitiker der SPD, Jens Zimmermann, zeigte sich erschrocken, dass
       selbst renommierte Wirtschaftsprüfer dem Betrug nicht auf die Schliche
       kamen. Jahr für Jahr hätten sie „mit ihrem Stempel auf den Bilanzen den
       Glauben an das Erfolgsmärchen Wirecard weiter gestärkt“. Der
       CDU-Finanzpolitiker Matthias Hauer dagegen greift andere an: „Es gab bei
       Bafin und Bundesfinanzministerium eine eklatante Kultur des Wegsehens – bei
       Bilanzkontrolle, Finanzaufsicht, Geldwäscheaufsicht und
       Mitarbeitergeschäften.“
       
       Eine angebliche Erpressung und ein Leerverkaufsverbot: Bereits Anfang 2019
       hatte es Manipulationsvorwürfe gegen Wirecard gegeben, der Aktienkurs war
       in Turbulenzen geraten. Die Finanzaufsicht Bafin verhängte daraufhin ein
       zweimonatiges Leerverkaufsverbot, verbot also Spekulationen auf fallende
       Kurse des Unternehmens. Das festigte bei Investoren den Eindruck, Wirecard
       sei Opfer einer gezielten Attacke.
       
       ## Viele Fragen sind noch offen
       
       Wie im Ausschuss herauskam, spielte auch die Staatsanwaltschaft bei diesem
       Verbot eine Rolle: Sie glaubte Anwälten des Unternehmens, dass Wirecard
       erpresst werde, und gab diese Informationen an die Bafin weiter. Die SPD
       ist überzeugt, dass die angebliche Erpressung „eine von Jan Marsalek
       erfundene Räuberpistole“ war, durch die sich die Bafin zum Handeln
       gezwungen sah. Bayaz meint: Ohne das Verbot wäre der Betrug vermutlich sehr
       viel früher aufgedeckt worden.
       
       Lobbyismus: Karl Theodor zu Guttenberg, ein früherer bayerischer
       Polizeipräsident, ein Geheimdienstkoordinator: Viele haben sich an hoher
       Stelle für Wirecard ins Zeug gelegt, sogar direkt bei Kanzlerin Angela
       Merkel (CDU). „Namhafte Politiker und Persönlichkeiten haben sich von
       Wirecard als Lobbyisten einspannen lassen und damit viel Geld verdient“,
       kritisiert Zimmermann.
       
       Personelle Konsequenzen: In einer Tabelle listet die SPD Rücktritte und
       Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausschuss auf. Die Liste ist lang, von
       Bafin-Präsident Felix Hufeld über die „Bilanzpolizei“ DPR bis hin zum
       Deutschlandchef der [5][Wirtschaftsprüfergesellschaft EY]. Die personellen
       Konsequenzen seien Ergebnis der fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit,
       betont Hauer. Der AfD wäre allerdings am liebsten, es würde dabei nicht
       bleiben. „Unsere Forderung, dass Finanzminister Scholz auch die
       Verantwortung übernehmen und zurücktreten muss, werden wir bis zum Ende
       aufrechterhalten“, kündigt der Ausschussvorsitzende und AfD-Politiker Kay
       Gottschalk an.
       
       Offene Fragen und ein mögliches furioses Finale: Viele Fragen vor allem zur
       Rolle der Bundesregierung sind noch offen. In welche Entscheidungen war die
       Führungsebene des Finanzministeriums eingeweiht? Warum hakte der zuständige
       Staatssekretär nicht genauer nach? Warum ließ man selbst nach Auffliegen
       des Skandals noch einen Rettungsplan für Wirecard entwerfen?
       
       Das Finanzministerium habe einen „sehr wohlwollenden Blick auf Wirecard“
       gehabt, kritisiert Toncar. Vieles spreche dafür, dass man auch Vizekanzler
       Olaf Scholz den Vorwurf machen könne, sich nicht genug eingesetzt zu haben.
       Seiner Ankündigung von maximaler Aufklärung sei der Finanzminister bislang
       jedenfalls nicht gerecht geworden, sagt Hauer. Im April hat Scholz die
       Gelegenheit, dies vor dem Ausschuss gerade zu rücken. Einen Tag später wird
       Kanzlerin Angela Merkel befragt.
       
       10 Mar 2021
       
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