# taz.de -- Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch: „Die Umwege fehlen jetzt“
       
       > Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir
       > rastloser. Soziologe Hartmut Rosa sagt, warum die Krise die Jungen
       > besonders trifft.
       
 (IMG) Bild: In der Welt und doch von ihr abgeschottet: Die Pandemie legt einen Filter zwischen uns und das Leben
       
       taz: Herr Rosa, Sie haben den Beschleunigungszwang der Moderne als Problem
       unserer Gesellschaften diagnostiziert. Immer schneller, immer mehr: Wir
       können uns nur dynamisch stabilisieren, und das macht manche kirre. Wie
       passt die Coronapandemie, die ja alles enorm entschleunigt hat, in Ihre
       Theorie? 
       
       Hartmut Rosa: Corona hat tatsächlich für eine gigantische und historisch
       einmalige Entschleunigung im physisch-materiellen Bewegungsprofil der Erde
       gesorgt. Dessen Dynamik hat ja seit dem 18. Jahrhundert auf allen Ebenen
       immer zugenommen. Wenn ich das jetzt feststelle, provoziert es die
       Gegenfrage: Müssen wir damit also glücklich sein?
       
       Sind viele ja offensichtlich nicht. 
       
       Nein. Erst mal hat sich für manche Menschen das Leben nicht ent-, sondern
       beschleunigt. [1][Denken Sie an das Gesundheitssystem]. Zweitens hat sich
       die Entschleunigung in seiner Auswirkung auf die Lebensqualität
       unterschiedlich angefühlt. Wenn Sie in einer bestimmten Lage im Lockdown
       sitzen, dann ist es nur eine Tragödie und ganz bestimmt nicht
       lebensqualitätssteigernd. Ich war im Übrigen nie Entschleunigungsprophet
       und habe das nie romantisch verstanden, das ist mir wichtig. Mir geht es um
       Entfremdung. Der Beschleunigungszwang der Moderne ist da ein Problem, wo er
       zu Entfremdung führt, also brauche ich ein Gegenrezept zu Entfremdung. Das
       ist Resonanz, und die kann mal durch Entschleunigung, mal durch
       Beschleunigung entstehen. Allerdings untergräbt permanenter
       Beschleunigungsdruck Resonanzmöglichkeiten.
       
       Wie ist das für die, die im Homeoffice arbeiten? 
       
       Meine Lieblingsdeutung ist, dass jetzt wirklich Realität geworden ist, was
       Paul Virilio 1980 als rasenden Stillstand beschrieben hat, die physische
       Stillstellung. Ich sitze im Homeoffice den ganzen Tag in der gleichen
       Position vor dem Computer, weil die Kamera da ist und das Mikrofon. Ich bin
       wirklich stillgestellt. Aber in einer Stunde habe ich einen Vortrag an der
       University of Indiana in Bloomington, vorgestern sprach ich in Delhi, die
       Datenströme haben extrem zugenommen. Ich bin rasend unterwegs, von einem
       Ort zum anderen, aber physisch komplett stillgestellt.
       
       Zu Beginn der Pandemie gab es die schöne Vorstellung, die Entschleunigung
       führe dazu, endlich die „guten“ Bücher zu lesen, von denen man so gern
       spricht. Viel nachzudenken und kreativ zu sein. Es klappt überhaupt nicht,
       jedenfalls nicht bei mir. 
       
       Wir haben eine massive Weltreichweitenschrumpfung erlebt, der Wohnort ist
       wieder die Mitte unserer Welt. Und zeitlich haben wir es auch mit
       Weltreichweitenschrumpfung zu tun, weil man nicht mehr sagen kann, was in
       einem halben Jahr oder auch nur einem Monat sein wird. Das hat es uns
       erlaubt, die vermuteten Resonanzpotentiale in der Nähe auszuprobieren, also
       spazieren gehen, gärtnern oder Klavier spielen. Und dann stellen wir fest,
       dass es nicht so einfach ist, diese Resonanzpotentiale zu heben, also
       erfüllend Klavier zu spielen oder Klassiker zu lesen.
       
       Die Erfahrung mache ich jetzt auch. 
       
       Ich auch.
       
       Woran liegt das? 
       
       Die Zeit ist da, aber die Muße fehlt. Diese Rastlosigkeit, die wir spüren,
       die kommt eben nicht nur von außen, wie wir dachten. Sie kommt auch von
       innen, was man genau daran sieht, dass wir anstatt eine Wagner-Oper zu
       hören oder Thomas Mann zu lesen, doch durch die sozialen Medien surfen oder
       Netflix anwerfen. Wir tun also Dinge, die kurzgetaktete hohe
       Stimulationsdichte bei niedrigem Resonanzwert liefern.
       
       Das merke ich auch, dass ich mich kurzgetaktet im Digitalen stimuliere und
       dann ein unbefriedigtes Gefühl habe. 
       
       Ich habe mich neulich sogar bei Katzenvideos erwischt, da dachte ich, jetzt
       reicht’s aber.
       
       Ist es auch für Sie neu, dass die Rastlosigkeit von innen kommt und nicht
       aus dem äußeren Hamsterrad des Lebens? 
       
       Das ist der Zwiespalt der Moderne: Der Beschleunigungsdruck kommt nicht
       einfach nur von außen und das Resonanzverlangen nicht nur von innen. Sofern
       der Kapitalismus am Hamsterrad schuld ist, ist er auch in uns. Theoretisch
       war mir das klar, aber ich habe es nie so deutlich erfahren wie jetzt. Aber
       es gibt einen anderen Aspekt, den ich früh thematisiert hatte: Es entsteht
       nicht nur Aggressivität, sondern eine Art von Lethargie und Erschöpfung.
       Ich habe gerade ein Seminar gemacht über die Frage: Wo kommt Energie her?
       Ich beziehe mich da stark auf den Soziologen Randall Collins. Wir haben
       immer geglaubt, Energie sei eine individuelle und psychische Eigenschaft.
       
       Ist nicht so? 
       
       Inzwischen glaube ich: Die Energie, die wir haben und in soziale
       Interaktion umsetzen, kommt aus der dichten Interaktion selber. Auch aus
       der irritierenden Interaktion, wenn mich zum Beispiel jemand anrempelt.
       
       Auch geistig? 
       
       Genau. Wir sehen jetzt, wie sehr wir das Irritierende, das Überraschende,
       die erfreuliche oder unerfreuliche soziale Interaktion brauchen, um aus
       unseren Routinen, auch den gedanklichen, herauskommen zu können. Dieser
       digitale Austausch, den wir jetzt machen, ist gut, um schnell Informationen
       auszutauschen. Aber Kultur, sagt Hans Blumenberg, entsteht durch das Gehen
       von Umwegen – und diese Umwege fehlen jetzt. Ich kann nicht schnell auf
       einen Kaffee irgendwo hin, ins Kino oder jemanden treffen. Es ist nicht nur
       so, dass viele Menschen unruhig sind und ihre Resonanzachsen nicht so gut
       funktionieren, wie sie dachten, sondern dass ihnen eigenartigerweise – ich
       habe dafür keine empirischen, aber ganz gute anekdotische Evidenzen – sogar
       der Impuls zu sozialen Kontakten fehlt, wo sie sie haben könnten. Aber dazu
       fehlt die Energie, und dieser Energieverlust kommt aus der fehlenden
       sozialen Interaktionsdichte.
       
       Ich habe öfter versucht, mit einem Freund in Kontakt zu treten, der nie das
       Telefon abnahm. Nun textete er mir, sorry, er sei schlecht drauf. Offenbar
       kann er sich nicht vorstellen, dass das durch ein Gespräch mit mir besser
       werden könnte. 
       
       Ja, erstaunlich. Es scheint der Antrieb zu fehlen. Was ich versuche als
       soziale Energie zu fassen, ist so ähnlich wie Vertrauen. Es gibt soziale
       Ressourcen, die durch den Gebrauch wachsen und nicht weniger werden wie
       fossile Ressourcen. Der Wunsch und die Kraft zu sozialem Kontakt entsteht
       durch sozialen Kontakt. Und wo dieser Kontakt fehlt, nimmt
       erstaunlicherweise der Wunsch ab.
       
       Ich habe jetzt Zeit zum neu Denken, aber ich denke nur das, was ich immer
       denke. Ich denke dann, Mensch, jetzt denk doch mal was anderes. Geht aber
       nicht. Es geht erst, wenn ich Leute anrufe, die mich intellektuell
       irritieren. 
       
       Das ist der entscheidende Punkt, und da helfen uns auch viele Zoom-Kontakte
       nicht weiter. Dabei geht es nicht nur um die Quantität, sondern um die
       Qualität der Begegnungen. Und die entsteht aus zufälligen oder
       irritierenden Begegnungen, die uns mit Energie aufladen. Ohne sie laufen
       wir emotional, psychosozial und sogar intellektuell in den immer gleichen
       Bahnen. Und zwar in denen, die wir kennen. Die Coronasituation verstärkt
       das.
       
       Warum? 
       
       Ich denke, dass die Dämpfungsmechanismen fehlen. Wenn ich auf der Straße
       bin und jemand nimmt mir die Vorfahrt, dann ist die Wut, die ich gerade auf
       Trump oder etwas anderes hatte, erst mal verschwunden und danach ist sie
       deutlich weniger. Nun haben wir diese Dämpfer nicht und deshalb graben sich
       Emotionen, Denkverhalten und auch die habituellen Formen immer tiefer ein.
       
       Es gibt im Angesicht der Klimakrise zwei politische und gesellschaftliche
       Alternativen: den alten Pfad weitergehen oder auf einen neuen wechseln.
       Aber selbst die, die den Pfadwechsel predigen, tun sich im gelebten Leben
       mit kleinsten Änderungen schwer. 
       
       Um sich im Alltagspraktischen neu zu erfinden, braucht es einen
       energetischen Impuls, und der fehlt im Moment. Und dann fehlt es auch an
       einer Vision. Wobei ich aber an meiner Einschätzung festhalte, dass eine
       Krisensituation ein günstiger Moment ist, um den Pfad zu wechseln. Anders
       als im Alltag einer Beschleunigungsgesellschaft. Da sind alle so
       eingespannt in Interaktionsketten, da ändern wir erst mal nichts, da
       versucht man, seine Aufgaben zu erfüllen. Erst wenn diese
       Interaktionsketten reißen und die Routinen nicht mehr funktionieren, kann
       man darüber nachdenken, ob man es nicht anders probieren will. Aber
       offensichtlich ist auch der Wunsch, zum Alten und Normalen zurückzukehren,
       groß. Und dummerweise hängt das auch zusammen mit der Wattierung, die wir
       gerade erleben.
       
       Welche Wattierung? 
       
       Social Distancing war ja eigentlich als räumliches Distancing gedacht, aber
       ist jetzt im Sinne des Wortes soziale Distanzierung geworden und atomisiert
       die Gesellschaft. Die Folge ist, dass wir uns wie isolierte Atome in einem
       kalten Universum fühlen. Das ist die Grundangst der Moderne. Und dieses
       Gefühl lähmt eben auch jede Kraft für eine kulturelle und soziale
       Neuerfindung. Das meine ich mit Wattierung.
       
       Andererseits wollen wir doch singuläre Individuen sein? 
       
       Na ja, der Kollege Reckwitz hat den Trend zur Singularisierung beschrieben,
       nachdem jeder einzigartig sein will. Aber alles hat eine Rückseite, und
       hier ist es die tiefe Angst vor der Einsamkeit, vor dem Abgeschnittensein,
       dem Aus-der-Resonanz-Sein mit der Welt. Und darauf gibt es eine
       Verschmelzungsantwort, die ich bei der politischen Rechten und Identitären
       vermute: kollektive Singularität. Die Vorstellung einer Einheit und
       Homogenität. Ich will eins sein mit den anderen und ein allgemein
       verbindliches Konzept des Richtigen und Guten haben.
       
       Was ist die liberal-demokratische Alternative? 
       
       Die Alternative ist, dass ich mich mit anderen verbinde in der Begegnung,
       dass ich eine Brücke zu den anderen finden kann, die Verbundenheit spüren
       lässt, aber nur um den Preis, dass ich nicht starr an meiner Identität
       festhalte, sondern mich selbst immer wieder verwandle.
       
       Wie erleben Sie den universitären Alltag? 
       
       Wenn man schaut, wo auf der Welt Innovationen kultureller, praktischer,
       technischer, politischer Art entstehen, dann sind das häufig
       Universitätsstädte. Warum? Weil man eine hohe Interaktionsdichte von jungen
       Leuten hat, die noch keinen festen Ort in der Welt haben. Die noch suchen,
       die noch nicht festgefahren sind in ihren Routinen und großen
       Interaktionsketten. Dadurch entsteht ein Milieu, das hohe soziale und
       transformative Energie entfaltet. Durch das Gehen von Umwegen und völlig
       zufällig entsteht da das Neue. Und genau diese Art von Leben ist jetzt
       still gestellt, und ich glaube, dass es für diese jungen Leute, für
       Studierende und auch die Gesellschaft als Ganzes eine ziemliche Katastrophe
       ist, Unis einfach stillzulegen und anzuhalten und zu sagen, man kann doch
       über das Internet genauso gut lernen. Lernen können sie schon, Stoff
       aufnehmen. Aber genau dieser Prozess des kreativen Anverwandelns, aus dem
       Neues hervorgeht, ist angehalten. Das betrifft nicht nur
       Universitätsstädte, sondern überhaupt diese Art von kreativen Begegnungen.
       Deshalb können neue Praktiken derzeit nicht entstehen, jedenfalls die
       kreativen, die aus intellektueller Interaktion hervorgehen, und deshalb
       fällt uns intellektuell nicht allzu viel ein.
       
       Klingt, als seien gerade die jungen Leute besonders hart getroffen von der
       Pandemie? 
       
       Ja, die Jungen sind die größten Verlierer, die Opfer der aktuellen
       Coronapolitik. Wenn man einen Job hat, eine Familie, ein Häuschen, eine
       feste Verortung, dann ist es nicht so schlimm, wenn physische Kontakte und
       Interaktionen für ein Jahr still gestellt sind. Schlimm genug, aber nicht
       total schlimm. In der Phase, in der Leute mit dem Abi fertig sind und
       anfangen zu studieren, ist das anders. Die müssten sich jetzt in der Welt
       verorten – physisch, sozial und kulturell. Bin ich jetzt in Jena zu Hause
       oder noch bei meinen Eltern? Bin ich in der Hochkultur zu Hause oder auf
       dem Fußballplatz? Dieser Prozess ist momentan vollständig angehalten. Wie
       sollen die jungen Leute das machen? Und der Preis, psychisch und sozial,
       wird wirklich total unterschätzt.
       
       Dann werden sie auch noch der Party-Obsession bezichtigt. 
       
       Ja. Man liest immer nur, [2][dass die Jugend nicht solidarisch genug sei],
       das regt mich langsam richtig auf. In der Jugendpsychiatrie wird inzwischen
       schon von einer neuen Form von Triage gesprochen, weil nicht mehr alle
       Selbstmordgefährdeten aufgenommen werden können. Ich nehme das auch selbst
       wahr; die Depressionsneigungen und die Verzweiflung bei jungen Leuten sind
       echt hoch. Aber die haben das Gefühl, dass sie nicht so laut klagen
       sollten, denn sie sind ja noch gesund und relativ ungefährdet durch Corona.
       Doch die Gefährdung liegt auch woanders, große amerikanische
       Mental-Health-Studien zeigen, dass die psychischen Auswirkungen bei Jungen
       viel, viel größer sind als bei Älteren.
       
       Inwiefern stützen die pandemischen Erfahrungen Ihre Theorie, dass die
       Beziehung von Mensch und Welt in der Moderne gestört ist? 
       
       Virologen sagen, dass Viren immer dann auftreten, wenn die Beziehung eines
       Organismus zu seiner Umwelt gestört ist. Das passt natürlich perfekt in
       meine Theorie. Ich würde also sagen: Dieses Virus macht deutlich, dass die
       Weltbeziehung dieser Gesellschaft gestört ist. Die Grundbeziehung zur Welt
       ist das Atmen. Und die fundamentalste Form der Weltbeziehungsstörung ist,
       wenn ich dem Atmen nicht mehr trauen kann, wenn ich nicht mehr unbesorgt
       ein- und ausatmen kann. Ich brauche jetzt einen Filter zwischen mir und der
       Welt. Das ist eine größtmögliche Verunsicherung, denn der Erdboden und die
       Luft sind das Fundamentalste, was wir kennen. Ich kann mir selbst nicht
       mehr trauen – vielleicht ist das Virus schon in meinem Körper. Und ich kann
       den anderen nicht mehr trauen – vielleicht stecken sie mich an. Wenn die
       Weltbeziehung von einem derart fundamentalen Misstrauen geprägt ist, habe
       ich auch wenig Grund, meinen Politikern zu trauen. Hier fundamentalisiert
       sich also das Misstrauen und dadurch könnte eine neue Form von Wutbürgertum
       entstehen.
       
       Auf der anderen Seite hatten wir die üblichen Romantiker, die sich durch
       Corona und die angeblich daraus resultierende Einsicht ein menschlicheres
       und solidarisches Miteinander erträumten. Ich sehe das überhaupt nicht. 
       
       Ich sehe im Moment auch eher einen Energieverlust, eine psychische und
       soziale Lähmung, die nicht das Gefühl erzeugt, daraus gehe etwas Neues
       hervor. Aber ich habe eine gewisse Hoffnung auf eine paradoxe Wirkung.
       
       Nämlich? 
       
       Bei mir waren alle an der Uni überrascht, denn die Diagnose der
       Digitalisierungsapostel war ja, dass wir einen gewaltigen
       Digitalisierungsschritt vorwärts machen und die Kinder und Jugendlichen
       damit überhaupt kein Problem haben, sondern nur wir alten Säcke. Nun ist es
       aber zumindest an der Universität und auch an vielen Schulen genau
       umgekehrt. Dozierende können sich mit digitalem Lehren leichter anfreunden,
       die meisten pendeln sowieso und müssen nun gar nicht mehr hinfahren,
       sondern schalten einfach ihren Computer ein. Aber [3][die Studierenden
       fordern massiv Präsenzunterricht]. Für die ist das unglaublich wichtig,
       sodass ich glaube, dass es eine wahnsinnige körperliche Sehnsucht nach
       menschlicher Nähe, ich würde sagen, nach leiblichem Miteinander gibt. Ich
       könnte mir daher vorstellen, dass genau das das Energiereservoir sein wird,
       aus dem [4][nach der Krise Neues hervorgeht].
       
       Und falls es kein Danach gibt? 
       
       Sollte das noch ewig so weitergehen, weil eine Mutante nach der anderen
       kommt, kann ich mir auch vorstellen, dass es irgendwann zur Revolution
       kommt. Weil gerade junge Leute dann sagen: Mir ist das Risiko jetzt egal.
       
       Sie haben in „Resonanz“ auch beschrieben, wie Schüler den Ort Schule als
       resonanzfreie, öde Welt erleben. Nun sind viele zu Hause und vermissen ihre
       Schule. Ironisch? 
       
       Ich glaube, dass ihnen am meisten die Resonanz mit der Peergroup fehlt.
       Klar, die lieben einander längst nicht alle. Aber Schule ist ein
       Paradebeispiel für ganz hohe Interaktionsdichte und ein verdichtetes
       soziales Gefüge – und jetzt entsteht gerade bei jungen Leuten eine
       wahnsinnige Entzugserscheinung, obwohl das, was fehlt, eben nicht Friede,
       Freude, Eierkuchen ist und man auch denken könnte: Eigentlich bin ich froh,
       die Leute nicht mehr zu sehen.
       
       Im Corona-Exil fehlen einem auch die Arschlöcher? 
       
       Wir haben kein Bewusstsein und keine Sprache dafür, was fehlt, wenn dieses
       verdichtete Sozialgefüge wegfällt. Aber wir stellen fest, dass der Mensch
       es braucht.
       
       Corona macht nicht misanthropisch? 
       
       Ich würde sagen, auf der einen Seite auf jeden Fall. Es dominiert das
       Gefühl einer Langeweile, die aggressiv macht, wenn einem jemand zu nahe
       kommt, etwa in einer Schlange. Weil der andere tendenziell eine Bedrohung
       ist. Misstrauen und das Gefühl, dass menschliche Nähe eine Gefahr ist, wird
       auch erstaunlich schnell zu einer körperlichen Disposition, etwa wenn man
       zusammenzuckt, weil im Film sich Menschen umarmen. Auf der anderen Seite
       entstehen Entzugserscheinungen. Ich stelle fest, ohne diese anderen, die
       gefährlichen anderen, bin ich lethargisch und depressiv. Das ist eine
       paradoxe Gemengelage.
       
       Sie sprechen davon, dass Corona eine Gegenwartsschrumpfung verursache. Was
       heißt das? 
       
       Gegenwart bezieht sich auf den Zeithorizont, in dem ich aus meinen
       Erfahrungen der Vergangenheit einigermaßen verlässliche Aussagen auf die
       Zukunft machen kann. Ich weiß, wie die Sache funktioniert, und gehe davon
       aus, dass das auch für die Zukunft gilt. Dieser Zeitraum wird kürzer. Viel
       von dem, was gerade noch galt, gilt nicht mehr, und ich weiß schon gar
       nicht, was ich vom nächsten Jahr zu erwarten habe, sowohl im politischen
       als auch im privaten Leben. Das ähnelt gewissermaßen einer vormodernen
       Zeit, in der man nicht wusste, ob morgen ein Erdbeben, eine Dürre oder ein
       Feind dein Hab und Gut zerstört. Wir leben wieder mit dieser
       Gegenwartsschrumpfung, und für junge Leute wiegt das ganz besonders schwer,
       weil für sie die Zukunft unplanbar wird.
       
       Wir in Westdeutschland Geborenen haben in der Bundesrepublik ja in einer
       ewigen Gegenwart gelebt. Womöglich sind wir überhaupt nicht darauf
       eingestellt, diese Gegenwart zu verlassen. 
       
       Da würde ich Ihnen zustimmen. Obwohl es Gegenwartsschrumpfung in vielen
       Bereichen auch schon vor Corona gab. Aber dass die Gegenwart so radikal
       schrumpfen könnte? Wir sehen jetzt erst, wie viele Stabilitätspfeiler wir
       für ganz selbstverständlich gehalten haben, die das durchaus nicht sind und
       wegbrechen können.
       
       24 Apr 2021
       
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